Gewalt in Zahnarztpraxen? Das kommt vor. Besonders im Notdienst gibt es häufiger Auseinandersetzungen mit aggressiven Patienten, die die Chefs und Mitarbeiter beleidigen, anschreien oder sogar schlagen. Immer mehr Praxisteams bereiten sich deshalb auf den Ernstfall vor. Wie es sich anfühlt, angegriffen zu werden, und welche Überwindung es kostet, sich zu wehren, erfuhr DZW-Redakteurin Evelyn Stolberg beim Krav-Maga-Training.
Die Hand des Fremden hinter mir presst sich plötzlich fest auf meinen Mund. Ich rieche den Alkohol auf seiner Haut, während mich blitzartig die Panik packt.
LUFT!
Ich kann nicht mehr atmen, will schreien, will mich befreien, spüre den schweißnassen Körper meines Angreifers, der sich eng an meinen Rücken drückt. Die Finger seiner linken Hand schließen sich fest um meinen Oberarm, während seine rechte Hand meinen Mund umklammert wie eine Spinne ihre Beute. Sein Atem fühlt sich heiß an in meinem Nacken. Ich rieche sein herbes Aftershave. Mir wird schlecht. Was passiert, wenn ich jetzt würgen muss? Lässt er mich dann los?
Mein Körper lässt mich im Stich. Er macht gar nichts. Ich stehe einfach da. „Los, los, los, beweg dich endlich!“, schreit eine angsterfüllte Stimme in meinem Kopf. Ich darf nicht in dieser Schockstarre verharren!
Adrenalin pumpt durch meinen Körper
Kleine Lichtpunkte flimmern vor meinen Augen, der Druck der fremden Hand ist unerträglich. Habe ich mir aus Versehen auf die Zunge gebissen? Ich schmecke Blut. Spüre Schwindel. Nur noch wenige Sekunden, und ich werde bewusstlos sein.
Das weiß ich, weil Krav-Maga-Instructor Carsten Draheim den 30 Teilnehmern seines Anfängerkurses vor zwei Minuten genau erklärt hat, dass wir schnell reagieren müssen, wenn uns jemand plötzlich von hinten angreift. Ich versuche verzweifelt, mich an die Abfolge zu erinnern, während mir das Blut durch die Adern rauscht und Adrenalin durch meinen Körper pumpt. Und endlich weiß ich wieder, was ich tun muss.
Schritt eins: Ich reiße meine Arme hoch und schlage dem Mann hinter mir mit voller Kraft gegen den Kopf.
Schritt zwei: Ich packe seine Hand, die nicht will, dass ich atme oder schreie, und umklammere sie, ziehe sie mit Gewalt von meinem Gesicht, bis sie oberhalb meiner Brust liegt. Meine Muskeln rebellieren, doch ich mache weiter. Fest drücke ich die Hand meines Angreifers an meinen Körper und lasse auch nicht los, während ich mich drehe und mein Körper sich aus der Umklammerung löst. Ich keuche. Und ... es gelingt!
Schritt drei: Ich ziehe mein rechtes Knie hoch, erwische die Stelle zwischen seinen Beinen und schlage zweimal kurz hintereinander in sein Gesicht. Er weicht zurück! Ein plötzliches Glücksgefühl macht sich breit, doch noch ist es nicht vorbei. Mit letzter Kraft renne ich weg und bleibe japsend hinter einer Betonsäule der großen Trainingshalle stehen, in der jeden Dienstagabend rund 30 Männer und Frauen in Sankt Augustin miteinander das israelische Selbstverteidigungssystem Krav Maga erlernen.
Mein ganzer Körper zittert
Ob es mir im echten Leben auch geglückt wäre zu entkommen? Diese Frage stelle ich mir, als ich meine Arme auf meinen Oberschenkeln abstütze und tief Luft hole. Nach ein paar Atemzügen hört mein Körper auf zu zittern, und mit der Anspannung verschwinden auch die nervigen, tanzenden Lichtpunkte vor meinen Augen. „Die Garantie, dass du heil aus einer Gefahrensituation rauskommst, kann dir keiner geben“, sagt mir Carsten nach dem Training. „Aber du lernst hier bestimmte Abläufe kennen. Die gehen dir irgendwann in Fleisch und Blut über, damit du sie auch unter Stress abrufen kannst. Wenn dich wirklich jemand angreift.“
Das Training geht unter die Haut
Draußen ist es mittlerweile dunkel und wir sitzen in Carstens Büro. Er auf einem schwarzen Sessel, ich auf einem quietschbunten. Mir tun die Arme weh und ich habe die üble Vorahnung, dass ich morgen einen dicken blauen Fleck am linken Oberarm und Blutergüsse am Hals haben werde. Denn in den anderthalb Stunden des Anfängerkurses durfte ich mit Francesco – meinem Trainingspartner für diesen Abend – gefühlte 100-mal üben, eine Messerattacke abzuwehren und mich aus seinem Würgegriff zu befreien. Francesco ist seit November letzten Jahres selbst Instructor für Krav Maga. Vor sieben Jahren begann er mit dem Training. „Gar nicht schlecht fürs erste Mal“, sagte er vorhin zum Abschied und klopfte mir auf die Schulter. Auch die tut immer noch weh – von den ungewohnten Bewegungen.
Ich muss mich überwinden
„Wie lange dauert es, bis man sich wirklich wehren kann?“, will ich von Carsten wissen. Er überlegt kurz. „Das kann ich dir pauschal nicht sagen. Jeder ist da anders. Und es macht auch einen Unterschied, ob du ein Mann oder eine Frau bist. Frauen sind oft viel zu nett. Du wolltest Francesco zuerst auch nicht treten. Erinnerst du dich?“ Sofort erscheint die Situation vor meinem geistigen Auge, die etwa eine Stunde zurückliegt. „Tritt endlich zu! Ich habe einen Schutz an“, fordert Francesco, während er sich selbst demonstrativ mit der Faust in den Schritt schlägt. „Aber ich will dir nicht weh tun“, sage ich und winde mich innerlich. Er schüttelt den Kopf. „Du musst aber. Wenn es hier nicht funktioniert, wie soll es das dann draußen?“ Klar hat er recht. Trotzdem. Ich hätte nicht gedacht, dass es mich so viel Überwindung kosten würde, mich zu wehren.
Männliche Patienten werden häufiger aggressiv
Carsten lacht. „Mach dir keinen Kopf. Je häufiger du kommst, umso besser wird es“, sagt er. Und dann erzählt er mir von den Trainings, die er regelmäßig mit Teams aus Arztpraxen durchführt. „Da haben wir natürlich mehr Zeit als beim Abendkurs“, erklärt er. „Und wir haben die Möglichkeit, bestimmte Situationen durchzuspielen. In der Theorie und in der Praxis.“ Das macht mich neugierig und ich hole eine Liste mit Beschreibungen von Übergriffen auf Zahnärzte und ihre Mitarbeiter heraus. Die haben uns Leser zugeschickt, nachdem die DZW im März das erste Mal über Gewalt in Zahnarztpraxen berichtet hatte. Besonders häufig, so scheint es zumindest, werden männliche Patienten Mitarbeiterinnen gegenüber aggressiv.
„Tritt selbstbewusst auf“
„In vielen Fällen hilft es schon, den Angreifer selbstbewusst in seine Schranken zu weisen“, sagt Carsten. „Das üben wir.“ Um mir zu zeigen, was er meint, steht er auf. Seine Stimme bekommt einen scharfen Unterton und wird mit jedem Wort lauter. „Jetzt ist Schluss hier. Gehen Sie sofort wieder ins Wartezimmer.“ Plötzlich geht die Tür zu Carstens Büro auf und ein Mitarbeiter kommt herein. „Alles klar bei euch?“ fragt er mit gerunzelter Stirn. „Alles gut“, antwortet Carsten. Dann grinst er mich an. „Siehst du? Wenn ich entsprechend auftrete, reagieren die anderen darauf. Für die Zahnarztpraxis heißt das beispielsweise: Bleib nicht hinter der Rezeption sitzen, wenn ein aggressiver Patient vor dir steht. Stell dich hin und mach dich groß. Tritt selbstbewusst auf. Wenn die Chefs ihre Mitarbeiterinnen dann noch darin bestärken, unverschämte Patienten jederzeit rauswerfen zu dürfen, wächst das Team weiter zusammen und das Selbstvertrauen aller.“
Spiel nicht den Helden
Und falls trotzdem ein Patient in der Praxis körperlich übergriffig wird? „Dann hilft nur, die Polizei zu rufen“, erklärt Carsten. „Auf keinen Fall solltest du den Helden spielen. Wenn es dir möglich ist, flieh. Schütze dich selbst. Aber vergiss auch deine Teammitglieder nicht.“
Ernst schaut mich Carsten an. „Wir lernen hier nicht, andere platt zu machen. Krav Maga ist dazu da, einen Angreifer schnell so lange kampfunfähig zu machen, bis du ihn überwältigen oder fliehen kannst.“ Ich schlucke. „Gibt es viele hier in den Kursen, denen schon mal was passiert ist?“, frage ich. Carsten schaut kurz aus dem Fenster. „Nicht alle erzählen mir ihre Geschichten. Aber ein paar schon. Wir haben Rettungskräfte, die von Betrunkenen, denen sie helfen wollten, so verprügelt wurden, dass sie monatelang nicht mehr arbeiten konnten. Frauen, die vergewaltigt wurden. Aber auch Männer, die einfach so auf der Straße brutal zusammengeschlagen worden sind.“
Du bist kein Opfer, sondern Verteidiger
Er stockt. Dann sagt er: „Mir ist wichtig, dass sich niemand hier als Opfer fühlt. Es gibt keine Opfer. Es gibt Angreifer und Verteidiger. Und meine Aufgabe ist es, euch beizubringen, euch zu verteidigen. Mit allen Mitteln.“
Eine Viertelstunde später sitze ich im Auto und fahre nach Hause. Zwei junge Männer stehen an der Bushaltestelle. Ob sie harmlos sind? Könnte ich mich gegen sie wehren, wenn sie mich angreifen würden? Zum Glück muss ich diese Frage heute Abend nicht beantworten.
Carsten Draheim ist Inhaber des Krav-Maga-Instituts und Geschäftsführer des international agierenden „Kravolution“ Krav-Maga-Verbands, dem mittlerweile mehr als 150 Ausbilder weltweit und alleine im Köln-Bonner Raum elf Schulen angehören. Der 41-Jährige ist vom Verteidigungsministerium bestellter Nahkampfausbilder für Soldaten bei der Bundeswehr und Dienstleister für die Polizei. Aber auch immer mehr Ärzte lernen bei ihm und seinen Teamkollegen, sich auf den Ernstfall vorzubereiten. www.krav-maga-institut.de