Kinderschutz und Kindeswohlgefährdung bei Zahnärzten
In einer aktuellen bundesweit durchgeführten Studie am Universitätsklinikum Jena wird der Umgang von Zahnärzten in Bezug auf die Vernachlässigung oder Misshandlung von Kindern untersucht. Nachfolgend werden ein kleiner Überblick und vorläufige Ergebnisse der Studie vorgestellt. Ziel der laufenden Studie ist es, den aktuellen Wissensstand von Zahnärzten in der Thematik Kindeswohlgefährdung zu erfassen und Ideen für künftige Weiterbildungen zu entwickeln.
Trotz der in der Vergangenheit immer wieder aufgekommenen Thematik „Kinderschutz“ und der im neuen Lernzielkatalog für den Studiengang Zahnmedizin geforderten fundierten Wissensvermittlung über Kindeswohlgefährdung scheint bei Zahnärzten innerhalb von Deutschland immer noch eine große Unsicherheit in der Diagnostik und Anzeige solcher Fälle vorzuherrschen. Im Jahr 2016 wurden insgesamt 3.621 Fälle von Kindeswohlgefährdung nach polizeilicher Kriminalstatistik angezeigt. Wissenschaftler gehen aber von einer sehr viel höheren Dunkelziffer aus, da die Täter oft innerhalb der Familie zu finden und die Opfer zu jung sind, um auf sich aufmerksam zu machen. Eine Statistik, wie viele der angezeigten Fälle durch Zahnärzte gemeldet wurden, gibt es leider nicht – aber die Zahl dürfte deutlich geringer ausfallen, als sie es vermutlich sein könnte. In unserer aktuell noch laufenden Studie haben knapp 20 Prozent der teilnehmenden Zahnärzte jemals einen Verdachtsfall gemeldet.
Aber woran liegt diese Ohnmacht in Diagnostik oder im Meldefleiß, obwohl ungefähr die Hälfte aller aktiven Misshandlungen im Kopf- und Halsbereich erfolgen und Spuren von Vernachlässigung auch im Milchgebiss oder im Wechselgebiss zu finden sind? Sogar 57,8 Prozent der Studienteilnehmer schon einmal einen Verdacht auf Kindeswohlgefährdung hatten?
Hier spielen mehrere Faktoren eine Rolle: Einerseits wird während des Studiums kaum auf das Thema eingegangen, und es besteht Unkenntnis. Gerade einmal 21,1 Prozent der bisherigen Umfrageteilnehmer erinnerten sich an Kinderschutz bzw. Kindesmisshandlung und -vernachlässigung als Thematik in der universitären Ausbildung. Dazu kommt die Unsicherheit im Meldewesen (42,2 Prozent), Angst vor den Konsequenzen für das Kind (46,9 Prozent) und allen voran die Unsicherheit in der Diagnose selbst (66,4 Prozent). Der mögliche wirtschaftliche Einfluss auf die eigene Praxis hat dagegen nur einen geringen Stellenwert (6,3 Prozent). Der Fehler scheint nach vorläufiger Analyse in der Ausbildung zu stecken – nahezu alle Teilnehmer (99,2 Prozent) gehen davon aus, dass die Zahnärzteschaft nicht ausreichend über die Zeichen einer Kindeswohlgefährdung informiert ist.
Zugegeben, die Zeichen einer aktiven Kindesmisshandlung sind für einen Zahnarzt schwer zu sehen, vorausgesetzt sie sind nicht im Kopf- und Halsbereich des kleinen Patienten sichtbar. Hier haben viele Kollegen und Kolleginnen im Freitext darauf aufmerksam gemacht, dass man differenzierter an das Thema der Kindeswohlgefährdung herantreten müsse. So ist für Zahnmediziner eine Vernachlässigung anhand des Gebisses sehr viel leichter zu erkennen als eine aktive Misshandlung am Körper, geschweige denn sexuelle Misshandlung.
Aber auch jene ist schwer zu diagnostizieren – ein durch Nursing-Bottle-Syndrome destruiertes Gebiss heißt nicht automatisch, dass das Kind vernachlässigt wird (Abb. 1).
Überhaupt ist die Early Childhood Caries, egal in welchem Stadium, noch kein Zeichen einer Vernachlässigung (Abb. 2).
Eine mehrere Millimeter dicke Plaqueschicht weist darauf hin, dass diese Kinder nicht adäquat in ihrer Mundhygiene unterstützt werden. Auch diese simplen Beispiele zeigen bereits, wie problematisch der eigentliche Nachweis für eine Kindeswohlgefährdung ist. Der soziale und intellektuelle Hintergrund der Eltern ist genauso entscheidend wie kulturelle Unterschiede. Dies ist einer der Punkte, in denen die Ausbildung der Zahnärzte in Bezug auf das Thema der Kindesvernachlässigung unbedingt verbessert werden müsste. Auch dazu wünschen sich die meisten Zahnärzte eine verbesserte Aus- und Fortbildung – immerhin haben 93 Prozent der Studienteilnehmer so abgestimmt.
Ein weiteres Problem stellt die fehlende Leitlinie für die Zahnheilkunde dar – diese gibt es von der Bundesärztekammer und der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF), jedoch sucht man eine Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK) vergebens. Die Leitlinie der AWMF wiederum ist den meisten Zahnärzten (89,1 Prozent) unbekannt. Ein Großteil der Kollegen ist daher der Meinung, dass die erforderlichen Vorgänge und Meldewege bereits Teil des Studiums sein müssten (93 Prozent). Auch wünschen sich viele Zahnmediziner eine Erstellung einer Leitlinie, in der die Rolle der Zahnärzte besser beleuchtet wird (85,9 Prozent).
Ähnliche Studien wurden bereits in Australien, Dänemark, Jordanien und Schottland durchgeführt. Im Vergleich kommt unsere Studie zum aktuellen Zeitpunkt zum gleichen Ergebnis, wie sie die Kollegen aus den oben genannten Ländern berichtet haben. Die zahnärztlichen Kollegen sind – obwohl nachgewiesenermaßen in einer guten Position zur Prävention von Kindeswohlgefährdung und zum Kindesschutz – aufgrund der fehlenden tiefergehenden Ausbildung in diesem Bereich häufig nicht in der Lage, eine gesicherte Diagnose oder Verdacht zu äußern.
Falls doch, scheitert es häufig an den Meldewegen, die 42,2 Prozent der Teilnehmer nicht kennen. Auch die fehlende Rechtssicherheit wurde bemängelt – vor allem, dass der Meldende nicht anonym bleibt, wird häufig kritisiert. Etwa die Hälfte aller befragten Zahnärzte gibt an, dass sie Angst vor einem Rechtsstreit haben oder vor den Folgen für die Reputation ihrer Praxis.
Insgesamt bleibt der Abschluss der Studie abzuwarten, um eine fundierte Aussage über die Hintergründe und die Einstellung der Zahnärzte zum Thema Kindeswohlgefährdung treffen zu können. Die Studie läuft noch – falls Sie selbst Studienteilnehmer werden möchten, beteiligen Sie sich bitte online an der Studie.