Weltweit kommt eines von 500 Neugeborenen mit einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte zur Welt. Sie ist damit eine der häufigsten angeborenen Fehlbildungen. Die Behandlung ist komplex und langwierig, in der Regel sind mehrere Operationen im Säuglings- und Kindesalter nötig.
Eine Arbeitsgruppe der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) hat nun im Auftrag des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) untersucht, ob die Behandlungsergebnisse besser oder schlechter ausfallen, wenn vor der ersten Operation die Nasoalveolar-Molding-Methode (NAM) angewendet wird: Dabei soll eine individuell angefertigte Kieferplatte mit Nasenelement (Nasensteg) den Spalt mittels Druck- und Zugkräften verkleinern, um die Ausgangslage für die OP zu verbessern.
Wie die Wissenschaftler der MHH feststellen, gibt es bisher keine klinischen Studien, die belastbare Aussagen zu Nutzen und Schaden der NAM zulassen, teilt das IQWiG mit. In den wenigen verfügbaren Studien würden wichtige Einflüsse auf das Behandlungsergebnis, wie Unterschiede zwischen den Behandlungsgruppen nach Alter bei erster OP und nach Schwere der Deformation, nicht ausreichend berücksichtigt. Stellungnahmen zum Entwurf dieses HTA-Berichts im Rahmen von ThemenCheck Medizin sind bis zum 25. März 2019 möglich.
Normale Entwicklung ermöglichen
Ziel der Behandlung sei es, die Fehlbildung zu korrigieren und wichtige, von ihr abhängige Funktionen wie beispielsweise Ernährung, Atmung, Sprechen und Gehör zu normalisieren sowie eine Symmetrie des Gesichts zu erreichen. Damit wollten die Ärzte die Voraussetzung dafür schaffen, dass sich die betroffenen Kinder und Jugendlichen körperlich und sozial möglichst normal entwickeln könnten.
Behandlung ist komplex und langwierig
Ein allgemein anerkanntes Behandlungskonzept, wie es sich üblicherweise unter anderem in medizinischen Leitlinien niederschlägt, gebe es aktuell nicht. Häufig würden die Ärzte die Lippe bei Kindern im Alter von etwa drei bis sechs Monaten operativ verschließen. Vor dem Eingriff versuchten sie gegebenenfalls mittels NAM die Schwere der Deformation zu reduzieren. Um die Sprachentwicklung nicht zu behindern, werde der Gaumen in der Regel erst im Alter von neun bis achtzehn Monaten verschlossen, mit sechs bis elf Jahren folge eine Korrekturoperation. Habe die NAM-Methode Erfolg, ließen sich gegebenenfalls weitere chirurgische Eingriffe vermeiden.
"Confounder" nicht ausreichend berücksichtigt
Studien mit hoher Aussagesicherheit, also randomisierte kontrollierte Vergleiche zwischen einer Behandlung mit NAM und ohne NAM, gibt es bisher nicht, so das IQWiG. Was die Arbeitsgruppe der MHH gefunden habe, seien vier Studien mit jeweils einer Kontrollgruppe. In diesen werde aber nicht berücksichtigt, dass sich die Kinder mit NAM- und jene ohne NAM-Behandlung unterschieden – etwa im Hinblick auf das Alter bei der ersten Operation (beziehungsweise zu Beginn der Intervention) oder bezüglich der Ausprägung der Spaltbildung. Das könnte die Behandlungsergebnisse beeinflusst haben. Fachleute würden hier von „Confoundern“ (engl., Störgrößen) sprechen, die nicht kontrolliert würden. Aussagen zum Nutzen oder Schaden der NAM lassen nach Auffassung des IQWiG sich aus diesen Studien jedenfalls nicht ableiten.
Aspekte wie Schmerzen, Sprechen oder Atmung fehlen
Ohnehin berücksichtigten diese Studien ausschließlich Parameter zur Gesichtsästhetik, darunter die Symmetrie des Gesichts. Wichtige andere Aspekte würden nicht erhoben. Für Schmerz gelte das ebenso wie für Sprechen, Atmung, Gehör oder die soziale und emotionale Entwicklung. Untersuchungen, welche die Patienten über einen längeren Zeitraum vergleichen würden, gebe es ebenfalls nicht.
Noch keine regelhafte Kassenleistung
In Deutschland gebe es bisher wenige spezialisierte Kliniken, in denen die Ärzte die NAM regelmäßig anwenden würden. Die Mehrkosten in Höhe von 900 Euro bis 1400 Euro würden die gesetzlichen Krankenkassen dabei nicht regelhaft übernehmen.
Die betroffenen Kinder und ihre Eltern müssten zur Kontrolle und Anpassung der NAM-Apparatur zwölf bis sechzehn zusätzliche Termine wahrnehmen. Diese fänden in der Regel in spezialisierten Zentren statt, je nach Wohnort könne das längere Anreisen mit sich bringen.
Weitere Forschung nötig
Einige Experten seien der Auffassung, der Nutzen der NAM sei bereits erwiesen. Allerdings berufen sie sich auf Studien, deren Ergebnisse nicht hinreichend aussagekräftig sind, so das IQWiG. Die Arbeitsgruppe der MHH konstatiere in ihrem Berichtsentwurf erheblichen Forschungsbedarf und fordere Studien mit hoher Aussagesicherheit. „Es ist bedenklich, dass eine Intervention, die die Situation von Kindern mit einer häufigen angeborenen Fehlbildung verbessern soll, nicht ausreichend in Studien geprüft wurde“, kommentiert IQWiG-Projektleiterin Sarah Thys den Befund der MHH-Autorengruppe.
Thema von Bürgern und Patienten vorgeschlagen und mit ausgewählt
Zu den Besonderheiten von ThemenCheck Medizin gehört, dass die Fragestellungen der Berichte immer auf Vorschläge aus der Bevölkerung zurückgehen. Das IQWiG sammelt diese und ermittelt in einem zweistufigen Auswahlverfahren pro Jahr bis zu fünf Themen, zu denen HTA-Berichte erstellt werden. Dabei wird die Bürger- und Patientensicht einbezogen. Diese HTA-Berichte werden nicht vom IQWiG verfasst. Das Institut beauftragt externe Sachverständige mit der Berichterstellung, fungiert als Herausgeber und prüft, ob die Ergebnisse gemäß seinen wissenschaftlichen Methoden erarbeitet wurden.
IQWiG bittet um Stellungnahmen und Themen-Vorschläge
Interessierte Personen und Institutionen können bis zum 25. März 2019 schriftliche Stellungnahmen zum vorläufigen Basisbericht „NAM bei Lippen-Kiefer-Gaumenspalte“ beim IQWiG einreichen. Diese werden gesichtet und gegebenenfalls in einer mündlichen Anhörung mit den Stellungnehmenden diskutiert. Danach wird der Basisbericht finalisiert. Außerdem schreiben die Autoren eine allgemein verständliche Version, und das IQWiG ergänzt das Paket um einen Herausgeberkommentar. Alle Dokumente werden auf der Website ThemenCheck-medizin.iqwig.de veröffentlicht sowie an den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) und das Bundesgesundheitsministerium (BMG) übermittelt.
• Unabhängig von diesem dritten HTA-Bericht ist es jederzeit möglich, Vorschläge für neue Themen einzureichen. Sie werden in der nächsten Auswahlrunde begutachtet, die im August 2019 beginnt.
Quelle: idw