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Altersgrenze erreicht. Bleiben oder gehen?

Zahnarztpraxis Behandlungsstuhl Dentaleinheit

Vorweg: Ich war und bin ein leidenschaftlicher Zahnarzt mit medizinisch-systemischem Denkansatz. Bis heute weiß ich aber nicht, ob mir persönlich diese Leidenschaft wirklich gutgetan hat. Diese Leidenschaft hat mir nämlich nicht nur Freude bereitet und nicht nur Freundschaften erschlossen.

Woran lag das? Leidenschaft in Wissenschaft und Forschung, besonders in der Medizin, bedeutet gewöhnlich auch ein Querdenken, und das ist zunächst einmal nicht bei allen beliebt. Bei späterer Einsicht ist das Tuch aber bereits soweit zerschnitten, dass eine Reparatur nur in Ausnahmen gelingt.

Seit 1983 bin ich in eigener bis heute durchaus profitabler Praxis niedergelassen und habe in dieser Zeit 14 (in Worten: Vierzehn) „Gesundheitsreformen“ erlebt, die immer eine Abstrukturierung irgendwelcher Honorare beinhaltete. Das war schon schlimm genug. Um aber diesen Gesetzeswerken eine Akzeptanz in der Bevölkerung zu verschaffen und einen Widerstand der Ärzte- und Zahnärzte- und Apothekerschaft von vornherein gar nicht erst aufkommen zu lassen, wurde immer sechs bis neun Monate vorher eine Pressekampagne lanciert, die man als Ärzte-, Zahnärzte- und Apotheker-Bashing bezeichnen konnte. Das zermürbt.

Die Folge: Der natürliche Nachwuchs im Gesundheitsbereich wurde weniger, denn viele hier Tätige raten ihren Kindern von diesen Berufen ab. Zweitens gingen und gehen viele von ihnen ins Ausland und dies nicht nur der besseren Honorare wegen, sondern auch weil man dort dieses Bashing nicht kennt.

Heutige sehr aussagekräftige Schlagworte in der deutschen Medizin und Zahnmedizin sind „Evidenz-basierte Medizin“ und „Leitlinienmedizin“. Entlehnt ist das Ganze aus dem Englischen („evidence-based-medicine“). Was aber ist das für eine beweisbezogene Medizin? Es handelt sich um ein auf „empirische Belege“ gestütztes vermeintliches Wissen und daraus abgeleitetem medizinischem (ärztlichem) Handeln. Diese „Belege“ werden durch Studien dargestellt, die allermeist von Pharmafirmen „gesponsort“ werden. Dieses Sponsoring kann nicht losgelöst von ökonomischen Interessen gesehen werden.

Der daraus entstehende Interessenkonflikt aber kann dazu führen, dass die geforderte Empirie gegen eine aus den abstrakte und logische Zusammenhänge beschreibenden Formalwissenschaften abzuleitende (medizinische) Logik steht. Außerdem kann eine Empirie morgen ganz anders aussehen als heute. Empirie ist immer linear beziehungsweise eindimensional und kann den Beweis multikausal entstandener Pathologien niemals erbringen. Sie kann für manch eine medizinische (meist lebensbegleitende) Therapie eine Linderung nachweisen aber niemals multifaktorielle Kausalitäten.

Das führt ganz zwangsläufig zu symptomatischer Therapie, die aber nicht kausal das heißt nicht nachhaltig sein kann. Empirie sucht immer nur nach der einen „causa“ und war damit bei Akuterkrankungen – vor allem bei Infektionserkrankungen (ein bestimmter Mikroorganismus = eine bestimmte Krankheit) – durchaus erfolgreich. Bei chronischen Erkrankungen aber versagt dieses Konzept. Auch die Zahnmedizin kann mit ihren Materialien und Techniken über die Inhibition physiologischer Regelkreise (Enzymblockade, Intoxikationen aufgrund genetischer Detoxifikationspolymorphismen etc.), über immunologische Sensibilitäten und über nicht behandelte Entzündungsprozesse pathophysiologische Krankheitskaskaden initiieren.

Früher schickten Ärzte bei unklaren Pathologien ihre Patienten zum Zahnarzt. Das kommt heute kaum noch vor. Die Trigger sind unterschiedlich, der Weg in die chronische Erkrankung immer gleich beziehungsweise ähnlich, denn ein biologischer Organismus kann nicht für jedes Agens eine spezifische Abwehrstrategie entwickeln. Da diesbezügliche Kenntnisse in der Zahnmedizin bis heute leider allermeist fehlen, sind diese Fakten innerhalb der Zahnmedizin bedauerlicherweise zumindest umstritten. Eine wissende Minderheit wird in der Zahnmedizin aber auch in der Medizin zu oft in eine Ecke gestellt, in die sie nicht gehört. Es ist nicht zu verlangen, dass jeder diese Kenntnisse vorweisen kann, aber jedem weiterdenkenden, wissenschaftlicher Logik vertrauenden Kollegen Phantastereien und finanzielle Interessen vorzuwerfen, ist keinesfalls in Ordnung.

Im Übrigen müssten mehr als die Hälfte aller medizinischen Therapien untersagt werden, denn es gibt für sie keine „evidences“. Der gewissenhafte Arzt oder Zahnarzt, der über ein medizinischer Logik entsprechendes Wissen verfügt, kommt in Gewissenskonflikte, wenn er lediglich den aus der „evidence-based-medicine“ entstandenen Leitlinien entsprechend handelt. Behandelt er nämlich seinem persönlichen progressiven zahnärztlichen und ärztlichen Wissen entsprechend, kann er mit diesen Leitlinien in Konflikt geraten und steht dann leider forensisch in unsicheren Schuhen da, denn von Gutachtern und den allermeisten Gerichten werden diese Leitlinien rechtswidrig leider als verbindlich angesehen.

Alles, was keine „evidence“ vorweisen kann, sollte weder in der Zahnheilkunde noch in der Medizin stattfinden. Das führt dann zu einer „Angsthasenmedizin“. Es ist erschütternd, wie sich in Deutschland Rechtsnormen verschieben und wie wissenschaftliche Fakten je nach Verständnis des Mainstreams negiert werden.

Eine Parallele tut sich auf: Der Dortmunder Professor für Bio-Didaktik Dittmar Graf fand heraus, dass 7 Prozent der künftigen Biologielehrer Darwins Evolutionstheorie ablehnen. Parallel dazu werden auch heute noch von vielen zahnmedizinischen Lehrkörpern Immunologie, Toxikologie, Genetik, Regelkreise etc. als „Esotherik“, „nonsens“ oder für die Zahnmedizin uninteressant abgetan.

Als Schlussfolgerung muss die Frage gestellt werden, ob diese von interessierten Kreisen gewollte Entwicklung in Richtung „Mainstream-Medizin“ dem Patienten wirklich zu mehr Sicherheit und damit zu mehr Nutzen gereichen kann. Ist es nicht vielmehr so, dass die „evidence-based-medicine“ mit den von ihr geförderten Leitlinien wichtiger ist als die Individualität der Patienten? Die „evidence-based-medicine“ kommt aus der Epidemiologie und die ist per definitionem nicht für eine individuelle auf den einzelnen Patienten bezogenen Patienten zuständig, sondern für ganze Bevölkerungen oder Gruppen mit gleichen Lebensbedingungen oder Merkmalen.

In der Zahnmedizin haben wir heute für den auf Metalle sensibilisierten Patienten über diverse Spezialkeramiken (zum Beispiel Zirkon) und über die verschiedensten thermoplastischen Kunststoffe (zum Beispiel PEEK) die Möglichkeit, ihn absolut metallfrei zu behandeln. Da aber diese Art der Versorgung in den GBA bisher keinen Eingang gefunden hat, verliert der Patient den ihm ansonsten zustehenden Festzuschuss. Das heißt, dass man auch den gegen Metalle sensibilisierten (immunologisch attestiert) Patienten nur unter Einsatz von Metallen therapieren soll oder aber gar nicht. Ist das dann ZahnMEDIZIN?

Eine andere Frage schließt sich an. Ist die Ausbildung der deutschen Mediziner und Zahnmediziner wirklich so schlecht, dass man sie ohne Leitlinien nicht behandeln lassen darf? Dritte Frage: Kann man Ärzten und Zahnärzten nur so wenig Gewissenhaftigkeit zutrauen, dass sie Leitlinien zur Seite gestellt bekommen müssen? Vierte Frage: Was macht der arme Arzt oder Zahnarzt in Fällen, für die es keine Leitlinien gibt? Fünfte Frage: Wenn er trotz fehlender Leitlinien behandeln soll, warum soll er sich dann bei Vorhandensein von Leitlinien nach solchen richten?

Die medizinische Leitlinienpolitik sowie die sogenannten Qualitätskontrollen werden in Deutschland vom Cochrane-Institut, vom IQWiG, vom IQTiG, vom RKI, von universitären Gremien und von Fachgesellschaften beherrscht. Dort aber sind bei manchen Institutionen in der Mehrzahl statt notwendiger Ärzte/Zahnärzte in der Hauptsache Mathematiker (Lehrer), Juristen, Ernährungswissenschaftler, Archäologen, Historiker, Krankenschwestern, Altenpfleger und sogenannte Gesundheitswissenschaftler beschäftigt (zum Beispiel Deutsches Cochrane Institut), die dann über medizinische „evidences“ entscheiden. Soviel „Fachkompetenz“ lässt einen zumindest schmunzeln. Das sollte aber nur heimlich geschehen, ansonsten könnte man Schwierigkeiten bekommen.

Im Übrigen sollten wir zukünftig unsere Approbation vielleicht bei diesen paramedizinischen Experten beantragen! Die die Lei(d)tlinien ausarbeitenden Gremien sind immer von mehreren bis vielen Teilnehmern besetzt. Es gibt also immer einen Kompromiss zwischen fortschrittlich und konservativ. Ist unter diesen Bedingungen eine moderne Medizin/Zahnmedizin überhaupt möglich, oder wird sie dadurch lediglich eingebremst (Mainstream-Medizin)? Unterschiedliche Fallzahlen, Menge statt von Archäologen beurteilte Qualität suggerieren falsche Fakten.

Hinzu kommt die Möglichkeit des Jonglierens mit statistischen Parametern wie NNT (number needed to treat), ARR (absolut reduction of risk), RRR (relative reduction of risk), efficacy (theoretischer Effekt), effectiveness (Effekt in der täglichen Praxis) und efficiency (Leistungsgrad = Ressourceneinsatz im Verhältnis zum Resultat). Wenn zum Beispiel in einer Studie ohne Therapie zwei von tausend Probanden sterben und mit Therapie nur einer, dann ist die absolute Risikominimierung (ARR) 0,05 Prozent, die relative Risikominimierung aber 50 Prozent. Was wird von der forschenden Pharmaindustrie wohl veröffentlicht? Aus Wortspielereien werden dann Leitlinien der Gegensätzlichkeit: „evidence-based-medicine“(EbM), „evidence-based-health-care“ (EbHC), „evidence-based-individual-decision“ (EbID). Als Weiterentwicklung wird dann das schon angedachte „E-health-system“ entwickelt – keine individuelle empathische Anamnese und keine körperliche Untersuchung – kein Sehen, Hören, Riechen und Tasten vonseiten des Arztes. Sind wir Mediziner dann wirklich noch Ärzte und Zahnärzte oder nur noch diplomierte Ingenieure oder IT-Manager der Medizin/Zahnmedizin?

In den einzelnen medizinischen Disziplinen gibt es pro Jahr ca. 8.000 mehr oder weniger aufschlussreiche, zum Teil sogar recht widersprüchliche Veröffentlichungen. Kann nun ein außerordentlich beflissener Gutachter oder Richter nachweisen, dass der Arzt oder Zahnarzt die Veröffentlichung Nummer 6.128 nicht gelesen hat, so steht er forensisch in schlechten Schuhen da. Der eine Zahnarzt versteht von Immunologie, von Toxikologie, von Innerer Medizin etc. eventuell mehr als der andere, vielleicht sogar mehr als der Gutachter, der dies aber niemals zugeben wird. Dieser Zahnarzt aber therapiert entsprechend seiner Kenntnisse, die eventuell (noch) keine „evidences“ vorweisen. Was sollte in der Beurteilung dieses Tuns ausschlaggebend sein? Medizinisch wissenschaftliche Logik oder jonglierbare „evidences“?

Mit der Öffnung hin zu den MVZs verliert das individuelle Arzt-Patient-Verhältnis immer mehr an Präsenz. In einem solchen Zentrum behandeln dann oftmals zwanzig Ärzte oder zehn Zahnärzte. Der Patient kann gar nicht immer vom selben Arzt behandelt werden, aber er kann ziemlich sicher sein, nach medizinische Lei(d)tlinien in forensischer Sicherheit (siehe oben) behandelt zu werden.

Die Frage ob man als Arzt oder Zahnarzt weiter an der aufgezeigten Entwicklung teilnehmen will, wird wahrscheinlich von so manchem Kollegen eher früher als später mit „nein“ beantwortet werden. Dann geht man als älterer möglichst in den Ruhestand und als jüngerer in ein für die ärztliche Kunst vielleicht menschlicheres Ausland.

Zahnarzt Dr. medic-stom/RU Martin Klehmet, Bremen


Der Autor dieses Beitrags, Zahnarzt Dr. medic-stom/RU Martin Klehmet (Jahrgang 1950), ist seit 1983 in Bremen-Grolland niedergelassen. Sein Schwerpunkt ist die biologisch-ganzheitliche Umweltzahnmedizin.