Ich finde Zähne süß, auch Milchzähne. Ist so. Trotzdem sollten für mich putzige Zahndinge meine Sprache nicht dominieren und notorisch verniedlichen. Das gehört sich nicht. Das ist bäh.
An jedem Milchzahn hängt ein Kind – die schlimmste Kombination des Verniedlichungsrauschs. „Du hast ja süße Zähnchen!“ „Jetzt kommen der ‚Schlürfi‘ (Speichelzieher) und der kleine ‚Bagger‘ (Rosenbohrer).“ „Mit den Zaubertropfen schläft der Zahn. Zuerst kommt aber die Marmelade (Oberflächenanästhesie) auf das rosa Zahnfleisch.“
Im Feenland mit Zaubertropfen, Flauschewatte und Kuchenförmchen
Plötzlich befinde ich mich im Feenland voller Magie und bunten Einhörnern – bunte Einhörner sind ja jetzt voll im Trend. Das kommt mir zugute. Mit „Zaubertropfen“ (lokale Anästhesie) und „Zaubergas“ (Lachgas) habe ich das Gefühl, entweder die gute weiße Fee oder am Ende die blutverschmierte böse Hexe zu sein – hängt vom Kind und den Eltern ab. Obwohl ich nur Gutes im Sinn habe und lediglich etwas gegen die bösen, bösen Zahnschmerzen tun möchte, bin ich trotzdem zu oft die böse Hexe mit der Zange. Auf einmal sind Zähnchen nicht mehr süß, sondern pfui. So schnell ändert sich der Blickwinkel.
Meine Babysprache bleibt. Auch fernab der Arbeit. „Mäuschen“ heißt mein neun Jahre alter, träger Kater und mein Knapp-zwei-Meter-Freund muss mit „Häschen“ klarkommen. So schlimm ist es schon.
Wollte ich auf einmal Erwachsene behandeln, dann brauchte ich auf jeden Fall einen Antiputzig-Deutschkurs. Es wirkt etwas deplatziert, wenn einer 80-jährigen Dame das „Protheslein“ eingesetzt wird und man sich über ihre zwei süßen „Telesköpchen“ im Unterkiefer unterhält. Das ist unprofessionell und unglaubwürdig.
Da ich psychisch und geistig durchaus noch voll da bin und auch diesen Eindruck erwecken will, muss ich oft meinen Verniedlichungsknopf deaktivieren. Auch bei Eltern kommt es nur bedingt gut an, wenn man eine Diagnose und verschiedene Therapiemöglichkeiten nüchtern erklären möchte, ohne dass Wörter wie „Flauschewatte“ (Watterolle), „Prinzessinnenkrone“ (Stahlkrone) oder „Kuchenförmchen“ (Matrize) fallen.
Kompetenz Kindersprache
Doch wenn mein Gehirn ständig aktiv zwischen präzisem Hochdeutsch und Kinder-Feen-Deutsch wechseln muss, betrachte ich dies als Kompetenz. Ich habe eine neue Sprache gelernt. Sie kann sich mit Dialekten durchaus messen und kommt in die Sprachenspalte meines Lebenslaufs.
Im Endeffekt ist die zahnärztliche Kindersprache eine Bildsprache, die nicht nur die Phantasie meiner kleinen Patienten weckt. Sie öffnet auch mir magische Tore. Mein Gehirn muss trostlose Materialien und beängstigende Geräte zu Wohlfühlzahnhelfern umbenennen. Kalte Hochgeschwindigkeitsbohrer sollen zu angstfreien Dingen werden, mit denen das Kind etwas Positives oder zumindest Neutrales verbindet. Die Kreativität ist hier grenzenlos. Mein Gehirn leistet dabei Hohes.
Wenn ich meine kleinen Patienten gedanklich ans Händchen nehme, ihnen meine Zahnzauberwelt Schritt für Schritt erkläre und so ihre Furcht vor der Zahnrealität verschwindet, dann verleihe ich mir die Goldmedaille. Auf der steht: „Du warst gut!“. Soll heißen: Ich kann ruhig stolz auf mich sein, dass ich mich in das Kind hineinversetzen und erfolgreich in seiner Welt Zähne heilen kann. Das kann nicht jeder. Folglich sollte es mich langfristig auch nicht nerven, dass ich nach Arbeitsende manchmal nicht aus der Kinderwelt herauskomme.
Es ist eine Zusatzqualifikation zum einen und pure Lebensfreude zum anderen. Seine kindliche Seite zu bewahren, hat noch niemandem geschadet. Dann heißt mein alter Kater halt „Mäuschen“. Kosenamen für Dinge, die man gernhat, zeigen Zuneigung und Emotion – auch Verniedlichungsformen gehören dazu. Dann habe ich halt Zähnchen gern. Das zeigt mir, dass ich meinen Beruf mag. Wofür sollte ich mich also schämen?
Natürlich ist Übertreibung nicht gesund. Das Gleichgewicht zwischen innerem Kind und Erwachsenem muss stimmen, sonst ende ich entweder in der Psychiatrie oder bei der Agentur für Arbeit. Macht beides keinen Spaß. Von der guten Fee zur bösen Zahnhexe zu mutieren, darf mein Gleichgewicht nicht schwächen. Das gehört zu meiner Zauberwelt dazu. Ich habe das Privileg, all das zu sein, was mein kleiner Patient in mir sehen möchte. Mit etwas Kreativität darf ich seine Wahrnehmung lenken und mitgestalten. Im Grunde eine tolle Sache.
In diesem Sinne: Liebe Kollegen, seid stolze Zahnmagier und Füllungsfeen!
(Anm. d. Red.: Diese Kolumne ist zuerst in der August-Ausgabe 2017 der DZW iNPUT! erschienen.)