Die Auswirkungen der SARS-CoV-2/Covid-19-Pandemie auf die Zahnmedizin in Deutschland sind schon jetzt verheerend. Neben der großen Sorge im Zusammenhang mit möglichen Infektionen durch die Arbeit am Patienten gesellt sich zunehmend die wirtschaftliche Unsicherheit. Auch der Hochschulbetrieb ist schon heute stark eingeschränkt.
Im Interview schildert der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK), Prof. Dr. Roland Frankenberger, Direktor der Abteilung für Zahnerhaltungskunde am Medizinischen Zentrum für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (ZMK) der Philipps-Universität Marburg, die sich überschlagenden Entwicklungen an seiner Uni und bezieht in seinen Perspektiven auch den gesamten Berufsstand mit ein.
Welche Auswirkungen hat die SARS-CoV-2/Covid-19-Pandemie im Bereich der Marburger Universitätszahnmedizin bei der Versorgung der Patienten?
Prof. Dr. Roland Frankenberger: Seit 16. März findet bei uns nach Anordnung unserer Krankenhaushygiene nur noch die Behandlung von Schmerz- und Notfällen statt. Im Prinzip ist dieser Service nur für unsere hauseigenen Patienten gedacht, die primär in der Ambulanz und im Studentenkurs behandelt werden.
Da wir bislang traditionell keinen Versorgungsauftrag haben, sind wir im Moment auch (noch) nicht erste Anlaufstelle für alle mit SARS-CoV-2 infizierten Fälle, aber das wird sich vermutlich noch ändern – eine von im Moment vielen Vermutungen, die wir anstellen. Wichtig ist für uns zu allererst eine gute telefonische Anamnese der Patienten und auch ein Teil Seelsorge, da viele unserer Patienten durch die Flut an negativen Meldungen sehr verunsichert sind. Notfälle meiner eigenen Patienten behandle ich nach wie vor selbst.
Und welche Auswirkungen sind auf den Hochschulbetrieb, die Lehrveranstaltungen und Prüfungen, wie etwa Staatsexamen, zu verzeichnen?
Frankenberger: Meine erste Erfahrung mit dem Einfluss von Corona war das Staatsexamen in der Zahnerhaltung. Wir hatten alles wie gewohnt durchgeplant, über 100 Patienten waren einbestellt. Mitte März erfuhr ich dann, dass erste Standorte das Examen bereits am Phantom geplant hatten und ich setzte mich daraufhin sofort mit unserem Landesprüfungsamt in Verbindung und schlug vor, das Examen auch bei uns an die Puppe zu verlegen, das erschien mir die vernünftigste Variante zu sein. Das war aber genau die Phase in Deutschland, in der alles sehr schnell ging und sich unaufhaltsam in Richtung Ausgangsbeschränkung bewegte. Langer Rede kurzer Sinn: Wir haben eine Woche ununterbrochen gearbeitet, für 3.000 Euro Kunststoffzähne bestellt, Förmchen für die intraorale Endodontie hergestellt und die Abstände zwischen den Boxen koordiniert – und als wir fertig waren, wurde das Examen ganz abgesagt. Retrospektiv betrachtet war es aber wahrscheinlich besser so.
Momentan können wir für das kommende Sommersemester noch keine realistische Aussage treffen, ich sehe uns jedoch in absehbarer Zeit keine Routinebehandlung im klinischen Studentenkurs durchführen, dazu fehlt mir im Moment die Phantasie. Man könnte sicher erst einmal eine Zeit lang Online-Vorlesungen machen, aber wo ist da der Sinn, wenn diese nicht an eine praktische Ausbildung am Patienten gekoppelt werden können? Sie sehen, das ist im Moment nichts Anderes als „Fahren auf Sicht“, leider bei starkem Nebel.
Aber ich habe es schon einmal öffentlich gesagt: Wir Uni-Leute reden uns im Moment leicht, wir sind vom Staat finanziert, in den Praxen sieht die Situation ganz anders aus, da haben die Ängste – der Mitarbeiter, aber natürlich auch wirtschaftlicher Natur – eine ganz andere Dimension erreicht. Hier bei uns in der ZMK tun mir im Moment am meisten die Studenten leid, da wir Ihnen einfach noch keine gesicherte Auskunft geben können, wie und wann der Laden weiterläuft. Alles Weitere wäre Spekulation, es ist aber kein Geheimnis, dass erste Standorte ernsthaft überlegen, das Sommersemester komplett zu verschieben.
Was jedoch sicher verschoben werden muss, ist der Beginn der neuen Approbationsordnung, deren Start ja für Oktober 2020 terminiert war. Aufgrund nicht einzuhaltender Gremienwege – die Sitzungen fallen ja reihenweise aus –, Doppelkohorten, gefährdeter Ferienkurse und Überlastungen in den Dekanaten ist es eine Illusion, dass das im Wintersemester beginnen kann. Dies haben wir über den Medizinischen Fakultätentag mit einstimmiger Zustimmung aller Standorte bereits angestoßen.
Wie sieht es mit der Versorgung notwendiger Schutzbekleidung und Hygieneartikel aus?
Frankenberger: Wir sind vom Klinikum unter anderem deshalb auf Notbetrieb reduziert, weil man keine Ressourcenverschwendung betreiben möchte, Sie sehen, eine Garantie für ausreichende Schutzkleidung haben wir nicht, aber auch dieser Prozess ist dynamisch, ein gern gebrauchter Begriff ist zurzeit „Stand heute“. Leider.
Wie groß ist der persönliche Stress für Sie und Ihre Mitarbeiter, wie gehen Sie damit um?
Frankenberger: Mein Leben ist im Moment komplett auf den Kopf gestellt, sowohl positiv als auch negativ. Da ich ja durch meine Ehrenämter bei der DGZMK und beim Medizinischen Fakultätentag naturgemäß viel unterwegs bin – alleine pro Jahr ca. 20 Mal in Berlin etc. – ist durch unser Dienstreiseverbot seit 12. März diesbezüglich eine bemerkenswerte Ruhe eingekehrt. Auf der anderen Seite habe ich im Moment täglich viele Stunden Videokonferenzen und Krisenstab-Sitzungen, weil wir uns fast täglich auf neue Situationen einstellen müssen, siehe Staatsexamen.
Ich würde für mich persönlich eigentlich ein ausgeglichenes Stress-Fazit ziehen, das heißt der Stress durch das Reisen ist weg, aber der emotionale Stress durch tägliche Entscheidungen und Hintergrundarbeiten ist natürlich höher als in der „normalen“ Routine, von der auch keiner weiß, wann sie wirklich wiederkommt. Bei meinen Mitarbeitern ist es teilweise anders, man merkt natürlich allerorten die Verunsicherung, gerade auch bei Angehörigen von Risikogruppen. Wir haben gottseidank die Möglichkeit, flexible Urlaubsregelungen zu treffen und Mitarbeiter auch mal ins Home Office zu entsenden. Am wichtigsten – wie immer – ist aber gerade heute eine gute Kommunikation, dass sich alle mitgenommen fühlen, aber glauben Sie mir, das ist nicht immer so einfach in diesen Zeiten. Da ich glücklicherweise ein tolles Team habe, ist die Stimmung alles in allem noch immer sehr gut – ich hoffe, das bleibt möglichst lange so.
Was macht Politik derzeit richtig oder falsch, auch in Bezug auf den Betrieb der ZA-Praxen im Land?
Frankenberger: Realpolitisch sind ja für die Zahnmedizin noch keine effektiven Maßnahmen ergriffen worden – wie kann Herr Spahn in seinem jüngsten Gesetz die Zahnmedizin vergessen? Ich sehe das größte Problem im Moment darin, dass viele Praxisbetreiber im Moment einfach „schwimmen“, zum einen ist man unsicher, ob die Schutzmaßnahmen ausreichend sind, um nicht selbst infiziert zu werden, zum anderen geht die Angst vor großen wirtschaftlichen Problemen um, nicht zuletzt auch weil Patienten mittlerweile häufig aus Angst ihre Termine absagen.
Ich habe mich auch dazu öffentlich bereits geäußert – die Zahnmedizin kämpft seit Dekaden dafür, als medizinisches Fach Anerkennung zu finden und ich bin davon überzeugt, dass uns das wissenschaftlich in allen Subdisziplinen gut gelungen ist, das sogenannte „große M“ in Zahnmedizin hochzuhalten. Das impliziert aber auch, dass wir uns in dieser Krise nicht wegducken dürfen – wir müssen für unsere Patienten da sein. In unserer Klinik möchten wir hier mit gutem Beispiel vorangehen, trotz – noch? – nicht vorhandenem Versorgungsauftrag stehen wir bereit, so lange wir können. Und wenn es ganz schlimm kommt, stehen wir natürlich auch unserem Klinikum als Helfer zur Verfügung.
Das Interview führte Markus Brakel