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Die Kieferorthopädie sollte sich dringend neu ­aufstellen

Der Kommentar von Dr. med. dent. Jan H. Koch

Die bisher einzige deutsche Leitlinie im Bereich Kieferorthopädie zeigt eindeutig den Krankheitswert ausgeprägter Fehl­stellungen [1]. Fraglich erscheint, ob das auch für andere in deutschen Praxen routinemäßig behandelte Befunde gilt – zum Beispiel moderate Fehlverzahnungen ohne funktionelle Einschränkung. Die Kiefer­orthopädischen Indikationsgruppen (KIG) sind trotz ihres Namens nicht mit medi­zinischen Indikationen gleichzusetzen [2]. Mit entsprechender Vorsicht sind die Ergebnisse des KfO-Moduls der 6. Deut­schen Mundgesundheits-Studie (DMS-VI) zur kieferorthopädischen Prävalenz bei 8- bis 9-jährigen Kindern zu interpretieren. Inwieweit sich zum Beispiel schwere Befunde mit individuell durchgeführten Behandlungen decken, wird die geplante Folgestudie in zika acht Jahren zeigen.

Interessengeleitetes Ausblenden

Für die Vertreter der Berufsverbände BZÄK und KZBV existieren solche Zweifel nicht, wie die Podiumsdiskussion des wissenschaftlichen Fachkongresses der Deutschen Gesellschaft für Kieferortho­pädie zum KfO-Modul in Berlin zeigte (vergleiche „Es gibt keine Unter- oder Überversorgung“, dzw 39/2022). Wie gewohnt betonten sie stattdessen die all­umfassende Präventionsorientierung der Zahnärzteschaft. Kein Wort zum Thema Frühbehandlung als präventive Maßnahme, auch nicht vom DGKFO-Präsidenten.

Dazu muss man wissen: Bezogen auf die Leitlinien-Empfehlungen wird laut KfO-Modul weniger als jede zweite indizierte Frühbehandlung tatsächlich durchgeführt. Das ist wahrscheinlich eine klare Diskrepanz zur Abdeckung bei älteren Kindern (Longitudinaldaten fehlen noch). Stattdessen diskutierten die versammelten Herren die erhöhte Kariesinzidenz bei Kindern mit Fehlstellungen im Verhältnis zu kieferorthopädisch nicht behandlungsbedürftigen Kindern. Dieser Querschnittsbefund ohne kausale Evidenz dürfte unter anderem darauf beruhen, dass Kinder mit frühem kariesbedingtem Milchzahnverlust auch häufiger Fehl­stellungen haben, zum Beispiel durch Mesialwanderung von ersten Molaren.

Fachgebiet neu definieren

Dieses Ausblenden wichtiger Ergebnisse des KFO-Moduls lässt sich mindestens als gedankenlos interpretieren, wenn nicht klar interessengeleitet. Die Behandlung kleiner Kinder mit kariesbedingten Erkrankungen ist wie die kieferorthopä­dische Frühbehandlung tendenziell un­-ter­finanziert. Wie der Bielefelder Kiefer­orthopäde Michael Schneidereit und – weniger deutlich – der Berliner Tagungspräsident Jost-Brinkmann richtig bemerken, sollte sich das Fachgebiet dringend neu und dabei medizinischer aufstellen als bisher [3]. Dazu gehört neben einer echten Präventionsorientierung ein Wandel vom mechanistisch-ästhetisch (schöne gerade Zähne) zum mehr biologisch orientierten Denken und Handeln.

Hilfreich wäre dabei, wenn Fachkolleginnen und Fach­kollegen ihr überwiegend orthognath und orthodontisch orientiertes Arbeitsfeld in Richtung der angrenzenden Teil­gebiete CMD, Schlafmedizin und Logo­pädie mit Therapie oraler Habits und eben Frühbehandlung erweitern. Dies wird selektiv von vielen bereits geleistet, sollte aber systematisch erfolgen – und viel intensiver in die Weiterbildung integriert werden. Die Trennung zwischen „KFO“, Funktionstherapie und Schlaf­medizin erscheint angesichts aktueller Forschungsergebnisse künstlich und verharrt mindestens im letzten Jahr­hundert.

„Hauszahnärzte“ ins Boot holen

Spezialisierte und nicht spezialisierte Kolleginnen und Kollegen sind unverzichtbare Partner. Ein Bedarf zum Bei­spiel für präventive, also früh ansetzende Behandlung von Fehlfunktion und -stellungen kann aber nur mit entsprechendem Wissen erkannt werden. Die universitäre Ausbildung sollte dem viel besser Rechnung tragen, unter anderem durch interdisziplinär geregelte Inhalte für alle Studenten und Studentinnen. Die zahnärztliche Approbationsordnung, aber auch die Ausbildungsregelungen anderer Gesundheitsberufe benötigen eine gründliche Neuaufstellung.


Quellen

[1] DGKFO, DGZMK; S3-Leitlinie, AWMF-Registernummer: 083-038. 2021
[2] Harzer W; Kieferorthopädie. Thieme. 2., unveränderte Auflage 2021
[3] Schneidereit M; Kieferorthopädie Nachrichten 2022. (7+8): 18-19

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