So führt das Herpes-Virus zum Beispiel bei Patienten auf Intensivstationen zu schweren Lungenentzündungen. Bei Gesunden kann es spontan eine Gehirnentzündung verursachen, die häufig irreversible Gehirnschäden nach sich zieht.
Das Erbmaterial des Herpes-Virus besteht aus DNA, wie beim Menschen. Sobald es in menschliche Zellen eingedrungen ist, schleust es sein Erbgut in den Zellkern ein. Dort befindet sich die molekulare Maschinerie, mit der genetische Information von der DNA abgelesen und in RNA-Moleküle umgeschrieben wird. Diese RNA bestimmt dann, welche Proteine von der Zelle gebildet werden.
Im Zellkern übernimmt das Virus innerhalb weniger Stunden nach der Infektion die vollständige Kontrolle über diese Maschinerie. Es nutzt sie dazu, um die eigenen Proteine von der Zelle produzieren zu lassen und sich massenhaft zu vermehren. Die Bildung zelleigener Proteine wird so schnell zur Nebensache. Am Ende stirbt die Wirtszelle ab und entlässt Tausende neuer Viren, die wieder andere Zellen infizieren.
Ablesen der menschlichen DNA wird gestört
Virologen um Prof. Lars Dölken von der Uni Würzburg stellen jetzt in Kooperation mit dem Bioinformatik-Team von Prof. Caroline Friedel (LMU München) neue Details aus diesem Prozess vor. Ihre Arbeiten sind im Journal Nature Communications veröffentlicht („Wide-spread disruption of host transcription termination in HSV-1 infection“, Andrzej J. Rutkowski, Florian Erhard, Anne L’Hernault, Thomas Bonfert, Markus Schilhabel, Colin Crump, Philip Rosenstiel, Stacey Efstathiou, Ralf Zimmer, Caroline C. Friedel, Lars Dölken. Nature Communications, 20. Mai 2015, DOI: 10.1038/ncomms8126).
Die Forscher haben in Zellkulturen analysiert, wie eine Infektion menschlicher Bindegewebszellen (Fibroblasten) mit HSV-1 zeitlich verläuft und was dabei mit der Gesamtheit der RNA-Moleküle in den Zellen passiert. Dabei setzten sie eine neue Methode ein. Mit ihr können sie zu bestimmten Zeiten nach dem Beginn der Infektion die gebildeten RNA-Moleküle selektiv aufreinigen und mit Hochdurchsatz-Sequenzierung untersuchen.
Natürliche Abwehrreaktionen ausgebremst
Schon drei bis vier Stunden nach der Infektion konnten die Wissenschaftler einen völlig unerwarteten Effekt beobachten: Der Ablesevorgang an der menschlichen DNA stoppt nicht mehr an den vorgesehenen Stellen, sondern läuft einfach weiter, und das oft über mehrere benachbarte Gene hinweg. So entstehen massenhaft unbrauchbare RNA-Produkte, die nicht mehr ordnungsgemäß zu Proteinen weiterverarbeitet werden. Die DNA des Virus wird dagegen völlig korrekt abgeschrieben. So verhindert das Virus wahrscheinlich Abwehrreaktionen der Wirtszelle und erhöht die Produktion seiner eigenen Proteine.
Hunderte Gene werden geweckt, bleiben aber stumm
Der neu entdeckte Mechanismus kann den Anschein erwecken, dass das Virus sehr viele Gene in der Zelle zusätzlich aktiviert – was aber nicht stimmt. „Experimentelle Daten wurden daher in der Vergangenheit wahrscheinlich falsch interpretiert“, so die Schlussfolgerung der Forscher. Ihren Erkenntnissen zufolge sind Hunderte von zellulären Genen, die von den Viren scheinbar aktiviert werden, selbst acht Stunden nach der Infektion nicht in Proteine übersetzt. „Abweichend von anderen Studien fanden wir zudem keinen Hinweis darauf, dass die Viren die Weiterverarbeitung der RNA im Zellkern, das sogenannte Splicing, generell hemmen“, so Dölken. Stattdessen komme es zu ungewöhnlichen Splice-Vorgängen, die bisher so noch nicht beschrieben waren.
Das Forschungsteam aus Würzburg, Cambridge und München hat mit dieser Arbeit einen methodischen Meilenstein gesetzt: Mit einem einzigen experimentellen Ansatz ist es möglich, die Gesamtheit der Veränderungen beim Ablesen und der Weiterverarbeitung der RNA sowie deren Auswirkungen auf die Proteinproduktion zu erfassen.