Oralmedizin kompakt — Update: Frühzeitige Maßnahmen reduzieren auch das Risiko für Trauma und schlafbezogene Erkrankungen
Frühe kieferorthopädische Maßnahmen erfolgen bei Patienten mit Syndromen oder stark ausgeprägten kieferbezogenen Anomalien. Eine zweite Kategorie ist die „Frühbehandlung“, also die Therapie dentoalveolärer Fehlstellungen im Milchgebiss ab zirka vier Jahren, zum Beispiel von Kreuzbissen, oder in der ersten Wechselgebiss-Phase bis zum Alter von zirka zehn Jahren [1, 2]. Spätere Anomalien lassen sich bereits bei Kleinkindern durch erfolgreiche Behandlung von Dysfunktionen und die Abgewöhnung schädlicher Gewohnheiten (Habits) vermeiden oder in ihrem Schweregrad reduzieren [3].
Frühzeitige Maßnahmen nutzen zudem das zeitlich begrenzte Wachstum von Kieferbasis und Alveolarfortsatz und die damit verbundene Anpassungsfähigkeit der Gewebe [4]. So lässt sich das für die Gebissentwicklung wichtige transversale Oberkieferwachstum nur bis etwa zum zwölften Lebensjahr optimal mit kieferorthopädischen Maßnahmen fördern [5].
Kurz und klar
- Frühe kieferorthopädische Maßnahmen sind bei stark ausgeprägten skelettalen Anomalien angezeigt oder wenn Funktionsstörungen mit Risiko für ein Fortschreiten vorliegen.
- Transversales Oberkieferwachstum kann nur bis zum zwölften Lebensjahr optimal beeinflusst werden.
- Frühe Maßnahmen senken das Traumarisiko und reduzieren den Behandlungsaufwand in der zweiten Wechselgebiss-Phase.
- Indizierte kieferorthopädische Frühbehandlungen erfolgen – zum Teil aus wirtschaftlichen Überlegungen – nur bei jedem zweiten Patienten.
- Viele präventiv und funktionell orientierte Maßnahmen sind nur bei extremen Befunden über die gesetzliche Versicherung abrechenbar.
- Screenings in Bezug auf Habits, Dysfunktionen und Schlafstörungen sollten in gesetzliche Frühuntersuchungen aufgenommen werden.
Indikationen
Indiziert sind frühe kieferorthopädische Maßnahmen einerseits bei erblich bedingten Anomalien wie Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten und dem Pierre-Robin-Syndrom, andererseits bei Funktionsstörungen mit Progressionsrisiko [4, 6]. Neben chirurgischen Eingriffen werden apparative Behandlungsmittel wie Trink- und Sprechplatten genutzt, die bei zum Beispiel bei Spaltpatienten Nasenatmung und Lautbildung erleichtern. Frühe Behandlung erfolgt auch bei Klasse-III-Anomalien (Progenie, Abbildung 1a und 1b).
Der Indikationsbereich für Frühbehandlung ab dem vierten Lebensjahr wird durch die kieferorthopädische Richtlinie deutlich eingeschränkt [7]. Eingeschlossen sind im Sinne der oben genannten Befunde ein Kopf- oder progener Zwangsbiss und ein skelettal offener Biss (Nummer 8a) [8]. Im Sinne der Traumaprophylaxe ist Frühbehandlung zudem im Milchgebiss bei extrem vergrößerter Frontzahnstufe angezeigt, weiterhin bei lateralem Kreuzbiss, bukkaler Non-Okklusion und sagittalem Platzmangel von über 3 Millimeter. Behandelt werden diese Befunde nach den Nummern 8c und 8d mit individuell gefertigten herausnehmbaren Apparaturen.

Abb. 1a: Ausgangsbefund bei einem achtjährigen Mädchen mit ausgeprägter Klasse-III-Dysgnathie.

Früh einsetzende Behandlung mit Gaumennaht-Erweiterung und Fazialmaske, Unterkieferplatte mit lateralem Aufbiss (Bild), Teil-Multiband im Oberkiefer und Fränkel-III-FKO-Gerät in der zweiten Wechselgebiss-Phase.
Funktion frühzeitig überwachen
Trotz eingeschränkter Abrechnungsmöglichkeiten sollten funktionelle Probleme bereits frühzeitig, also ab dem Kleinkindalter zwischen zwei und vier Jahren, kontinuierlich überwacht werden [3]. Laut der kieferorthopädischen Leitlinie zum Thema Behandlungszeitpunkte reduziert Frühbehandlung das Traumarisiko bei protrudierten Frontzähnen. Dies gelingt durch einen kompetenten Schluss der Lippen, die die Zähne vor direkter Krafteinwirkung schützen [1, 2]. Sehr wichtig für die orale und gesamte kindliche Entwicklung ist eine gute Kaufunktion. Funktionelle Maßnahmen könnten zudem Auswirkungen auf orthopädische Messgrößen, zum Beispiel im Bereich des Hüftgelenks, und damit auf die Körperhaltung haben [9].
Maßnahmen im Wechselgebiss
Funktionelle Probleme können bereits im Milchgebiss und nachfolgend in der ersten Wechselgebiss-Phase durch individuell gefertigte oder konfektionierte Geräte behandelt werden. Diese sind sowohl gegen schädliche Habits, als auch funktions-kieferorthopädisch wirksam. So fördert ein mit individuellen FKO-Geräten erreichter kompetenter Lippenschluss das Unterkieferwachstum [10]. Alternativ können bei weniger schweren Befunden einfache, in der allgemeinen Praxis einsetzbare konfektionierte Geräte angewendet werden [11]. Die Geräte sind nach den gültigen GKV-Richtlinien nicht berechnungsfähig und lassen sich daher nur mit privater Vereinbarung einsetzen.
Prävention von Schlafapnoe
Behandlung mit funktionsorthopädischen Geräten (FKO) führt vor allem in der zweiten Wechselgebiss-Phase zu einem signifikant vergrößerten Ramus mandibulae, einem längeren Corpus mandibulae und zu einem stärker nach posterior gerichteten kondylären Wachstum [12]. Sie erweitert den oropharyngealen Luftraum und reduziert damit einen Risikofaktor zum Beispiel für das obstruktive Schlafapnoe-Syndrom (OSAS) [1]. Bei atmungsbezogenen Schlafstörungen, an denen Dysgnathien beteiligt sind, können Myotherapie und konfektionierte Geräte ebenfalls Erkrankungsrisiken reduzieren oder therapeutisch wirksam sein [13, 14].
Diskussion und Fazit
Kieferorthopädische Prävention und frühzeitig einsetzende Therapie können dazu beitragen, Entwicklungsstörungen von Zähnen, Alveolarfortsatz und Kieferbasis zu verhindern oder in ihrer Schwere zu reduzieren [1]. Frühbehandlung im Milchgebiss oder der ersten Wechselgebiss-Phase kann zudem den Aufwand für später einsetzende Maßnahmen verringern oder diese in einem Teil der Fälle erübrigen. Das im Jahr 2022 vorab präsentierte KfO-Modul der epidemiologischen DMS-6-Studie zeigt jedoch, dass etwa die Hälfte der indizierten Frühbehandlungen nicht durchgeführt wird [15]. Um die Möglichkeiten im Patienteninteresse auszuschöpfen, ist deshalb die Zusammenarbeit zwischen Allgemein- und Fachpraxis und bei Bedarf mit weiteren Disziplinen von großer Bedeutung.
Dr. Jan H. Koch, Freising
Interessenkonflikt: Dieser Artikel entstand auf der Basis eines Fachbeitrags in der Zeitschrift Prophylaxe Impuls [16]. Das Honorar für den Originalartikel übernahm die Dr.-Hinz-Unternehmensgruppe (Haranni Academie, Herne).
Hinweis: Beiträge in der Rubrik Oralmedizin kompakt können nicht die klinische Einschätzung der Leser ersetzen. Sie sollen lediglich – auf der Basis aktueller Literatur und/oder von Experten-Empfehlungen – die eigenverantwortliche Entscheidungsfindung unterstützen.
Mehr zum Thema in Teil 1 Funktionelle Prävention: Habits und Dysfunktionen frühzeitig behandeln und im Interview mit Prof. Dr. A. Rainer Jordan zur Prävalenz kieferorthopädischer Befunde
Dr. Jan H. Koch
Dr. med. dent. Jan H. Koch ist approbierter Zahnarzt mit mehreren Jahren Berufserfahrung in Praxis und Hochschule. Seit dem Jahr 2000 ist er als freier Fachjournalist und Berater tätig. Arbeitsschwerpunkte sind Falldarstellungen, Veranstaltungsberichte und Pressetexte, für Dentalindustrie, Medien und Verbände. Seit 2013 schreibt Dr. Koch als fester freier Mitarbeiter für die dzw und ihre Fachmagazine, unter anderem die Kolumne Oralmedizin kompakt.
Mitglied seit
7 Jahre 10 MonateLiteratur
[1] DGKFO, DGZMK. Ideale Behandlungszeitpunkte kieferorthopädischer Anomalien, S3-Leitlinie (Langversion), AWMF-Registernummer: 083–038, Stand: Dezember 2021, Gültig bis: Dezember 2026 https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/083–038.html . 2021.
[2] Kirschneck C, Proff P, Lux C. Ideal treatment timing of orthodontic anomalies-a German clinical S3 practice guideline. J Orofac Orthop. 2022;83(4):225–32. Epub 20220617. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/35713671
[3] Salbach A, Grabowski R, Stahl de Castrillon F. Der Einfluss orofazialer Dysfunktionen auf die Gebissentwicklung im Milch- und frühen Wechselgebiss. Quintessenz. 2012;63(11):1427–37.
[4] Kahl-Nieke B. Kieferorthopädische Frühbehandlung. Zahnärzl Mitt. 2003;93(22):2812–20.
[5] Kinzinger GSM, Hourfar J, Buschhoff C, et al. Age-dependent interactions of maxillary sutures during RME and their effects on palatal morphology : CBCT and dental cast analysis. J Orofac Orthop. 2022;83(6):412–31. Epub 20221007. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/36205766
[6] Fischer LS, Stellzig-Eisenhauer A. Gutes Timing ist alles! Der richtige Zeitpunkt für eine kieferorthopädische Behandlung. Bayerisches Zahnärzte Blatt. 2019(June):62–70.
[7] Bundesausschuss Zahnärzte und Krankenkassen. Richtlinien des Bundesausschusses der Zahnärzte und Krankenkassen für die kieferorthopädische Behandlung, in der Fassung vom 04. Juni 2003 und vom 24. September 2003: veröffentlicht im Bundesanzeiger Nr. 226 (S. 24 966) vom 03. Dezember 2003, in Kraft getreten am 1. Januar 2004. 2003.
[8] Rosa M, Quinzi V, Marzo G. Paediatric Orthodontics Part 1: Anterior open bite in the mixed dentition. Eur J Paediatr Dent. 2019;20(1):80–2. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/30919650
[9] Klostermann I, Kirschneck C, Lippold C, et al. Relationship between back posture and early orthodontic treatment in children. Head Face Med. 2021;17(1):4. Epub 20210205. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/33546715
[10] Sambale J, Jablonski-Momeni A, Korbmacher-Steiner HM. Impact of initial lip competence on the outcome of class II functional appliances therapy. Clin Oral Investig. 2024;28(2):126. Epub 20240130. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/38286891
[11] Carrasco-Llatas M, O‘Connor-Reina C, Calvo-Henriquez C. The Role of Myofunctional Therapy in Treating Sleep-Disordered Breathing: A State-of-the-Art Review. Int J Environ Res Public Health. 2021;18(14):7291. Epub 20210708. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/34299742
[12] Pavoni C, Lombardo EC, Lione R, et al. Treatment timing for functional jaw orthopaedics followed by fixed appliances: a controlled long-term study. Eur J Orthod. 2018;40(4):430–6. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/29099926
[13] Hinz R. Schlafstörungen bei Kindern. Vom 1. bis zum 16. Lebensjahr. Herne: Zahnärztlicher Fach-Verlag; 2015.
[14] Liu Y, Zhou J-R, Xie S-Q, et al. The Effects of Orofacial Myofunctional Therapy on Children with OSAHS’s Craniomaxillofacial Growth: A Systematic Review. Children. 2023;10(4):670. https://www.mdpi.com/2227–9067/10/4/670
[15] Jordan AR, et. al. DMS 6 des Instituts der Deutschen Zahnärzte IDZ. Sechste Deutsche Mundgesundheitsstudie. Zahn- und Kieferfehlstellungen bei Kindern. Zusammenfassung2022.
[16] Koch JH. Frühzeitige kieferorthopädische Maßnahmen (Teil 2). Früh einsetzende Behandlung hat vielfältige präventive Wirkungen. Prophylaxe Impuls. 2024;28(4):196–200.