Kolumne: Beobachtungen aus dem Praxisalltag von Dr. Consuela Codrin
Die Zukunft ist jetzt, Vergangenes bleibt aktuell und jetzt ist … jetzt. So oder ähnlich soll uns bewusst werden, dass nur der Moment zählt. Die Vergangenheit ist Gesetz, die Zukunft eine Hypothese. Was die Gegenwart anbelangt, denke ich da an Wasser. Es fließt und ist nicht aufzuhalten. Du kannst nichts dagegen tun, es geht einfach weiter.
Entweder du baust dir ein Floß und genießt die Stimmungen der Strömung im Sicheren, oder du stürzt dich wie ein lebenskranker Psychopath in die Tiefen des Unbekannten. So oder so, das Wasser bestimmt, was mit dir passiert.
Es ist Dezember. Das Jahr neigt sich dem Ende zu. Im Kopf bin ich schon eng befreundet mit der Vier dahinter. Meine Finger wickeln ruhig die Zahnseide um sich, damit sich 55 und 16 in einem fremden Mund wieder anglänzen können. Meine Stimmung kaut die vergangenen elf Monate durch. Drei Welten, und keine passt zur anderen. Ist das jedes Jahr zur gleichen Zeit so? Ein Tagebuch wäre hier wertvoll.
Die Zukunft ist ein Einhorn
Ich erkläre, mache, tue aus einem Automatismus heraus. Die Gegenwart läuft auf Autopilot. Ich bin der Floßtyp. Ich stecke mir ein Cocktailschirmchen ins Haar, lege mich auf die Holzbalken und schließe die Augen. Wenn die Wellen kommen, halte ich mein Cocktailschirmchen fest, und wenn ich ruhig dahingleite, dann schalte ich auf Autopilot. Viele Plätze sind nun frei in meinem Hirn.
Umso schneller werden sie aber belegt – von der Vergangenheit und von der Zukunft. Um Aktuelles geht es nie. Aktuelles ist langweilig, Aktuelles ist so real. Reales kann man nicht ausschmücken, übertreiben oder anders gestalten – es ist, wie es ist. Nur um gleich stabile Vergangenheit zu werden, die unveränderbar ist. Die Zukunft ist ein Einhorn – du stellst dir bewusst Dinge vor, die nicht echt sind und wahrscheinlich auch nicht passieren werden. Ein überschwängliches Glücksgefühl. Diese rosa Zuckerwattewolke voller Möglichkeiten, Träume und unendlichem Optimismus scheint endlos und ewig zu dauern.
Zitternde Azubihand
Der Zwischenraum von 55 und 16 ist nun wie frisch geschlüpft. Die rosa Wolke im Kopf bleibt, die Stimmung steckt im letzten Monat fest. Keine Ahnung, was „im Hier und Jetzt“ bedeutet. Ich verstehe diese Phrase, aber ich fühle sie nicht. Ich strenge mich an, den Autopiloten auszuschalten, um etwas Neues in meinem Jetzt zu finden. Ein paar neue Augen sehen mich an, der Pullover der Patientin ist süß, ihr Kuscheltier ist eine undefinierbare Regenbogenspezies mit Tigerstreifen.
Ihre Mutter auf dem Gästestuhl neben mir an der Wand starrt auf ihr Handy, und meine helfende Hand ist eine zitternde Azubihand. In meinem Kopf wird die rosa Wolke immer größer und flauschiger. Die Patientin dreht sich plötzlich wild zu ihrem Kuscheltier. Ich halte mein Cocktailschirmchen fest und sitze die Welle aus. Wieder stilles Gewässer, wieder Autopilot.
Das Jahresende naht und somit auch die Feiertage. Mit Silvester beginnt etwas Neues, etwas Hoffnungsbringendes – zumindest in der Theorie. Diese Theorie ist meine rosa Flauschwolke, die gegen Ende des Jahres sehr viel Raum einnimmt. Zu Weihnachten wird sie am größten.
Ein Jahr ist lang und bringt einen aus der Puste, egal wie schön und erfüllend die Arbeit auch sein mag. Auch der Autopilot kann in Summe anstrengend sein, und noch anstrengender ist es, je öfter und länger man sein Cocktailschirmchen im Laufe der vielen Monate festhalten muss.
Ab 1. 1. wird alles anders
Manchmal kommt schon im November der Gedanke, ob man nicht endlich zum lebenskranken Psychopathen werden soll, der sich ungestüm aufregend und abenteuerlich im Wasser windet. Das Neue lockt. Auf der Zuckerwattewolke sieht ein neues Ich in einem neuen Jahr so fabelhaft und unbesiegbar aus. Tausche Floß gegen Psychopathen. Ab 1. 1. wird alles anders, werde ich anders. Die Vergangenheit wird mich nicht mehr einholen, der Autopilot wird deinstalliert und die rosa Wolke ist nur was für Einhörner. Alles wird umstrukturiert. Das große Problem an dieser Veränderung: Ich kann mich von meinem altgewohnten Cocktailschirmchen nicht trennen. Das wäre zu viel für mich.
Dr. Consuela Codrin, Kelheim
Dr. Consuela Codrin
Dr. Consuela Codrin ist langjährige Fachjournalistin, Kolumnistin und Kinderzahnärztin. Sie liebt das Wort, das Bild und Details. In Kelheim lebt und arbeitet sie. Kontakt per E-Mail an info@consuela-codrin.net