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DGKFO-Jahrestagung: ­Kieferorthopädie primär für Erwachsene

Kieferorthopäden ­suchen ­Kontakt zur ­übrigen ­oralen Medizin

„Bei kieferorthopädischen Behandlungen sollte der medizinische Nutzen im Fokus stehen.“ Und: „Wenn wir uns auf Ästhetik konzentrieren, verlieren wir gegen Aligneranbieter.“ Schon bei der feier­lichen Kongress-Eröffnung im Berliner Estrel-Hotel legte Tagungspräsident Prof. Dr. Paul-Georg Jost-Brinkmann seine Finger in zwei Wunden, die das Teilgebiet aktuell plagen. Dass nicht spezialisierte Kollegen zunehmend orthodontische Behandlungen mit Alignern übernehmen, gefährdet nach Einschätzung mehrerer Referenten mittelfristig die komfortable wirtschaftliche Si­tuation der Fachpraxen. Das könnte bewirkt haben, dass beim ersten Präsenzkongress der Deutschen Gesellschaft für Kieferorthopädie (DGKFO) seit 2019 der Fokus eines ganzen Kongresstages auf Erwachsenen-KfO lag. Auch im übrigen Programm spielte das Thema eine wichtige Rolle, unter anderem mit zahlreichen Vorträgen zur Alignertherapie.

Bereits 2030 werden laut Statistischem Bundesamt die 65- bis 70-Jährigen (Babyboomer) die größte Altersgruppe sein, im Jahr 2050 die 85- bis 90-Jährigen. Jost-Brinkmann stellte die Fragen, ob im Alter Fehlstellungen akzeptabel sein sollten und wie bei Pfle­gebedürftigen die Retention sichergestellt werden kann (siehe Retentionskatalog des BDK). In Bezug auf die Prognose seien auch die Multimorbidität vieler Menschen und entsprechende Multimedikation zu beachten. Ein erheblicher Patientenanteil nimmt zum Beispiel die Knochenerneuerung hemmende Bisphosphonate ein.

Kurz und klar

  • Der medizinische Nutzen kieferorthopädischer Behandlungen sollte laut Tagungspräsident vermehrt im Fokus stehen.
  • Erwachsene einschließlich alter Patienten werden aus klinischer und wirtschaftlicher Sicht zunehmend bedeutsam.
  • Zahnbewegungen benötigen bei älteren Patienten wahrscheinlich mehr Zeit.
  • Parodontal Erkrankte können auch bei starker Zahnlockerung erfolgreich orthodontisch behandelt werden.
  • Im interdisziplinären Konzept spielt auch die restaurative Erwachsenenbehandlung eine wichtige Rolle (Prothetik, Implantologie).
  • Aligner sind nach aktuellem Stand nicht für körperliche Zahnbewegungen geeignet, an speziellen Attachments wird geforscht.
  • Software- einschließlich KI-gestützte Diagnosesysteme könnten Planung und Therapie in Zukunft erleichtern.
  • Zur Prävention und Behandlung von White Spot Läsionen sind neben verhaltensbezogenen Maßnahmen Fluoride der Goldstandard.

KfO bei Senioren?

Der Hamburger Osteologe Prof. Dr. Michael Amling vertrat die These, dass die Knochenphysiologie und damit auch die Zahnbewegung „bei gesundem Knochen keine Frage des Lebensalters“ sei. Alle menschlichen Knochen mit Ausnahme der Gehörknöchelchen würden laufend umgebaut und seien etwa sechs Jahre alt, auch bei 100-Jährigen. Dagegen betonte der Regensburger Kieferorthopäde und Molekularmediziner Dr. Dr. Christian Kirschneck altersbedingte Einschränkungen zum Beispiel bei Knochendichte und -stoffwechsel. Zahnbewegungen als steril-entzündliche Reaktion würden bei alten Patienten durch orale und systemische Erkrankungen und insbesondere Dauermedikation beeinträchtigt.

Wie Kirschneck konnte die niederländische Professorin Dr. Yijin Ren in Berlin kaum humane Evidenz zum Thema Zahnbewegung bei älteren und alten Patienten präsentieren. Wie sie anhand von Fallbeispielen zeigte, ist prinzipiell zum Beispiel eine maxilläre Expansion mit Gaumendistraktoren möglich. Experimentelle Studi­en zeigten jedoch altersbedingte Formveränderungen von Osteozyten und eine Reihe von immunologischen, physiologischen und anatomischen Anpassungen. Ältere Patienten seien zudem möglicherweise anfälliger für Rezidive, was jedoch nur für kurzfristige Zeiträume nach Behandlungsabschluss gezeigt wurde. Eine Arbeitsgruppe der Universität Mainz (Dr. Ambili Mundethu) fand in einer klinischen Studie, dass Zahnbewegungen bei älteren Patienten in der Anfangsphase länger dauern als bei jüngeren, sodass bei Senioren eine geringere Kraftapplikation zu empfehlen sei.

KfO bei Parodontitis

Auch Patienten mit parodontal stark gelockerter und aufgefä­cher­ter Restbezahnung können von kieferorthopädischer Behand­lung profitieren, wobei die beste Methode nicht durch Studien belegt ist. Der Parodontologe Prof. Dr. Henrik Dommisch von der Berliner Charité erläuterte die detaillierte S3-Therapie-Leitlinie für Parodontitis des Stadiums IV, die zur Kontrolle des okklusalen Traumas zunächst eine prothetische Schienung vorsieht [1]. Eine KfO-Behandlung kann erfolgen, wenn die Taschentiefen auf 5 mm (maximal 6 mm) ohne Blutung reduziert wurden, muss aber bei Verschlechterung beendet oder unterbrochen werden. Nach Regeneration par­odontaler Defekte hat ein Therapiebeginn nach vier Wochen oder sechs Monaten die gleiche Prognose [2]. Dommisch hob hervor, dass erfolgreiche Behandlungen ein interdisziplinäres Team erfordern.

Den Vortrag von Prof. Dr. Florian Beuer (Charité) zum Thema Kieferorthopädie und Prothetik konnte der Autor wegen zeitlicher Überschneidungen leider nicht hören. Der Titel „Gegenseitige Abhängigkeit zum Vorteil des Patienten“ deutet aber klar auf die Möglichkeiten eines interdisziplinären Ansatzes. Mit Bezug auf das offizielle Kongressmotto „Biologie und Mechanik“ vertrat der Kieferorthopäde und Embryologe Prof. Dr. Dr. Ralf Radlanski (ebenfalls Charité) die These, dass die Kronenneigung stärker als bis­her auf den verfügbaren Knochen abgestimmt werden sollte, nicht primär auf ABC-Kontakte der Okklusalflächen.

Um Fenestrationen zu vermeiden, sei auf der Basis einer CAD/CAM-basierten Ana­­ly­se problemlos eine knochenoptimierte Pa­la­tinalneigung der Oberkieferzahnachse um bis zu 10 Grad gegenüber der okklusal optimierten möglich.

Respekt vor Alignertherapie

Die Alignerbehandlung kann laut Prof. Dr. Dr. Bernd Lapatki als etabliert gelten. Grenzen sieht der Ulmer Hochschullehrer zum Beispiel darin, dass eine erhöhte Abhängigkeit von der Patientenmitarbeit besteht. Sinnvoll sei oft ein flexibler hybrider Einsatz in Kombination mit Multiband und anderen festsitzenden Apparaturen, einen Innovationsschub erwartet Lapatki durch gedruckte Aligner. Attachments, die das häufig beobachtete Kippen zum Beispiel von Molaren verhindern und eine körperliche Zahnbewegung mit Alignern ermöglichen sollen, werden in-vitro- und auch klinisch untersucht (Kurzvorträge in Berlin).

Langzeitstudien zur Prognose von Alignern sind noch nicht verfügbar, vor allem nicht zur Behandlung in den Wechselgebissphasen. Dagegen zeigt zum Beispiel die mit einem DGKFO-Bestpreis ausgezeichnete Verlaufsstudie zu Klasse II/1-Behandlung mit zervikalem Headgear nach 25 Jahren stabile Ergebnisse [3] und eine aktuelle deutsche Multizenterstudie dokumentiert insgesamt einen sehr guten therapeutischen Standard bei Kindern und Jugendlichen [4].

Für den Lückenschluss mit Alignern in Kombination mit an Mini-Implantaten fixierte Slidern bei erwachsenen Patienten eignet sich ein zweiphasiges Vorgehen besser als ein einphasiges (Prof. Dr. Benedict Wilmes, Düsseldorf) [5]. Mit der Methode lassen sich bei nicht angelegten seitlichen Oberkiefer-Schneidezähnen häufig Implantationen umgehen. „Je mehr Patienten ich mit Alignern behandle, desto mehr steigt mein Respekt vor der Methode.“ Der Kieferorthopäde Woo-Ttum Bittner (Berlin) plädierte dafür, Patienten durch Kompetenz, Qualität und gute Beratung zu überzeugen und dadurch die „Deutungshoheit“ zu behalten. Haus- und Familienzahnärzte sollten durch entsprechende Einbindung im therapeutischen Netzwerk ebenfalls profitieren, nicht nur die Patienten und spezialisierten Kieferorthopäden.

CAD/CAM und mehr

Während der digitale Workflow in Berlin weniger im Fokus stand, wurde eine Reihe von software- und KI-gestützten Diagnostikmethoden präsentiert. So kann die in Österreich übliche Erfolgsanalyse nach dem Peer Assessment Rating (PAR)-Index mit einer Software auch von Fachangestellten oder Studenten durchgeführt werden (Hamza Zukorlic, Berlin), was in der Diskussion jedoch angezweifelt wurde. Noch keine Praxisreife hat eine KI-gestützte Einteilung nach Angle-Klassen anhand von Fotos (Petra Koch, Charité). Anhand von Filmen lassen sich Bewegungen der Gesichts-Weichge­webe in die The­rapieplanung integrieren (PD Dr. Dr. Philipp Kauffmann, Göttingen). Diese Bewegungen folgen einem individuellen funktionellen Muster, das unabhängig von der Angle-Klasse ist, aber von Alter und Geschlecht beeinflusst wird. Insgesamt scheinen digitale Tech­niken und Künstliche Intelligenz hoch interessante neue Anwendungsfelder zu eröffnen. Sie erfordern aber profundes analoges Wissen und die Tücke liegt oft im Detail.

KfO und Prävention

Wie sich die gefürchteten großflächigen kariösen Defekte und ästhetisch problematischen Entkalkungen (White-Spot-Läsionen) und Verfärbungen infolge festsit­zen­der Kieferorthopädie vermeiden lassen, diskutierte der Berliner Kariologe Prof. Dr. Sebastian Paris. Mit dem Kariesrisiko-Bogen der Charité oder dem Cariogram (auch als App erhältlich) kann abgeschätzt werden, ob oder wann eine festsitzende Behand­lung angezeigt ist. Demineralisationen zu vermeiden sei nur mit Fluoriden möglich, „Kieferorthopädie ohne Fluorid ist riskant“. Bei Hochrisi­ko-Patienten kann nach einer Literaturauswertung präventiv täglich eine Zahncreme mit 5.000 ppm verwendet werden, jedoch bei geringer Erfolgsevidenz, alternativ alle sechs bis zwölf Wochen ein Fluoridlack (Manon Weyland, Charité) [6]. Günstige Ernährung in Verbindung mit guter Mundhygiene sind mindestens ebenso wichtig.

Da Natriumkarbonat zu abrasiv ist, soll­­te bei Patienten mit festsitzenden Apparaturen für professionelle Zahnreinigungen mit Airflow Erythritol-Pulver verwendet werden (Philipp Ratzka, Berlin) [7]. Die Anwendungsdauer ist zirka um ein Viertel län­ger und es wurde nach der Reinigung im Vergleich zu poliertem Schmelz eine ge­rin­ge Rauigkeit gemessen. „Politurstreifen“ waren jedoch nicht zu erkennen und die Er­gebnisse wurden nicht mit denen von ro­tierenden Kelchen verglichen. Die Airflow-Methode ist laut Diskussion in Berlin empfehlenswert.

Fazit: Alle rund 2.500 Teilneh­mer des hoch interessanten dreitägi­gen Kongresses waren laut DGKFO „aus dem Fach“. Damit wurde die Tradition fortgesetzt, dass regelmäßig ein Großteil des Teilgebiets auf der Jahrestagung vertreten ist. Da von den Fachmedien mit Ausnahme der dzw (gesamter Kongress) und „zm“ (an ausgewählten Tagen) ebenfalls nur Spezialtitel vertreten waren, blieben die Fachkollegen damit weitgehend unter sich.

Für einen erweiterten Blickwinkel des Tagungspräsidiums spricht, dass unter den Hauptrednern ein Osteologe, ein nicht weitergebil­deter Zahnarzt (Dr. Franz-Peter Schwindling), ein Parodontologe, ein Prothetiker und ein Kariologe zu finden waren. Wie sich diese Öffnung auf das therapeutische – und hoffentlich auch präventive – Geschehen in deutschen Fach- und anderen Praxen auswirkt, bleibt ab­zuwarten (siehe hierzu Kommentar „Die Kieferorthopädie sollte sich dringend neu ­aufstellen“).

Dr. Jan H. Koch, Freising

Dr. Jan H. Koch

Dr. med. dent. Jan H. Koch ist approbierter Zahnarzt mit mehreren Jahren Berufserfahrung in Praxis und Hochschule. Seit dem Jahr 2000 ist er als freier Fachjournalist und Berater tätig. Arbeitsschwerpunkte sind Falldarstellungen, Veranstaltungsberichte und Pressetexte, für Dentalindustrie, Medien und Verbände. Seit 2013 schreibt Dr. Koch als fester freier Mitarbeiter für die dzw und ihre Fachmagazine, unter anderem die Kolumne Oralmedizin kompakt.

Mitglied seit

6 Jahre 10 Monate

Weitere Tagungen zu KFO, CMD und Schlafzahnmedizin

Hier eine unvollständige Liste von Tagungen zum Themenkomplex orale und periorale Funktion:

Literatur

[1] Herrera D, Sanz M, Kebschull M, Jepsen S, Sculean A, Berglundh T, et al. Treatment of stage IV periodontitis: The EFP S3 level clinical practice guideline. Journal of Clinical Periodontology 2022;49:4-71.
[2] Jepsen K, Tietmann C, Kutschera E, Wullenweber P, Jager A, Cardaropoli D, et al. The effect of timing of orthodontic therapy on the outcomes of regenerative periodontal surgery in patients with stage IV periodontitis: A multicenter randomized trial. J Clin Periodontol 2021;48:1282-1292.
[3] Braga Santos SR, Martins de Araujo T, Vogel CJ, Bastos de Oliveira M, Vieira Bittencourt MA, Braga E. Evaluation of anteroposterior and vertical stability 25 years after Angle class II division 1 treatment with cervical headgear. Journal of orofacial orthopedics = Fortschritte der Kieferorthopadie: Organ/official journal Deutsche Gesellschaft fur Kieferorthopadie 2021;82:382-390.
[4] Graf I, Bock NC, Bartzela T, Roper V, Schumann U, Reck K, et al. Quality of orthodontic care-A multicenter cohort study in Germany : Part 1: Evaluation of effectiveness of orthodontic treatments and predictive factors. Journal of orofacial orthopedics = Fortschritte der Kieferorthopadie: Organ/official journal Deutsche Gesellschaft fur Kieferorthopadie 2022;83:291-306.
[5] Wilmes B, Schwarze J, Vasudavan S, Drescher D. Maxillary Space Closure Using Aligners and Palatal Mini-Implants in Patients with Congenitally Missing Lateral Incisors. J Clin Orthod 2021;55:20-33.
[6] Benson PE, Parkin N, Dyer F, Millett DT, Germain P. Fluorides for preventing early tooth decay (demineralised lesions) during fixed brace treatment. Cochrane Database Syst Rev 2019.
[7] Ratzka P, Jost-Brinkmann P. In-vitro-Untersuchung zur Reinigungswirkung von Prophylaxe­pulvern an Frasaco-Zähnen mit Brackets. Kieferorthopädie 2020;34:129-135.