Häusliche Gewalt ist keine Seltenheit. 2016 wurden laut einer Studie des Bundeskriminalamts 133.080 Personen Opfer von Gewalt durch den Partner oder Ex-Partner. Die erfassten Fälle sind seit 2012 gestiegen. Die Dunkelziffer ist vermutlich höher. Auch Zahnärzte kommen mit Opfern häuslicher Gewalt in Berührung. Wenn zum Beispiel ein Patient mit sichtbaren Verletzungen, die auf Gewalteinwirkung schließen lassen, in die Praxis kommt.
Da der Zahnarzt mitunter der erste und vielleicht sogar einzige sachverständige Zeuge ist, sollten verdächtige Verletzungen zeitnah und eindeutig dokumentiert werden. Zumal die Spuren der Gewalteinwirkung meist nur für kurze Zeit in voller Ausprägung sichtbar sind. Als Hilfsmittel für die Dokumentation haben die Zahnärztekammern und Kassenzahnärztlichen Vereinigungen Nordrhein und Westfalen-Lippe einen Befundbogen herausgegeben. Auf vier Seiten enthält der Vordruck Skizzen und listet die erforderlichen Punkte auf, um extra- und intraorale Verletzungen genau zu erfassen. Zahnmediziner sind in Deutschland nicht dazu verpflichtet, Misshandlungen zu melden. Im Zweifelsfall können sich Zahnärzte an erfahrene Kollegen in rechtsmedizinischen Instituten oder Opferambulanzen in Kliniken wenden.
Drei Fragen an Dr. Dr. Claus Grundmann
Dr. Dr. Claus Grundmann ist Zweit-Obduzent im Duisburger Institut für Rechtsmedizin. Außerdem ist er seit 2010 Sekretär des Arbeitskreises für Forensische Odontostomatologie (AKFOS) der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK) und der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin (DGRM).
Inwiefern unterstützt der forensische Befundbogen Zahnärzte im Fall von vermuteter häuslicher Gewalt oder Kindesmisshandlung?
Dr. Dr. Claus Grundmann: Die Inaugenscheinnahme und Begutachtung von Opfern häuslicher Gewalt und Kindesmisshandlungen gehört zur Tätigkeit von Rechtsmedizinern und forensischen Zahnärzten. Hierbei arbeiten Mediziner und Zahnmediziner Hand in Hand. Um nichts zu vergessen, wurde vor einigen Jahren ein forensischer Fragebogen entwickelt, der den Untersucher anleitet. Er ist auf den Webseiten der Zahnärztekammern und den Kassenzahnärztlichen Vereinigungen Nordrhein und Westfalen-Lippe abrufbar. Auch niedergelassene Kollegen können ihn im Bedarfsfall herunterladen und als Leitfaden benutzen. So sind gerichtverwertbare Beobachtungen „für später“ dokumentiert.
Wie können Zahnärzte eine Sturz- von einer Schlagverletzung unterscheiden?
Grundmann: Hierzu gehören sowohl die (Fremd-)Anamnese als auch der Untersuchungsbefund. Es gibt Körperregionen, von denen man weiß, dass sie nur sehr selten durch einen Sturz verletzt werden. Ähnliches gilt auch für Schläge. Experten, die sich regelmäßig mit dieser Materie beschäftigen, kennen die Unterschiede. In der Regel nehmen Rechtsmediziner, die von der Polizei oder Staatsanwaltschaft hinzugezogenen werden, die Differenzierung „Sturz oder Schlag“ vor.
Wie soll sich der Zahnarzt verhalten, wenn offensichtlich eine Gewalteinwirkung vorliegt, der Patient dies aber nicht zugibt?
Grundmann: Der Zahnmediziner sollte so viel wie möglich dokumentieren, schriftlich und gegebenenfalls auch fotografisch. Außerdem sollte er Zeugen hinzunehmen, die namentlich erfasst werden, zum Beispiel eine zahnmedizinische Fachangestellte. Zugeben oder abstreiten sind Dinge, die nicht in die Zahnarztpraxis gehören. Hier ist Vorsicht geboten, da dazu andere Experten, zum Beispiel Juristen, zur Verfügung stehen.