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Gezielte Prophylaxe kann Präventionslücke schließen

Die große Zahl von Flüchtlingen und Asylbewerbern in Europa und die insgesamt sehr lückenhafte Datengrundlage zu deren oraler Morbidität bildete die Ausgangslage der Untersuchung „Flüchtlinge in Deutschland – Mundgesundheit, Versorgungsbedarfe und deren Kosten“, die auf dem Deutschen Zahnärztetag vorgestellt wurde.

Die große Zahl von Flüchtlingen und Asylbewerbern in Europa und die insgesamt sehr lückenhafte Datengrundlage zu deren oraler Morbidität bildete die Ausgangslage der Untersuchung „Flüchtlinge in Deutschland – Mundgesundheit, Versorgungsbedarfe und deren Kosten“, die auf dem Deutschen Zahnärztetag vorgestellt wurde.

Die repräsentative Querschnittsstudie „Flüchtlinge in Deutschland – Mundgesundheit, Versorgungsbedarfe und deren Kosten“, heute auf der Pressekonferenz zum Deutschen Zahnärztetag in Frankfurt am Main vorgestellt, hat eine orale Erkrankungslast ermittelt, die dem der deutschen Bevölkerung vor 30 Jahren entspricht.

"Vor allem bei Kindern und Jugendlichen haben wir einen erhöhten Kariesbefall gegenüber deutschen Gleichaltrigen festgestellt. Ebenso wie die hohen parodontalen Erkrankungsraten bei Erwachsenen ist dies auf einen Mangel an Prävention in den Herkunftsländern zurück zu führen", fasst der Leiter des Forschungsprojekts, Prof. Dr. Christian Splieth (Uni Greifswald), die wesentlichen Erkenntnisse der Untersuchung zusammen.

Insgesamt 544 Flüchtlinge aller Altersgruppen wurden in der von DGZMK (Deutsche Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde), BZÄK (Bundeszahnärztekammer) und KZBV (Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung), mit finanzieller Unterstützung der Wrigley Foundation von Ende 2016 bis Mitte 2017 durchgeführten Studie erfasst. Die geschätzten Kosten des Behandlungsbedarfs für eine vollständige orale Rehabilitation aller zahnmedizinischen Fachbereiche beziffert die Studie im Mittel mit 178 bis 1.759 Euro pro Flüchtling – in Abhängigkeit von der Altersgruppe.

Prophylaxe kann Präventionslücke schließen

Für das weitere Vorgehen rät Splieth: "Aufgrund der deutlich erkennbaren Präventionslücke und höheren Kariesraten, insbesondere bei Kindern und im Milchgebiss, wäre es sehr sinnvoll, die vorhandenen Strukturen der Gruppen- und Individualprophylaxe gezielt auf die Flüchtlinge auszuweiten." Dies könne zum Beispiel durch aufsuchende Betreuung von Flüchtlingen oder die Freigabe der gesetzlichen Präventionsleistungen (FU/IP) im Rahmen von Paragraf 4 AsylbLG geschehen. Auch zusätzliche Informationen über zahnmedizinische Prävention, zum Beispiel in den Integrations- oder als thematische Lehreinheit in den Sprachkursen, wären aufgrund der hohen Anzahl unversorgter kariöser Defekte sinnvoll.

Die große Zahl von Flüchtlingen und Asylbewerbern in Europa und die insgesamt sehr lückenhafte Datengrundlage zu deren oraler Morbidität bildete die Ausgangslage der Untersuchung. DGZMK, BZÄK und KZBV haben deshalb mit Unterstützung von Wrigley die multizentrische Querschnittsstudie initiiert. Im Gegensatz zu anderen Untersuchungen, die sich meist auf spezielle orale Erkrankungen in einzelnen Altersgruppen von Flüchtlingen beschränken, werden in der vorliegenden Studie die wesentlichen Mundgesundheitsprobleme und die möglichen Therapiekosten im Alter von 3 bis 65 Jahren erfasst.

Milchgebiss-Karies vergleichsweise häufig

Die deskriptive Auswertung der untersuchten 544 Flüchtlinge aus allen Altersgruppen ergibt eine klare Verteilung von oraler Morbidität: Karies im Milchgebiss ist bei Flüchtlingskindern vergleichsweise hoch. Schon Dreiährige haben im Mittel 2,62 betroffene Zähne und im Alter von 6 bis 7 Jahren wird ein mittlerer Wert von 5,22 dmft erreicht.

Die dabei  individuelle Karieserfahrung wird anhand des sogenannten dmft-Indexes ermittelt: d – decayed – zerstörte, m – missing – fehlende, f – filled – gefüllte, t – teeth – Zähne. Für die 8- bis 11-Jährigen fällt dieser Wert aufgrund des Zahnwechsels leicht ab (3,60 dmft). Die Mehrheit der kariösen Defekte war unbehandelt. Nur 35 Prozent der 12-Jährigen weisen dann noch ein naturgesundes bleibendes Gebiss auf, während dies in Deutschland aktuell 80 Prozent sind (IDZ 2016).

Der Mittelwert der Flüchtlinge von 2,0 DMFT liegt um ein Vielfaches über dem deutschen Wert von 0,5 DMFT und entspricht der Kariesprävalenz, die deutsche Jugendliche Mitte der 90er Jahre aufwiesen (DAJ 2010). Diese Karieswerte liegen dennoch deutlich unter den Maximalwerten von 4-6 betroffenen Zähnen, die in Deutschland in den 1980er Jahren gemessen wurden. Bei Flüchtlingskindern ist damit insgesamt eine deutliche Präventionslücke gegenüber deutschen Kindern festzustellen.

Bei den Jugendlichen und Erwachsenen steigen die Karieswerte im bleibenden Gebiss kontinuierlich an (45-64 Jahre: 16,0 DMFT). Dagegen schließt sich die Differenz der Morbidität beim Vergleich mit deutschen Erwachsenen schon ab 35 Jahren. Allerdings haben die Flüchtlinge im Mittel zwischen 3-4 kariöse Zähne und die bisherige Haupttherapie  war die Extraktion, während in der deutschen Bevölkerung die Sanierung mit Füllungen deutlich überwiegt. Die ermittelten Karieswerte entsprechen auch den Daten von Studien aus den Heimatländern der Flüchtlinge (OHD 2016) und Untersuchungen anderer Studien mit Flüchtlingen, z. B. aus Australien, den USA oder Schweden.


 

Weshalb BZÄK, KZBV und DGZMK gemeinsam die Studie "Flüchtlinge in Deutschland – Mundgesundheit, Versorgungsbedarfe und deren Kosten“ in Auftrag gegeben haben und welche Kosten zu erwarten sind, erläutert Prof. Dr. Michael Walter im Video-Interview.


 

Kaum parodontal gesunde Probanden zwischen 45 und 64 Jahren

Plaque- und Zahnsteinwerte waren eher hoch, beim Parodontalen Screening Index (PSI) im Alter von 45 bis 64 Jahren fanden sich daher kaum gesunde Probanden. Dies ist wegen der schon primär schwierigen Bedingungen in den Heimatländern, der Flucht, den Schwierigkeiten in den Erstaufnahmeeinrichtungen und bei den Herausforderungen mit der Etablierung eines geregelten täglichen Lebens nicht verwunderlich. Mehrheitlich lagen allerdings nur eine gingivale Blutung und Zahnstein vor, die durch einfache Maßnahmen der Mundhygieneverbesserung oder professionelle Zahnreinigung leicht zu korrigieren sind. Schwere Parodontopathien waren mit maximal 4,4  Prozent der Gebisssextanten eher selten.

Niedriger prothetischer Versorgungsbedarf

Der prothetische Versorgungsgrad war bezüglich des normativen Bedarfs, also dem Ersatz von fehlenden Zähnen, niedrig, allerdings hatten die 35- bis 44-Jährigen Flüchtlinge im Mittel mehr Brücken bzw. Teilprothesen als deutsche Gleichaltrige. Vollprothesen waren nur bei 0-4 Prozent der erwachsenen Flüchtlinge vorhanden, mehrheitlich bei den 45- bis 64-Jährigen und im Oberkiefer. Von den wenigen Senioren mit 65+ war nur einer auf Totalprothesen angewiesen.

Die kieferorthopädische Diagnostik bei den Kindern und Jugendlichen zeigte, dass, wie in Deutschland, ungefähr ein Drittel der Flüchtlinge die Kriterien der Kieferorthopädischen Indikationsgruppen erfüllte. Die häufigste Dysgnathie war der einseitige Kreuzbiss.

Multiple kariöse Defekte

Akute Schmerzen waren bei ca. 5 Prozent der Flüchtlinge zum Zeitpunkt der Untersuchung vorhanden und hätten als Schmerzbehandlung nach §4 AsylbLG therapiert werden können. Die Kosten für mehrheitliche Füllungen oder Extraktionen lagen pro Fall im Mittel zwischen 59 und 297 € je nach Altersgruppe. Bei der großen Mehrheit der Flüchtlinge fand sich zusätzliche, nicht therapierte orale Morbidität, vor allem multiple offene kariöse Defekte, die durch Füllungen, Extraktionen und ggf. auch Wurzelkanalbehandlungen einschließlich Begleitleistungen behandelt werden könnten. Bei anerkannten Flüchtlingen oder Asylbewerbern könnten diese Therapien im Rahmen der GKV-Regelversorgung erfolgen.

KfO: Inanspruchnahme unter wahrem Bedarf

Dazu kommen ggf. kieferorthopädische, prothetische oder parodontologische Behandlungen, die als Therapieplan vorab genehmigt werden müssten. Dabei ist allerdings davon auszugehen, dass die tatsächliche Inanspruchnahme weit unter dem normativen Bedarf liegt. Das liegt an der komplexen Beantragung dieser Leistungen, den zahlreichen Anforderungen an die Flüchtlinge bei der Organisation des täglichen Lebens in Deutschland, den Sprachbarrieren, der eher symptombezogenen Inanspruchnahme von zahnärztlichen Behandlungen und dem - zumindest für die Kieferorthopädie - nachgewiesenen geringeren subjektiv empfundenen  Behandlungsbedarf bei Flüchtlingen gegenüber europäischen Wohnbevölkerungen.

Außerdem bleibt die KFO-Therapie von Flüchtlingen, genau wie prothetische Leistungen, für das erste Jahr nach der Anerkennung verwehrt. Unabhängig von solchen Faktoren wird auch bei der deutschen Bevölkerung etwa der parodontologische Behandlungsbedarf zu wesentlichen Teilen nicht ausgeschöpft (IDZ 2016).

Frühzeitige Sanierung kostengünstiger

Die frühzeitige Sanierung kariöser Defekte erscheint kostengünstiger als weitergehende Therapien bei akuten Schmerzen, die Wurzelbehandlungen oder, im Fall der Extraktion, ebenso teuren Zahnersatz zur Folge haben könnten.

Die mit den Ergebnissen der Studie zur oralen Morbidität bei Flüchtlingen klarer umschriebenen Herausforderungen, vor denen die deutsche Gesellschaft steht, ließen sich durch die Verantwortlichen in Wissenschaft und Politik relativ leicht beheben. Prof. Splieth: "Dazu müssten besonders die für die deutsche Bevölkerung vor 30 Jahren eingesetzten, systematisch entwickelten Präventionsstrukturen zur wirksamen Reduktion oraler Erkrankungen auf die Flüchtlinge ausgedehnt werden."


 

Prof. Dr. Christian Splieth (Universität Greifswald), federführender Autor der auf dem Deutschen Zahnärztetag 2017 vorgestellten Studie zur Mundgesundheit von Flüchtlingen, erläutert im Video-Interview die Ergebnisse der Untersuchung – und welcher gesellschafts- und gesundheitspolitische Handlungsbedarf sich aus dieser Datenbasis ergibt.