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Armes geschundenes, geliebtes Italien

Die Anzahl der Menschen, die an den Folgen des Coronavirus gestorben sind, übersteigt mittlerweile die (offizielle) Zahl aus China. Was für eine erschütternde Nachricht aus dem Herzen der Europäischen Union.

Seit Wochen leidet das Land unter der Epidemie, das erste vom Robert Koch-Institut ausgewiesene Risikogebiet in Europa befand sich im industriell geprägten Norden Italiens in der Lombardei. Dort, wo wir so gerne zum Shopping am Wochenende hinfliegen und viele Dinge unseres Alltags produziert werden. Während man die Fernsehbilder von den ersten abgeschotteten und verwaisten Dörfern nahe Mailand zunächst noch mit Erstaunen und Neugierde sah, erfasst mich heute ein tiefer Schmerz. In Bergamo rollten in der Nacht vom 18. auf den 19. März erstmals Militärlastkraftwagen durch die Stadt. Sie waren beladen mit Särgen der Verstorbenen. In der norditalienischen Stadt sterben inzwischen so viele Menschen, dass die eigene Friedhofsverwaltung sie nicht mehr alle beerdigen oder verbrennen kann. Deswegen werden sie jetzt auf andere Städte verteilt. Weitere Hotspots des Sterbens heißen Brescia, Cremona und Lodi.

Die Krankenhäuser in diesen Regionen halten dem Ansturm der Erkrankten nicht mehr stand. Es gibt nicht genügend Beatmungsplätze, und die Ärzte müssen entscheiden, wem sie eine Chance zum Überleben geben, und wem nicht. Dass diese Chance besonders älteren Menschen mit Vorerkrankungen oftmals nicht eingeräumt wird, empört mich zutiefst. Es steht mir nicht im Mindesten zu, die heldenhafte Arbeit der Pfleger und Ärzte vor Ort zu kritisieren. Was mich empört, ist diese schiere Ausweglosigkeit der Situation, der Verlust an Menschlichkeit, die an das Mittelalter, das man längst überwunden glaubte, oder eine Kriegssituation erinnern. Zu Zeiten der Pest wurden Menschen sich selbst zum Sterben überlassen und nur noch die Überlebensfähigen in die Städte gelassen. Die anderen wurden in Spitälern vor der Stadt versorgt – im günstigsten Fall.
Da wir uns aber im 21. Jahrhundert befinden und nicht mehr im Mittelalter, ist diese Situation nur mit einem Krieg zu erklären, einem Krieg gegen das Virus, der nicht mit Raketen, sondern nur mit Hilfe der Medizin eingedämmt und gewonnen werden kann. Warum greift dann aber nicht schon längst der Bündnisfall nach Art. 5 des Nato-Vertrags? Die Bundesregierung hat erst am 19. März beschlossen, Beatmungsgeräte nach Italien zu entsenden, warum sind Nato und EU nicht schon viel eher tätig geworden, vor Wochen, als bereits abzusehen war, dass sich in Italien eine Katastrophe anbahnt?

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat den Italienern inzwischen zwar versichert, dass alle Europäer im Moment Italiener seien, aber es gibt noch immer kein europäisches Militärkrankenhaus in Norditalien. Es entsteht der Eindruck, dass China im Moment schneller und besser in der Lage ist, Italien in der Krise beizustehen, als die eigenen europäischen Nachbarn und Bündnispartner. Das empfinde ich als das wirkliche Versagen und die eigentliche Tragödie. Während die Deutschen sich um Klopapier streiten, greift nur wenige hundert Kilometer von uns entfernt eine Apokalypse um sich. Das muss ein Ende haben. Bitte.

Die Autorin verfolgt die Situation in Italien über italienische Medien und im Kontakt mit Freunden in Italien.