Was ist das Besondere an der DMS V? Warum gibt es so viel Wirbel um sie?
Prof. Dr. Dietmar Oesterreich: Die DMS V ist in mehreren Dimensionen eine beachtenswerte Studie. Nicht allein, weil sie empirisch belegt, dass die Zahnmediziner in Deutschland mit ihren Teams tagtäglich einen hervorragenden Job machen. Hier haben wir schwarz auf weiß die Zahlen, wie Leidenschaft für den Beruf gepaart mit profundem Fachwissen sukzessive Wirkung zeigt.
Aber auch, wie Konzepte zu Prävention oder Versorgung greifen – oder wo eben noch nicht zur Genüge. Damit ist die DMS V ein wichtiger Beitrag zur weiteren Ausgestaltung und kritischen Auseinandersetzung mit dem zahnmedizinischen Versorgungssystem. Sie dient somit der eigenen Praxis, der Professionspolitik und der Wissenschaft gleichermaßen. Letztendlich wird auch durch die Finanzierung der Studie aus unseren eigenen Geldern deutlich – wir wollen wissen, wie die Ergebnisse unserer Arbeit sind. Versorgungsforschung wird damit für jeden von uns erlebbar und bietet gleichzeitig auch der eigenen Praxis Wissen zur weiteren Ausrichtung.
Für die aktuelle Fünfte Deutsche Mundgesundheitsstudie sind zum wiederholten Mal auch in großem Umfang sozialwissenschaftliche Daten erhoben worden. Welche Daten wurden erhoben und warum?
Oesterreich: Sozialepidemiologische Querschnittsuntersuchungen wie die DMS V sind ein wichtiger Beitrag der Versorgungsforschung, weil sie den sogenannten Outcome der zahnmedizinischen Versorgung ermitteln. Vor dem Hintergrund des bio-psycho-sozialen Krankheitsverständnisses ist es erforderlich, nicht nur Erkrankungslasten, die sogenannten Prävalenzen, beziehungsweise klinische Befunde zu erforschen, sondern Erkenntnisse zum sozialen Umfeld, zu Verhalten und Einstellungen zur Mundgesundheit zu erfassen. Die deutschen Mundgesundheitsstudien greifen damit sozialwissenschaftliche Forschungstrends auf und setzen diese in international höchst beachteter Form um.
Einerseits wurden soziodemographische Erkenntnisse wie Alter, Bildung, soziale Stellung und Einkommen ermittelt. Andererseits beziehen sich die sozialwissenschaftlichen Fragestellungen auf die Mundhygiene, Hilfsmittel, Inanspruchnahme zahnärztlicher Dienste, Ernährungsverhalten, Fluoridnutzung, allgemeingesundheitliche Erkrankungen und Risikofaktoren wie beispielsweise Rauchen und Diabetes mellitus sowie die Inanspruchnahme der sogenannten Professional Healthcare. Zudem wurden in der DMS V – weltweit erstmalig – der Behinderungsgrad und der Pflegestatus bei den Senioren über 75 Jahre ermittelt.
Im Endeffekt gewinnen wir dadurch Erkenntnisse über Einflussfaktoren auf die Mundgesundheit, Erklärungsansätze für Veränderungen in der Mundgesundheit und Auskunft über zukünftige präventive Potenziale, mit denen sich die Mundgesundheit verbessern lässt. Der besondere Wert für völlig neue Erkenntnisansätze durch die Studie liegt also in der Verknüpfung der vorliegenden klinischen Befunde mit den Verhaltensdaten.
Die Daten bestätigen in vielen Punkten das, was Zahnärzte in ihren eigenen Praxen beobachten und was auch die allgemeinen Daten zur Versorgung, zum Beispiel aus dem Abrechnungsgeschehen der vertragszahnärztlichen Versorgung oder den Abrechnungen der Gebührenordnung für Zahnärzte, vermuten ließen: Die Versorgungslage insgesamt ist gut. Gibt es noch Problemlagen?
Oesterreich: Nicht ohne Stolz können wir sagen: Die Mundgesundheit der deutschen Bevölkerung hat sich in den vergangenen 25 Jahren deutlich verbessert. Dies ist auch ein Ergebnis des Paradigmenwechsels weg von der Reparatur hin zur Prävention. Daran haben die Zahnärzte und ihre Teams mit den präventiv ausgerichteten Praxiskonzepten einen wesentlichen Anteil. Aber auch die Einführung der Individual- und Gruppenprophylaxe, die weite Verbreitung fluoridhaltiger Zahnpasten und das allgemein verbesserte Mundgesundheitsbewusstsein sind wesentliche Ursachen.
Herausforderungen gibt es aber nach wie vor. Zwar verbessert sich die Mundgesundheitssituation über alle Bevölkerungsschichten hinweg, aber das Erkrankungsrisiko konzentriert sich immer mehr auf Bevölkerungsschichten in sozial schwierigen Lebenslagen. Insbesondere der Bildungsstand hat großen Einfluss auf die Mundgesundheit.
Ein niedriger Sozialstatus korreliert zum Beispiel eindeutig mit einem stärker beschwerdeorientierten Aufsuchen des Zahnarztes, obwohl in der Bevölkerung insgesamt kontrollorientierte Zahnarztbesuche zugenommen haben.
Die Herstellung von Chancengleichheit im Gesundheitswesen ist eine der wesentlichen Aufgaben in unseren Sozialsystemen. Deswegen engagiert sich die Zahnärzteschaft beispielsweise auch im Rahmen der Gruppenprophylaxe, um über Gesundheitserziehung und Gesundheitsförderung die Prävention zu stärken. Wir sehen an unseren Daten, dass soziale Ungleichheit zu stärkeren Krankheitslasten führen. Somit geht es neben der Verhaltensprävention auch um Aspekte der Verhältnisprävention, welche letztendlich eine Querschnittsaufgabe von Gesundheits-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik darstellt.
Die Bundeszahnärztekammer und die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung als Auftraggeber dieser Studie haben in den vergangenen Jahren mit Konzepten wie „Mundgesundheit trotz Handicap und hohem Alter“ oder dem ECC-Konzept gegen die frühkindliche Karies bereits Handlungsempfehlungen und Strategien vorgelegt, die auch soziale und sozialdemografische Aspekte stark einbeziehen. Wo gibt es nach den Daten der DMS V hier besonders dringenden Handlungsbedarf, beziehungsweise wo könnten diese Konzepte noch verschärft werden?
Oesterreich: Bei den Probanden über 75 Jahre, welche erstmalig in die Untersuchung einbezogen wurden, zeigt sich, dass mit dem Eintritt in die Pflegebedürftigkeit Kariessanierungsgrad und kontrollorientierte Zahnarztbesuche deutlich abnehmen, während Zahnfleischbluten und völlige Zahnlosigkeit zunehmen. Menschen mit Pflegebedarf sind ganz klar auf Hilfe bei der Mundhygiene angewiesen. Die Ergebnisse zeigen also knallhart, dass sich die Mundgesundheit insbesondere mit dem Eintritt in die Pflegebedürftigkeit deutlich verschlechtert.
Eine weitere Erkenntnis: Zukünftig werden sich die Erkrankungslasten sehr viel stärker in das höhere endständige Lebensalter verlagern. Dieser Effekt, die sogenannte Morbiditätskompression, zeigt auf, dass die spezifischen Aspekte der Alterszahnmedizin eine weitere wachsende Bedeutung für die tägliche Praxis erfahren. Dabei bieten insbesondere die präventiven Potenziale in der Zusammenarbeit mit den Pflegekräften und pflegenden Angehörigen eine deutliche Chance, Lebensqualität und Mundgesundheit zu verbessern.
Mit dem sogenannten AuB-Konzept hatten Wissenschaft, BZÄK und KZBV Lösungen erarbeitet, um die Rahmenbedingungen für die zahnärztliche Versorgung dieser Patientengruppe deutlich zu verbessern. Zunehmend werden die zahnärztlichen Praxen gefordert, sich diesen Patienten anzunehmen und Strukturen für die Versorgung zu entwickeln. Gleichzeitig ist es notwendig, bei den Pflegeberufen die Kompetenzen für die Mundhygiene zu erhöhen – ein wichtiger Punkt bei der anstehenden Novellierung der Pflegeausbildung. Es gibt bereits Informationsangebote wie die zwölf Erklärfilme auf YouTube mit Tipps für die Mundpflege bei Menschen mit Pflegebedarf, die die BZÄK gemeinsam mit dem Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP) entwickelt hat. Die Klickraten sprechen dafür, dass wir mit den Filmen einen Nerv getroffen haben.
Auch erfährt die interdisziplinäre Zusammenarbeit des Zahnarztes mit anderen Arztgruppen in dieser Lebensphase eine höhere Bedeutung. Und nicht zuletzt werden auch ethische Fragestellungen für den Zahnarzt eine höhere Bedeutung erfahren. Ich denke hier beispielsweise an die schwierige Frage, gerade in den höheren Lebensphasen eines Menschen verschiedene Gesundheits- und Versorgungsziele gleichzeitig miteinander konfliktfrei zu verbinden. Die Einrichtung eines Ethikrats wird von der BZÄK derzeit vorbereitet.
Welche Ergebnisse haben Sie und die Autoren überrascht?
Oesterreich: Positiv überrascht haben uns die Entwicklungen zu den Parodontitisprävalenzen. So hat sich nicht nur die schwere Parodontitis bei Erwachsenen und Senioren halbiert, sondern gleichzeitig nahm auch die Patientengruppe ohne oder mit nur milder Parodontitis sehr deutlich zu.
Allerdings stellt uns diese Dynamik der Erkrankungslasten in einem relativ kurzen Zeitraum von neun Jahren vor Erklärungsprobleme. Denn die wesentlichen Risikofaktoren wie Rauchen und Diabetes mellitus haben sich in diesem Zeitraum für die betrachteten Patientengruppen kaum verändert. Auch häufiger durchgeführte Parodontitistherapien sind keine hinreichende Erklärung.
Trotz der sinkenden Prävalenzen bleibt die Parodontitis eine Volkskrankheit. Eine Novellierung der Parodontitistherapie im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung unter Einbezug der UPT ist aus unserer Sicht notwendig. Vor diesem Hintergrund ist es notwendig, sehr genau nach den Ursachen der gesunkenen Prävalenzen zu suchen, um die richtigen präventiven und therapeutischen Ansätze zu fördern.
Mögliche Ursachen zeigen die sozialwissenschaftlichen Ergebnisse der DMS V. So hat sich das Mundhygieneverhalten der deutschen Bevölkerung kontinuierlich von der dritten über die vierte bis zur fünften Mundgesundheitsstudie verbessert. Dabei werden Hilfsmittel für die Zahnzwischenraumhygiene und Mundspüllösungen häufiger genutzt. Auch das kontrollorientierte Inanspruchnahmeverhalten erreicht bevölkerungsweit heute mehr als 80 Prozent. Gleichzeitig gibt es eine klare statistische Korrelation zwischen der Nutzung der Professionellen Zahnreinigung und der Senkung der schweren Parodontitis. Darüber hinaus liegt die sogenannte Selbstwirksamkeitsüberzeugung – Ist der Patient selbst überzeugt, viel für seine eigene Mundgesundheit tun zu können? – zwischen 70 und 86 Prozent in den verschiedenen Altersgruppen. Dies zeigt, dass generell die sogenannte Dental Awareness in der deutschen Bevölkerung deutlich zugenommen hat.
All diese Aspekte lassen zumindest die These zu, dass auch die Parodontitis sehr viel stärker als bisher angenommen durch das Verhalten des Patienten beeinflusst wird.
Gleichzeitig sehen wir die Ergebnisse der DMS V als Bestärkung für die Initiative der BZÄK, in einer bevölkerungsweiten Kampagne das Krankheitswissen über die Parodontitis zu verbessern. Diese Kampagne soll bei den Patienten die Risikowahrnehmung für Parodontitis verbessern. Entscheidend ist, dass bei einer Novellierung der Parodontitistherapie der notwendige Gesprächsanteil zur Aufklärung und Motivation des Patienten erhöht wird.
Hier zeigt sich sehr deutlich der Wert der sozialwissenschaftlichen Daten der DMS V als wichtige Grundlage für die weitere Ausgestaltung von präventiven und therapeutischen Konzepten.
Erstmals wurde bei einer DMS-Studie auch das Thema Salutogenese aufgegriffen. Was war hier der Zweck, und was ist diesbezüglich herausgekommen?
Oesterreich: In der Tat, mit diesem großen Thema hat sich die Zahnmedizin in Deutschland überhaupt noch nicht beschäftigt. Das ist eigentlich erstaunlich, wenn man sich die internationale Forschungslandschaft dazu anschaut, wo dieses spannende medizinsoziologische Konzept mit der zentralen Frage nach den verhaltensbezogenen Schutzfaktoren („Was erhält gesund?“) immer wieder aufgegriffen wird.
Mit der DMS V haben wir erstmals empirische Daten zu dieser Fragestellung. Und diese zeigen sehr schön, wie stark die Salutogeneseorientierung eines Menschen auch mit Fragen der Mundhygiene und des Inanspruchnahmemusters korreliert. Der „Sense of Coherence“ (SOC) scheint danach eine innere Steuerungswirkung auszuüben; ein Befund, der uns „Präventionsleuten“ auch ganz neue Ansatzpunkte der mundgesundheitsbezogenen Kommunikation – sowohl in der Zahnarztpraxis als auch bei bevölkerungsweiten Aufklärungskampagnen – ermöglicht.
Sie sind selbst in Ihrer Praxis in Stavenhagen tätig. Welchen Nutzwert ziehen Sie und können Zahnärzte für ihre eigene Tätigkeit aus diesen Daten ziehen?
Oesterreich: Zum einen fühle ich mich durch die Ergebnisse der DMS V in meinen eigenen klinischen Erfahrungen bestätigt. Prävention mit konsequenter Aufklärung des Patienten über die Möglichkeiten wirkt.
Die richtige Ansprache des Patienten auch im Rahmen der PZR bringt nachhaltige Verhaltensänderungen. Der Patient erwartet dies heute von seinem Zahnarzt. Die regelmäßige Kontrolle und weniger Füllungstherapie stehen im Mittelpunkt.
Die Daten geben ein bundesweites Durchschnittsprofil der Morbidität und der Versorgungsanforderungen wieder. Die benannten Herausforderungen hinsichtlich des demographischen Wandels und der Polarisierung der Erkrankungsrisiken sind in meiner Region besonders relevant. Diesem Versorgungsauftrag zu entsprechen, ist unter den Bedingungen des ländlichen Raums eine besondere Herausforderung. Mag sein, dass ich dafür besonders sensibilisiert bin und auch mit ein wenig Sorge auf die zum Teil mangelnde Bereitschaft der jüngeren Generation, sich diesen Herausforderungen zu stellen, schaue. Aber: Wir müssen unseren Praxisalltag darauf ausrichten. Die DMS V ist eine sehr gute Grundlage, sich in der Ausgestaltung seiner Praxis auf die demographischen Veränderungen mit der notwendigen Mobilität einzustellen. Auch ist es aus meiner Sicht und meinen eigenen Praxiserfahrungen notwendig, sich der sprechenden Zahnmedizin, besonders im Hinblick auf die Parodontitisprävalenzen, zuzuwenden. Wir müssen den Blick auf die Lebensumstände und die Herausforderungen des Alters unserer Patienten richten.
Insbesondere die sozialwissenschaftlichen Ergebnisse in der DMS V helfen uns, zu verstehen, dass die Aussage von Rudolf Virchow „Medizin ist eine soziale Wissenschaft“ nach wie vor gilt.
Prof. Dr. Dietmar Oesterreich (60) studierte Zahnmedizin an der Universität Rostock, 1981 erhielt er die Approbation. Nach dem Studium war er in der Poliklinik für Stomatologie des Kreiskrankenhauses Malchin tätig, 1988 erfolgte die Promotion zum Dr. med. Seit 1. Februar 1991 ist er in eigener Praxis in Stavenhagen niedergelassen. Im April1990 wurde Oesterreich zum ersten Präsidenten der neu gegründeten Zahnärztekammer Mecklenburg-Vorpommern gewählt, dieses Amt hat er bis heute inne. 2000 wurde er als Vizepräsident in den Geschäftsführenden Vorstand der Bundeszahnärztekammer gewählt und in den Jahren 2004, 2008 und 2012 in diesem Amt bestätigt. Im September 2011 wurde er an der Universität Greifswald zum Professor ernannt. Arbeitsschwerpunkte in der BZÄK sind unter anderem die präventive Zahnheilkunde, Öffentlichkeitsarbeit, Patientenberatung und Wissenschaft und Forschung. Oesterreich ist Mitglied des Vorstandsausschusses des IDZ.