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Plugmann: GKV-FinStG ignoriert die menschliche und wirtschaftliche Perspektive

Das am 20. Oktober 2022 vom Bundestag verabschiedete GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (GKV-FinStG) zur finanziellen Stabilisierung der gesetzlichen Krankenversicherungen soll laut unserem Bundesgesundheitsminister alles zum Besten führen, somit keine Beitragssatzerhöhungen in der GKV und keine Leistungskürzungen nach sich ziehen. Natürlich ist das Gesetz sehr differenziert formuliert und umfasst viele Bereiche im Gesundheitswesen.

Menschlich betrachtet hätte man nach dem Einsatz der Zahnärzteschaft in den Corona-Jahren zur Aufrechterhaltung der flächendeckenden qualitativ hochwertigen Versorgung in Deutschland, den Phasen der Kurzarbeit, den Arbeitsausfällen und -überlastungen durch mehrfach an Corona erkrankten Zahnarztpraxisteams, den absehbaren Mehrkosten durch Inflation bei Energie, Praxismaterialien, Miete und Nahrungsmitteln, dem Nachholbedarf an Regenerationszeit nach der Pandemie, dem Fachkräftemangel und den einhergehenden notwendigen deutlichen Lohnerhöhungen für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von 10 bis 20 Prozent und zunehmend steigenden Zinsen für Praxisfinanzierungen, Dispos und geduldeten Überziehungszinsen bis zu 15 Prozent je nach Bank erwarten dürfen, dass es zumindest keine Verschlechterungen der Rahmenbedingungen für die zahnärztliche Versorgung der Patienten geben wird. 

In Zeiten, in denen in den nächsten zehn Jahren ein Drittel der Hausärzte und Zahnärzte in den Ruhestand gehen wird, weitere Kolleginnen und Kollegen sich mit dem Gedanken beschäftigen, bereits mit 60 aus dem Beruf zu gehen, in denen Praxisnachfolger Mangelware und langfristige Planungssicherheit für Existenzgründer, etablierte Zahnarztpraxen und Praxisabgeber Grundlage für Investitionsentscheidungen sind, kommt das Gesetz zur denkbar ungünstigsten Zeit und in einer unnötigen Schärfe.

Die wirtschaftliche Perspektive

Im Januar flatterte mir der neue HVM in meine Praxis in Leverkusen mit 85 Punkten pro Schein. Wenn ich mich an die 160 Punkte aus dem Jahr 2022 erinnere, ist es gefühlt eine Halbierung. Natürlich ist das erst einmal eine konservative Schätzung für alle Zahnärzte in NRW und wird sich im Laufe des Jahres hoffentlich verbessern, jedoch wäre auch ein Abfall von 25 Prozent auf beispielsweise 120 Punkte pro Schein ebenso hart und unwirtschaftlich, denn die Deckungsbeiträge pro Behandlungsfall (= Umsatz minus variable Kosten = Deckungsbeitrag; davon müssen dann die Fixkosten bezahlt werden) sind wichtig. Wenn der Deckungsbeitrag niedriger ist als die Fixkosten, sind wir im wirtschaftlichen Minusbereich. Bei den Bruttoüberschüssen vor Steuern (nach Begleichung fixer und variabler Kosten) schwanken Zahnarztpraxen je nach Aufbau zwischen 25 bis 30 Prozent.

Das bedeutet – im Vergleich zu den Vorjahren –, dass die neue Vergütung durch das GKV-FinStG einen signifikanten Teil der zu erwirtschaftenden Bruttoüberschüsse im Ergebnis neutralisieren könnte.
Mathematisch werden im Jahr 2023 die GKV-Leistungen in vielen Fällen kein relevantes oder ein negatives wirtschaftliches Ergebnis nach sich ziehen. Gesundheits- und finanzökonomisch wird es dann für viele normale Zahnarztpraxen, die 60 bis 70 Prozent ihrer Betriebseinnahmen aus Kassenleistungen beziehen, zunehmend unwirtschaftlich.

Foto von Prof. Dr. Dr. Philipp Plugmann, MSc, MSc, MBA

Prof. Dr. Dr. Philipp Plugmann, MSc, MSc, MBA

Auch das Thema Mischkalkulation, also die Balance zwischen GKV- und Privatleistungen, ist durch die Pandemie und Inflation problematisch. Die Gespräche mit den Patienten zeigen, dass ein Teil der Patientenschaft, ob selbstständig oder angestellt, durch die Krise Einkommensverluste oder existenzielle Krisen durchleben und auch Rentner mit höheren Kosten zu kämpfen haben. Die zukünftige Zahlungsbereitschaft für Privatleistungen ist gegenwärtig nicht abzusehen. Somit ist eine nachhaltige Planungssicherheit infrage gestellt.

Das Sozialgesetzbuch (SGB) regelt, dass den Interessen aller Rechnung getragen werden soll. Das bedeutet, GKV-Kassen, Patienten und Leistungserbringer vereinbaren miteinander Rahmenbedingungen, und dazu gehört auch eine Wirtschaftlichkeit für die Gesundheitsbetriebe. Das ist durch das GKV-FinStG teilweise infrage gestellt.

Das GKV-FinStG trifft in erster Linie die Patienten, denn begrenztes Geld führt zu begrenzten Leistungen. Das ist ein ökonomisches Grundprinzip. Die Vergütung der GKV-Leistungen im zahnärztlichen Bereich ist bereits an sich schon knapp kalkuliert, und eine Entwertung der Punktwerte durch die Akzeptanz, dass ein Teil der Leistungen mit einem negativen wirtschaftlichen Ergebnis vergütet wird, widerspricht dem im SGB verankerten Gesetz, auch Leistungsträgern eine wirtschaftliche Daseinsberechtigung zu gewähren.

Die Investitionsbereitschaft der Zahnärzteschaft für Medizintechnik und Weiterbildungen wird sich eventuell abschwächen, was der Mittelstand auch verzögert merken wird. Es wird interessant sein, wie die IDS die Auswirkungen einordnen wird und ob es nach Jahren des Stillstands in der Messe- und Eventbranche durch die Pandemie wieder steil bergauf geht. Statt das Gesundheitswesen nach der Pandemie als Konjunkturmotor zu begreifen, führt das Gesetz zur Ausbremsung.

Die Logik-Perspektive

Als ich 2019 eingeladen wurde, in München einen einstündigen Vortrag am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozial­politik über Innovationen im Gesundheitswesen zu halten, stand auf meiner ersten Folie „Die Irrelevanz des Wissens“. Die zuhörenden 25 Forscher waren irritiert, und ich erläuterte am Beispiel der aus der Pflege, den medizinischen Assistenzberufen und dem Krankenhauswesen abwandernden Menschen, dass wir viel geforscht haben zu Arbeitsbedingungen, Vergütungssystemen, Arbeitszeiten, Arbeitssicherheit, Erschöpfungszuständen und weiteren Faktoren, jedoch in der Alltagsrealität der Zielgruppe (den Leistungsträgern und Teams) keine signifikanten Verbesserungen erwirkt wurden. Es hilft nicht, wenn ausreichend Auszubildende einsteigen, aber nach wenigen Jahren die Branche wechseln. Wir wollen die Menschen langfristig für das Gesundheitswesen begeistern. Zwischen den wissenschaftlichen Ergebnissen, den Handlungsempfehlungen und der Alltagsrealität ist ein großes Delta entstanden. Das erforschte Wissen ist da, jedoch werden politische Entscheidungen entkoppelt davon getroffen. Wer uns in zehn Jahren pflegen, waschen, kämmen oder ärztlich beraten und versorgen soll, wird die Zukunft zeigen.

Im zahnärztlichen Bereich denke ich dabei an die neue „PAR-Strecke“, aufgebaut auf den Leitlinien, die in vielen Jahren intensiver und engagierter Forschung auf der einen Seite und den stetigen Arbeiten aller Beteiligten auf der anderen Seite im gemeinsamen Bundesausschuss mit all den Prüfmechanismen an Kosten-Nutzen-Analysen und weiterer wissenschaftlicher Nachweisprozesse. Diese gemeinsamen Anstrengungen von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft ermöglichten ganz frisch, auf einem aktuellen wissenschaftlichen Fundament die Volkskrankheit Parodontitis bei Millionen von Bundesbürgern zu bekämpfen. Die Wechselwirkungen der Parodontitis zu Herzerkrankungen und Diabetes, aber auch der Einfluss auf die Gesamtgesundheit sind wissenschaftlich belegt. Das GKV-FinStG führt alle Bemühungen im Bereich Parodontologie und Prävention ad absurdum, und es werden wohl viele Millionen Euro im Bereich der präventionsorientierten Zahnmedizin fehlen, was auch die neue parodontologische Versorgung gewissermaßen bremst. 

Der Wert der Gesundheit sollte uns allen nach den Tragödien der Pandemie in Deutschland und auf dem gesamten Planeten deutlicher sein als je zuvor. Politik, Wissenschaft und Leistungsträger müssen Hand in Hand zusammenarbeiten zum Wohle der Patienten. Das neue GKV-FinStG mag zu Kostenreduktionen und Einsparungen führen, jedoch durch die Budgetierung mit zu erwartenden unwirtschaftlichen Rahmenbedingungen zulasten der Patienten gehen. Das GKV-FinStG ist unlogisch, da es die menschliche und wirtschaftliche Perspektive ignoriert und die wissenschaftlichen Forschungsergebnisse und Handlungsempfehlungen kaum berücksichtigt, um nachhaltig und langfristig die Mundgesundheit der BundesbürgerInnen zu verbessern.

Prof. Dr. med. dent. Dr. scient. med. Philipp Plugmann, MSc, MSc, MBA, Leverkusen

Dr. Dr. Philipp Plugmann

Prof. Dr. Dr. Philipp Plugmann, MSc, MSc, MBA, ist seit mehr als zwei Jahrzehnten als Zahnarzt in seiner Praxis in Leverkusen tätig, mehrfacher Unternehmensgründer, 102 Publikationen, 12 Bücher, Senior Advisor für eine internationale Technologieberatung und mehrfach ausgezeichnet für herausragende Lehre und Leadership. Er ist Professor an der SRH Hochschule für Gesundheit und Woxsen University, School of Business, Hyderabad, Indien.

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