Gab es im April 2020 weltweit nur etwa zehn dominante Mutationen des Coronavirus SARS-CoV-2, ist ihre Zahl bis zum Frühjahr 2021 rasant angestiegen. Heute sind etwa 100 Mutationen bekannt. Aktuell bereitet Wissenschaftlern vor allem die Variante B.1.617 Sorgen, die zuerst in Indien entdeckt wurde und inzwischen auch Europa erreicht hat. Die britischen Behörden stuften die indische Mutation am 6. Mai als „besorgniserregend“ ein, da sie sich als ansteckender erweise als andere Subtypen. So habe sich innerhalb einer Woche die Ansteckung durch der Mutation mehr als verdoppelt von 520 bestätigen Infektionen auf 1.313. Deshalb solle die Impfkampagne in den von der Mutation betroffenen Regionen im Nordwesten Englands und in London nochmals beschleunigt werden, um die angekündigte komplette Lockerung der Restriktionen in Großbritannien im Juni nicht zu gefährden.
Erlanger Forscher untersuchen Mutationen in zehn Ländern
Eine umfassende Analyse der weltweit auftretenden Mutationen liefert ein Forschungsteam um Dr. Stefanie Weber und Gastprofessor Prof. Dr. Walter Doerfler vom Institut für Klinische und Molekulare Virologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Die Wissenschaftler verfolgten das Auftreten von Virusmutationen und -varianten seit Beginn der Pandemie in definierten Zeitintervallen in zehn Ländern: Großbritannien, Südafrika, Indien, USA, Brasilien, Russland, Frankreich, Spanien, Deutschland und China. Dabei arbeiteten die Erlanger Forscher mit Kollegen von der University of California in Davis/Sacramento und der UCLA Fielding School of Public Health in Los Angeles zusammen. Ihre Studie wurde jetzt in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift EMBO Molecular Medicine veröffentlicht.
Während der ungehemmten Ausbreitung und rapiden Vermehrung von SARS-CoV-2 sind zahlreiche Mutanten und Varianten entstanden. „Dieser Vorgang dauert an und könnte sich trotz Impfung weiterentwickeln, falls es nicht schnell genug gelingt, die Ausbreitung einzudämmen“, sagt Prof. Walter Doerfler. „Es ist aber noch unbekannt, ob die Infektion mit bestimmten SARS-CoV-2-Mutanten mit der Art und der Schwere einer COVID-19-Erkrankung in spezifischer Weise zusammenhängt.“
Weltweit bereits 100 Mutationen nachgewiesen
Bis März 2021 ist die Zahl der Corona-Mutationen rasant angestiegen. Bereits bis Ende Januar 2021 wurden neben den bisher bekannten Virusvarianten (Variants of Concern) aus Großbritannien, Südafrika, Brasilien und Kalifornien/USA weltweit zwischen 70 und 100 neue Mutationen im SARS-CoV-2-Genom nachgewiesen. Mittlerweile kam eine neue Variant of Concern hinzu: „Ende April 2021 verfolgten wir mit Bestürzung die Explosion der SARS-CoV-2-Infektionen in Indien mit mehr als 353.000 Fällen und 2.812 Toten pro Tag – die höchsten weltweit je ermittelten Fallzahlen“, sagt Dr. Stefanie Weber. „Die bisher bekannten Virusvarianten könnten ansteckender und auch potenziell krankmachender sein als das ursprüngliche Virus aus Wuhan.“
Für ihre aktuelle Forschungsarbeit analysierten die Autoren weltweit über 380.500 SARS-CoV-2-RNA-Sequenzen von der Wissenschaftsplattform GISAID, die freien Zugang zu Genomen liefert, auf Mutanten und Varianten. Zusätzlich untersuchten die Wissenschaftler über 1.750 dieser RNA-Sequenzen detailliert auf Änderungen von Virusproteinen. Dabei betrachteten sie die Entwicklung in vier Zeitintervallen: Januar 2020 bis April/Mai 2020, April/Mai 2020 bis Juli/August 2020, Juli/August 2020 bis Dezember 2020 und Dezember 2020 bis März/April 2021. „Aus der Detailanalyse der Mutationen ergab sich ein interessanter Hinweis“, erklärt Stefanie Weber. „Mehr als 50 Prozent der weltweit registrierten Mutanten kamen durch einen Austausch der Basen Cytosin und Uracil im RNA-Genom von SARS-CoV-2 zustande. Dabei hat das Virus es offenbar geschafft, eine vermeintliche Schutzfunktion menschlicher Zellen – möglicherweise das sogenannte APOBEC-System – für seine Zwecke auszunutzen.“
Mutanten unterstützen die SARS-CoV-2-Vermehrung
Dass sich Mutanten rasant verbreiten, unterstützt die SARS-CoV-2-Vermehrung. „Es ist zu befürchten, dass die hohe Effizienz der Mutagenese langfristig erhebliche Probleme für die Therapie und die Impfprogramme gegen das Virus generieren könnte“, schätzt Prof. Doerfler die Lage ein. „Wahrscheinlich wird SARS-CoV-2 für längere Zeit ein gefährlicher Begleiter für uns bleiben.“ Doch auch ein zweites Szenario wäre unter Umständen denkbar: Im Laufe einer extremen Mutationsbildung kann sich das System erschöpfen und das Virus die Fähigkeit zur Vermehrung verlieren. Für SARS-CoV-2 gibt es dafür allerdings derzeit keine Hinweise.
Da SARS-CoV-2-RNA-Proben außer in Großbritannien nur in wenigen Ländern systematisch sequenziert, das heißt genetisch analysiert werden, kann die Rolle der vielen bereits identifizierten Mutanten im Infektionsgeschehen nicht adäquat beurteilt werden. „Sequenzierungstechnologien und schnelle PCR-Tests sollten sich also baldmöglichst in Deutschland etablieren, denn es ist für die COVID-19-Diagnose und -Therapie sowie für die Impfstoff(weiter)entwicklung essenziell, Virusmutanten und -varianten zu verstehen. Je länger wir die Impfung verzögern, umso schneller können sich neue Mutanten durchsetzen und den Impferfolg langfristig infrage stellen“, betont Walter Doerfler. In diesem Zusammenhang merkt er kritisch an: „Solange wir uns auf Antigen-Schnelltests verlassen, die in mindestens 35 Prozent der Fälle falsch negative Ergebnisse liefern, werden wir die COVID-19-Pandemie nicht beherrschen.“
Auch nach der jetzt in EMBO Molecular Medicine veröffentlichten Studie sind noch viele Fragen offen: Wie wirkt sich die Infektion mit einer neuen Mutante auf den Krankheitsverlauf aus? Welche Mutanten und Varianten setzen sich tatsächlich durch und weshalb? Wie lange wird SARS-CoV-2 seine „Strategie“ noch durchhalten? Wie erfolgreich sind die Impfstrategien? „Wir möchten keine Panik machen, aber das Problem klar benennen und aufzeigen, was da gerade passiert“, sagt Prof. Doerfler.