Dr. Wolfgang Bender und Lothar Taubenheim zu Patientenrechtegesetz und Patientenentscheidung (Teil 1)
Im Rahmen des Patientenrechtegesetzes (Paragraf 630 BGB) ist vorgegeben, dass der Patient „über sämtliche für die Einwilligung wesentlichen Umstände aufzuklären ist. Dazu gehören (...) zu erwartende Folgen und Risiken der Maßnahme sowie ihre Notwendigkeit, Dringlichkeit, Eignung und Erfolgsaussichten. Bei der Aufklärung ist auch auf Alternativen zur Maßnahme hinzuweisen, wenn mehrere medizinisch gleichermaßen indizierte und übliche Methoden zu wesentlich unterschiedlichen Belastungen, Risiken oder Heilungschancen führen können.“ Dies trifft auch auf die Schmerzausschaltung vor zahnmedizinischen Behandlungen zu.
In den vergangenen 25 Jahren hat der medizintechnische, wissenschaftliche und klinische Fortschritt Ergänzungen der dentalen Schmerzausschaltung verfügbar gemacht, die gegebenenfalls mit dem Patienten zu thematisieren sind, zum Beispiel die Lachgassedierung und die intraligamentäre Anästhesie (Einzelzahnanästhesie).
Kurzzeitbetäubung einzelner Zähne
Die intraligamentäre Anästhesie (ILA) ist eine Lokalanästhesie-Alternative, die eine Kurzzeitbetäubung einzelner Zähne ermöglicht (Einzelzahnanästhesie). Weitgehend alle Maßnahmen der Zahnerhaltung und auch alle Zahnextraktionen können unter ILA durchgeführt werden (Erlemeier E-M, 1991; Giovanitti JA und Nique TA, 1983; Heizmann R und Gabka J, 1994). Bei der intraligamentären Anästhesie breitet sich das unter Druck in den Sulcus gingivalis injizierte Anästhetikum intraossär und auch zu einem kleineren Teil entlang der desmodontalen Strukturen aus (Abbildung 1). Die Injektionslösungen treten sehr schnell über die Fensterungen der Lamina cribrosa in den vaskularisierten Alveolarknochen über und erreichen in kurzer Zeit die Wurzelspitze (Garfunkel et al., 1983; Glockmann E und Taubenheim L, 2002; Glockmann E und Taubenheim L, 2010; Smith GN und Walton RE, 1983; Tagger et al., 1994).
Als Lokalanästhesie-Methode ist die intraligamentäre Anästhesie indiziert bei der Extraktion einzelner Zähne, dem häufigsten chirurgischen Eingriff in der zahnärztlichen Praxis und der ältesten in der Literatur beschriebenen Indikation (Bourdin C-L, 1925; Chompret L, 1920; Schwenzer N und Ehrenfeld M, 2000).
Die intraligamentäre Anästhesie ermöglicht auch eine ausreichend tiefe Anästhesie vor Kavitäten- und Kronenpräparationen (Glockmann E und Taubenheim L, 2002; Zugal W und Taubenheim L, 2008). Wegen der minimalen Beeinträchtigung wird die ILA für die Behandlung von Kindern international empfohlen (Brännström M et al. 1984; Davidson L und Craig S, 1987; Einwag J, 1982).
Observationsstudie der LMU München
In einer klinischen Observationsstudie – unter wissenschaftlicher Leitung des Klinikums für Zahn-, Mund- und Kieferkrankheiten der Ludwig-Maximilians-Universität München – sollte festgestellt werden, für welche Möglichkeit der Schmerzausschaltung der Patient sich entscheidet, wenn er über mögliche Alternativen vollständig aufgeklärt ist: Erfolgschancen, Risiken, Belastungen.
Die relevanten Daten der zahnärztlichen Behandlung im Zusammenhang mit der jeweils angezeigten Lokalanästhesie wurden vollständig systematisch erfasst und pseudonymisiert ausgewertet.
Es wurden keine neuen Produkte oder Injektionssysteme angewandt. Die Patienten mussten sich keinem Methoden-Vergleich unterziehen, es wurden nur – nach Aufklärung des Patienten über Risiken und Alternativen und entsprechend seiner Entscheidung – die Effekte der durchgeführten Lokalanästhesien observiert und dokumentiert.
Ob die Behandlung unter Leitungs- respektive Infiltrations- oder intraligamentärer Anästhesie erfolgte, lag ausschließlich in der Entscheidung der Patienten. Vor dem Hintergrund der juristisch erforderlichen Thematisierung mit dem Patienten der Risiken der angezeigten Lokalanästhesie und der Alternativen (Kaltenbach M et al, 2006; OLG Koblenz, 2004; Stöhr KH, 2004; Taubenheim L und Glockmann E, 2006) war die Frage zu beantworten, ob die intraligamentäre Anästhesie als primäre Methode der Lokalanästhesie alle Anforderungen an eine weitgehend vollständige und patientenschonende zahnärztliche Lokalanästhesie-Methode erfüllen kann (Csides M et al., 2011; Dirnbacher T, 2002; Dirnbacher T, 2003; Frenkel G, 1998; Smith GN et al., 1983).
Für die Leitungs- und die Infiltrationsanästhesien kamen handelsübliche Aspirationsspritzen und systemadaptierte Kanülen zur Anwendung, wenn diese Lokalanästhesiemethoden von den Patienten ausdrücklich gewünscht wurden.
Wenn die Einzelzahnanästhesie vom Patienten gewünscht wurde, kamen für die intraligamentalen Injektionen die Dosierrad- oder Dosierhebelspritze (Abbildung 2 und 3) und systemadaptierte Kanülen zur Anwendung. Bei diesen ILA-Spritzen erfolgt der Druckaufbau über einen Dosierhebel oder ein Dosierrad und gibt dem Behandler bei der Injektion die Möglichkeit, den Gegendruck des Gewebes direkt in seinem Daumen (oder Zeigefinger) zu spüren (Csides M, 2009; Marshall M, 2001).
Als Anästhetikum wurde sowohl für die intraligamentäre Anästhesie als auch gegebenenfalls für die Leitungs- und die Infiltrationsanästhesie 4-prozentige Articainhydrochlorid-Lösung mit Epinephrin (Adrenalin) 1:200.000, zum Beispiel Ultracain D-S beziehungsweise Septanest 1/200.000, festgelegt (Gray RM et al., 1987).
Konsens mit dem aufgeklärten Patienten
Mit jedem Patienten wurden alle Aspekte der anstehenden Behandlung, ihre Risiken sowie die in Betracht kommenden Alternativen thematisiert (Bluttner A und Taubenheim L, 2009; OLG Koblenz, 2004; Stöhr KH, 2004; Taubenheim L und Glockmann E, 2006). Dies traf auch auf die Schmerzausschaltung zu. Nur bei Konsens mit dem aufgeklärten Patienten kam die vom Behandler in Betracht gezogene Anästhesiemethode zur Anwendung (Glockmann E und Taubenheim L, 2010; Kaltenbach M et al., 2006). Die Anwendung der Lokalanästhesie-Methoden erfolgte gemäß den gelehrten Empfehlungen (Csides M et al., 2009; Csides M et al., 2011; Glockmann E und Taubenheim L, 2002; Glockmann E und Taubenheim L, 2010; Schwenzer N und Ehrenfeld M, 2000).
Die im Studiendesign definierten klinischen Anwendungen wurden alle über einem Zeitraum von drei Monaten (60 Behandlungstage – mindestens 150 Fälle, die unter Lokalanästhesie durchzuführen waren) auf einem standardisierten Erfassungsbogen dokumentiert. Die Auswertung der relevanten Daten erfolgte in pseudonymisierter Form. Zur Beantwortung der festgelegten Fragestellung wurden die erfassten (dokumentierten) Daten unter statistisch relevanten Kriterien ausgewertet (Langbein A, 2011).
Die Dokumentation der Behandlungen wurde unterteilt in
- zahnerhaltende Therapien
- Parodontitistherapie – geschlossenes Vorgehen
- Extraktionen
- lang dauernde, großflächige chirurgische Maßnahmen.
Das Patientengut der Observationsstudie setzte sich aus 52 Männern mit einem Durchschnittsalter von 37,3 Jahren (6 bis 75 Jahre) sowie 63 Frauen mit einem Durchschnittalter von 37,7 Jahren (11 bis 80 Jahre) zusammen. Von den insgesamt 115 Patienten wurden nach erfolgter Erhebung der Anamnese acht als Risikopatienten bewertet, von denen zwei jeweils zweimal (in zwei Sitzungen) behandelt wurden. Mit Ausnahme eines Falls (Patient 1788) erfolgten alle Behandlungen der Risikopatienten unter intraligamentärer Anästhesie; auf Wunsch des Patienten 1788 erfolgte die Behandlung in diesem Fall unter Infiltrationsanästhesie.
Ausschlusskriterien
Ausschlusskriterien für die unter Lokalanästhesie zu behandelnden Patienten waren nicht gegeben (Endokarditispatienten, bei denen die intraligamentäre Anästhesie kontraindiziert ist, und Patienten unter Antikoagulantienbehandlung, bei denen die Leitungsanästhesie kontraindiziert ist [Glockmann E und Taubenheim L, 2002; Schwenzer N und Ehrenfeld M, 2000; Stoll P und Bührmann K, 1983; Stoll P et al., 1986]).
In allen Fällen wurde mit den Patienten vor der angezeigten Behandlung auch die Frage thematisiert, ob die Behandlung unter Schmerzausschaltung erfolgen sollte und welche Methode gegebenenfalls anzuwenden sei. Nach erfolgter Aufklärung der Risiken der in Betracht kommenden Lokalanästhesie-Methode und alternativen Möglichkeiten der Schmerzausschaltung entschieden sich die 115 Patienten für die 160 anstehenden Behandlungen in 136 Fällen (85 Prozent) für die intraligamentäre Anästhesie und in 24 Fällen (15 Prozent) für die konventionellen Lokalanästhesie-Methoden Infiltrations- oder Leitungsanästhesie.
Dr. med. dent. Wolfgang Bender, Düsseldorf
Lothar Taubenheim, Erkrath
(wird fortgesetzt)
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