In der zahnärztlichen Praxis gibt es immer wieder Situationen, in denen sich die Frage nach Zahnerhalt oder Extraktion und Versorgung mit einem Implantat stellt. Dr. Josef Diemer stellte auf der DGI-Jahrestagung im November vergangenen Jahres einen solchen Patientenfall in der Session „Implantat: ja oder nein?“ vor. Bei einer Patientin war Zahn 22 bis unter Gingivaniveau frakturiert. In der Ausgangssituation war die Prognose, den Zahn mit einer Krone zu versorgen, sehr ungünstig, denn eine Präparation nach dem Ferrule-Effekt war nicht möglich. Die Falldarstellung im Folgenden zeigt in einzelnen Schritten ein Konzept, wie Behandler die Wurzel eines solchen Zahns mit Brackets extrudieren können. Auf diese Weise kann ein Ferrule von zwei bis drei Millimetern wiederhergestellt und die restaurative Prognose des Zahnes stark verbessert werden.
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Abb. 1: Ausgangssituation: Bei einer 49-jährigen Patientin war der vormals überkronte Zapfenzahn 22 bis unterhalb des Gingivaniveaus frakturiert. Sie wies eine optimale Mundhygiene und entzündungsfreie Verhältnisse auf.
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Abb. 2: Der Röntgenausgangsbefund zeigte eine apikale Aufhellung an Zahn 22, bei gut erkennbarem Wurzelkanal. Die Nachbarzähne 21 und 23 waren ohne pathologischen Befund. Zusätzlich zum Zahnfilm begutachtete Dr. Diemer die im Kieferknochen verbliebene Zahnwurzel des Zahnes 22 per DVT. Die Aufnahme bestätigte, dass die knöcherne Ausgangssituation für eine Extrusion gut geeignet ist.
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Abb. 3: Nach Gingivaretraktion mit einem Faden zeigt sich der Bereich des Wurzelkanals an der Frakturfläche obliteriert.
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Abb. 4: Trotz Obliteration im Kanaleingangsbereich ließ sich der Wurzelkanal gut aufbereiten. Hier die Anprobe des Masterpoints
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Abb.5: Anpassen ...
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Abb. 6: … und Einsetzen eines Glasfaserstiftes mit einem dualhärtenden Komposit-Befestigungszement.

Abb. 7: Dr. Diemer baute den Zahn 22 chairside mit Komposit wieder auf. Der betroffene Zahn und jeweils zwei Nachbarzähne erhielten Brackets. Das Bracket an Zahn 22 wurde so weit zervikal platziert, wie der Zahn extrudiert werden sollte. Die suprakrestalen Fasern müssen vor dem Legen des Drahts für die Extrusion mit einem Beaver Blade zirkulär durchtrennt werden.
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Abb. 8: Zustand zu Beginn der Extrusionsphase nach Anbringen des hochelastischen Nickel-Titan-Drahts
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Abb. 9: Der Wurzelrest des Zahnes 22 konnte nach zwei Wochen soweit extrudiert werden, um den Zahn nach dem Ferrule-Effekt präparieren zu können. Vorher schließt sich allerdings noch eine drei-monatige Retentionsphase an, damit sich der Zahnhalteapparat wieder konsolidieren kann.
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Abb. 10: Röntgenkontrolle des extrudierten, wurzelgefüllten Zahnes einen Monat nach Behandlungsbeginn
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Abb. 11: Eine Präparation mit Einfassen der natürlichen Zahnhartsubstanz um mindestens zwei Millimeter (Ferrule-Effekt) war aufgrund der Extrusion möglich geworden.
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Abb. 12: Situation nach dem Einsetzen der Vollkeramikkrone.
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Abb. 13: Röntgenkontrolle sechs Monate nach Abschluss der Behandlung. Der apikale Bereich an Zahn 22 ist ausgeheilt und der Knochen auf einem stabilen Niveau.
Resümee
Gerade im Frontzahnbereich sind Faktoren wie die korrekte Position eines Implantats, gegebenenfalls die Augmentation von Hart- und/oder Weichgewebe sowie die Schaffung eines Emergenzprofils entscheidend für den Erfolg. Es gibt nur einen Versuch, um ein ästhetisch ansprechendes Ergebnis zu erhalten – der nicht immer gelingt. Im vorliegenden Fall hätten Dr. Diemer und seine Patientin sich für ein Einzelzahnimplantat entscheiden können, doch sie haben die deutlich weniger invasive und kostengünstigere Therapie gewählt. Die Extrusion des Wurzelrestes von Zahn 22 hat in dieser Situation zu nachhaltigem Erfolg geführt, denn der eigene Zahn ist noch mit einer guten restaurativen Prognose in situ und die Behandlung war wenig invasiv und belastend für die Patientin. Die Möglichkeit einer Implantation besteht bei Bedarf nach wie vor.
Im Portrait: Dr. Josef Diemer
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Dr. Josef Diemer
Dr. Josef Diemer studierte Zahnmedizin an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Nach der Weiterbildung zum Oralchirurgen in Mainz folgten Spezialisierungen in Parodontologie (Spezialist der DG Paro) und Endodontologie (Spezialist der DGET). Der seit mehr als 30 Jahren in eigener Praxis in Meckenbeuren niedergelassene Zahnarzt hat sich umfassend weitergebildet. Regelmäßig besucht er Fortbildungskurse in den USA, zum Beispiel am Kois Center in Seattle (seit 2018 ist er Kois-Mentor). Zuletzt erwarb der gefragte Tagungsreferent den Master of Science in Kieferorthopädie (MSc). Er ist Dozent der DTMD University Luxemburg (Digital Technologies in Medicine and Dentistry).