In der Mongolei, einem der am dünnsten besiedelten Länder der Erde, helfen deutsche Zahnärzte einmal im Jahr bei der Versorgung der Landbevölkerung. Ihre Hilfe wird dringend gebraucht, denn die Zahngesundheit vieler Mongolen ist in einem desolaten Zustand.
Dichter Nebel liegt auf der weiten Ebene, die Ugtaal umgibt. Eigentlich müsste Dorjsuren jetzt auf den Feldern in der Nähe seines Dorfs, rund 160 Kilometer nordwestlich der mongolischen Hauptstadt Ulan-Bator entfernt, arbeiten. Aber das schlechte Wetter und Zahnschmerzen machen dem Traktorfahrer an diesem trüben Morgen einen Strich durch die Rechnung. Der 64-Jährige sitzt auf einem Stuhl in einem Nebeneingang der örtlichen Krankenstation, einem weiß-gelben Sowjet-Bau, dessen letzter Anstrich schon einige Zeit zurückliegt, und wartet auf einen Behandlungstermin.
Seit zwei Tagen plagen den kräftigen Mann im orangenen Deel, dem landestypischen knielangen Gewand, Schmerzen im Oberkiefer. Glück im Unglück. Seine Beschwerden fallen genau in die Zeit eines Hilfseinsatzes des Nürnberger Vereins „Zahnärzte ohne Grenzen“ (DWLF), der mit vier Zahnärztinnen vor Ort ist. Ein einheimischer Zahnarzt kommt sonst nur einmal im Jahr nach Ugtaal – und behandelt dann nur gegen Bares. In anderen Sums (den Bezirken innerhalb der 21 Provinzen) müssen Patienten bis zu drei Jahre auf zahnmedizinische Versorgung warten. Eine Reise zum Zahnarzt in die Provinzhauptstadt oder gar nach Ulan-Bator können sich die wenigsten leisten.
Die schlechte Versorgungslage liegt zum einen daran, dass die Mongolei eins der am dünnsten besiedelten Länder der Erde ist und die weiten Wege ein engmaschigeres Behandlungsnetz für die weitgehend nomadisch lebende Landbevölkerung nahezu unmöglich machen. Zum anderen arbeiten fast alle praktizierenden Zahnärzte des Landes in der Hauptstadt. Die deutsche Hilfsorganisation schickt deshalb seit mehr als zehn Jahren Dutzende Helfer aus Deutschland ins mongolische Hinterland, um das Nötigste aufzufangen.
Als Traktorfahrer Dorjsuren aufgerufen wird, nimmt er seine Stoffmütze vom kahl geschorenen Kopf und betritt den temporären Arbeitsplatz von Marine Le Guérer und Maren Kraft – das Ex-Zimmer. In dem Raum mit den passend zum Muster des Linoleumbodens mintgrün getünchten Wänden und der spartanischen Einrichtung ziehen die beiden Zahnärztinnen von morgens bis abends Zähne – manchmal 60 Stück an einem Tag. Auch Dorjsuren wird hier nicht nur seine Schmerzen los, sondern auch zwei Zähne seines ohnehin nicht mehr vollständigen Gebisses.
Die erste Vermutung beim Blick in den Mund: Abszess. „Aber es ist schwer zu sagen, wo der Schmerz genau herkommt“, sagt Le Guérer. Ein Röntgengerät gibt es nicht. Die 28-Jährige hat zwar gerade erst ihr Studium beendet und ist im Einsatzplan deshalb offiziell noch als Helferin gelistet. Trotzdem hat die Kölnerin schon so manche zahnmedizinische Erfahrung gemacht, die Kollegen in der Heimat selbst nach jahrzehntelanger Berufserfahrung verwehrt bleibt. Schon während des Studiums reiste sie mit dem Förderkreis Clinica Santa Maria für fünf Wochen nach Bolivien und behandelte in abgelegenen Dörfern Patienten, die zuvor noch keine hellhäutigen Menschen gesehen hatten – und keine Zahnbürsten.
Dagegen ist Ugtaal schon in der Moderne angekommen. Oder war zumindest kurz davor. Die Klinik überrascht mit einem großen Flachbildfernseher im Eingangsbereich und vollausgestatteten Badezimmern – inklusive Badewanne. Nur fließend Wasser gibt es im ganzen Ort nicht. Eine Kanalisation dementsprechend auch nicht. Als Toilette fungieren daher Holzbalken über einer ausgehobenen Grube in einigem Abstand zur Klinik. „Ist halt so“, sagt Le Guérer und zuckt mit den Schultern.
Im Vergleich zu Bolivien sei das ein Fortschritt, ordnet die junge Zahnärztin die Erlebnisse am anderen Ende des eurasischen Kontinents ein. Auch vom Zustand der Zähne ihrer mongolischen Patienten ist sie einigermaßen positiv überrascht. „Wir haben zwar auch Fälle, bei denen alles kaputt ist“, sagt die junge Zahnärztin, während sie Kollegin Kraft beim Eingriff assistiert. „Aber eben auch welche, bei denen alles in Ordnung ist. Hier haben die Menschen anscheinend zumindest ein gewisses Gesundheitsbewusstsein.“
Damit scheint Ugtaal aber eine Ausnahme im DWLF-Einsatz zu sein. Aus vielen anderen Sums berichten Helfer, dass schon Milchzähne völlig verfault seien, weil es zwar in jedem Dorfladen eine große Auswahl an Süßigkeiten, aber in der Bevölkerung kaum Bewusstsein für Mundhygiene gibt. Eine der häufigsten Folgen: schlimme Fehlstellungen der bleibenden Zähne – ohne erschwingliche kieferorthopädische Behandlungsmöglichkeiten. Nach Angaben der Mongolian Dental Association (MDA) haben 94 Prozent der fünf- bis sechsjährigen Kinder Karies. Bei Kindern mit bleibenden Zähnen seien es 84 Prozent. Ein besorgniserregender Trend, den die Mongolei laut zahnärztlichem Weltverband FDI mit vielen aufstrebenden Entwicklungsländern teilt.
Für die dringend nötige Prophylaxe und Präventionsarbeit bleibt in vielen Sums wegen des Patientenandrangs aber kaum Zeit. Die knapp 40 am Hilfseinsatz beteiligten Zahnärzte und Helfer behandeln zwischen 50 und 80 Patienten täglich, nach sechs Einsatzwochen sind es insgesamt fast 9.000. Häufigster Eingriff: Extraktionen. Mehr als 6.000 Zähne haben die Helfer am Ende gezogen. Nicht umsonst hieß es auf einem Vorbereitungstreffen der Hilfsorganisation im Frühling, die Einsätze richteten sich an „chirurgisch-ambitionierte Zahnärzte“. Der Einsatz des Bohrers ist nur bei kleineren Kavitäten sinnvoll. Oft sind die Zähne so stark befallen, dass sie überkront werden müssten. Für Prothetik bleibt aber nur in Ausnahmefällen Zeit. „Wurzelkanalbehandlungen fallen auch aus, weil es erstens keine Möglichkeit zum Röntgen gibt und zweitens die nötige Nachbehandlung nicht gewährleistet werden kann“, erklärt Le Guérer.
Bei ihrem Patienten in der orangenen Tracht haben sie entschieden, den 2er und den 3er zu ziehen. „Einen heute, den anderen morgen“, sagt Kraft, die offiziell die Eingriffe durchführt, weil Le Guérer noch drei Jahre Berufserfahrung fehlen, um als „active dentist“ mitwirken zu dürfen. Da sie ihr Studium aber bereits abgeschlossen hat, wechselt sich das Duo ab. Nach wenigen Minuten hält Kraft einen äußerlich unversehrten Zahn samt Wurzel in der Zange. Mithilfe eines Dolmetschers erklärt sie Dorjsuren, dass er nun drei Stunden lang auf das Wattestäbchen in seinem Mund beißen und morgen noch einmal wiederkommen solle. Dann drückt sie ihm vier Schmerztabletten in die Hand. Dorjsuren grinst leicht gequält und winkt zum Abschied mit seiner Mütze.
So wie in diesem Fall lindern die Deutschen in erster Linie Schmerzen und packen dafür das Übel an der sprichwörtlichen Wurzel. Dass sie dadurch nur Symptome behandeln, nicht aber die Ursache des Problems an der Wurzel zu fassen bekommen, wissen die Helfer. Aber mehr Präventionsarbeit als eine Tube Zahnpasta samt Zahnbürste zu verschenken und einen Zettel mit einer Anleitung zum richtigen Zähneputzen mitzugeben ist nicht drin. Zumindest nicht in Ugtaal und vielen anderen Einsatzorten.
Malte Werner, Hamburg
Malte Werner ist freier Journalist und lebt in Hamburg. Zusammen mit Fotograf Daniel van Moll verbrachte er rund eine Woche bei den deutschen Zahnärzten in der Mongolei. Die Recherche wurde vom „Global Health Journalism Grant Programme for Germany“ des European Journalism Center finanziert.
Helfer gesucht
Neben ihrem jährlichen Großeinsatz in der Mongolei ist die Stiftung „Zahnärzte ohne Grenzen“ noch in vielen weiteren Ländern aktiv. Freiwillige Helfer werden für die monatlich sowie vierteljährlich stattfindenden Hilfseinsätze in Namibia, Togo, Sambia oder auf den Kapverden gesucht.
Weitere Informationen gibt es hier: www.dwlf.org