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Haftungsrechtliche Besonderheiten der Kieferorthopädie

Junge Patientin beim Kieferorthopäden

Bei minderjährigen Patienten sollten im Zweifelsfall zur eigenen Absicherung die Eltern in die Behandlung eingebunden werden.

Gefühlt steigt die Zahl der gerichtlichen Auseinandersetzungen aufgrund möglicher Behandlungsfehler ständig. Bekanntermaßen lässt sich jedoch die gefühlte Wahrheit nicht immer anhand von Tatsachen bestätigten. Laut Bundeszahnärztekammer werden jährlich 93 Millionen zahnärztliche Behandlungen alleine über die gesetzlichen Krankenkassen abgerechnet. Demgegenüber steht die durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherungen jährlich veröffentliche Statistik zur Zahl der Behandlungsfehler-Begutachtung. Laut Jahresstatistik 2018 wurde in 943 Fällen den Behandlern ein Fehler vorgeworfen. In 358 Fällen wurde durch den MDK ein Fehler festgestellt, was einer Quote von 38,0 Prozent entspricht (Quelle: Jahresstatistik 2018: Behandlungsfehler-Begutachtung der MDK-Gemeinschaft).

Natürlich wird nicht jeder vorgeworfene zahnärztliche Behandlungsfehler dem MDK zur Überprüfung vorgelegt, dennoch lässt sich anhand dieser Zahlen deutlich machen, dass die Zahl der tatsächlichen Behandlungsfehler in Relation zu der Anzahl an Zahnarzt-Patienten-Kontakten verschwindend gering ist. Auseinandersetzungen mit Patienten über die Behandlungen sind also nach wir vor die Ausnahme. Damit dies auch in Zukunft so bleibt, empfiehlt es sich, haftungsrechtliche Fallstricke zu kennen, um diese zu vermeiden.

Allgemein gilt, dass der Zahnarzt verpflichtet ist, nach den anerkannten Regeln der zahnärztlichen Kunst vorzugehen. Die Behandlung hat nach den zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standards zu erfolgen, soweit nicht etwas anderes vereinbart ist (Paragraf 620 a Absatz 2 BGB). Maßgebend ist in der Regel der jeweilige (objektive) Facharztstandard. Neben der Behandlung gemäß der fachlichen Standards (lege artis) ist der Zahnarzt verpflichtet, den Patienten über sämtliche für die Einwilligung wesentlichen Umstände aufzuklären (Paragraf 630 e Absatz 1 BGB).

Haftungsrechtliche Besonderheiten der Kieferorthopädie: Neben den allgemeinen Pflichten, die sämtliche Zahnärzte zu berücksichtigen haben, gilt es im Bereich der Kieferorthopädie gewisse Besonderheiten zu beachten, die haftungsrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen können.

Die wesentliche Besonderheit in haftungsrechtlicher Sicht ist die Zusammensetzung der Patientenklientel. So sind ein Großteil der Patienten kieferorthopädischer Behandlungen Minderjährige, was besondere Anforderungen an die Aufklärung vor der Behandlung nach sich zieht. Nach ständiger Rechtsprechung ist jeder zahnärztliche Heileingriff ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Patienten. Die rechtliche Befugnis des Zahnarztes hierzu ergibt sich erst aus der wirksamen Einwilligung des informierten Patienten. Daher kann eine unzureichende Aufklärung oder fehlende Einwilligungsfähigkeit Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche gegen den Zahnarzt selbst dann begründen, wenn die Behandlung in jeder Hinsicht lege artis erfolgte.

Bei der Behandlung von minderjährigen Patienten stellt sich die Frage, wer über eine Behandlung aufzuklären ist und auf wessen Einwilligung es somit ankommt. Muss der Minderjährige selbst oder müssen die Eltern aufgeklärt werden? Die Bewertung der Einwilligungsfähigkeit von Minderjährigen in die Behandlung hängt von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab. Eine starre Regelung, ab welchem Alter der Minderjährige in die Behandlung tatsächlich einwilligen kann, existiert nicht. Für die Wirksamkeit seiner Einwilligung kommt es nicht auf die Geschäftsfähigkeit an, also auf die Fähigkeit, Verträge selbstständig abschließen zu können, sondern – so der Bundesgerichtshof (BGH) – darauf, dass der Minderjährige „nach seiner geistigen und sittlichen Reife die Bedeutung und Tragweite des Eingriffs und seiner Gestattung zu ermessen vermag“. Bei der Dispositionsbefugnis über die körperliche Unversehrtheit ist auf die natürliche Einsicht sowie die Urteilsfähigkeit und nicht auf die Geschäftsfähigkeit von Minderjährigen abzustellen. Der Minderjährige muss also in der Lage sein, die Tragweite des ärztlichen Eingriffes richtig erfassen zu können.
Folglich ist es Aufgabe des Zahnarztes, konkret zu beurteilen, ob der minderjährige Patient tatsächlich in der Lage ist, die Behandlung zu verstehen und zu bewerten.

Ebenso muss sich der Patient im Klaren sein, was seine Einwilligung bedeutet. Verbleiben dem Behandler Zweifel an dieser Einsichtsfähigkeit, sind – bereits zur eigenen Sicherheit – die Eltern in die Aufklärung mit einzubeziehen. Auch ist in diesem Fall deren Einwilligung entscheidend.

Neben den besonderen Anforderungen bei der Aufklärung Minderjähriger gilt es darauf zu achten, dass der Patient gegebenenfalls über Behandlungsalternativen aufzuklären ist. Zwar braucht der Behandler den Patienten im Allgemeinen nicht ungefragt zu erläutern, welche Behandlungsmethoden in Betracht kommen und was für und gegen die eine oder andere Methode spricht, da die Wahl der Behandlungsmethode zu Recht primär Sache des Arztes ist. Die Aufklärung über gleichermaßen indizierte und übliche Behandlungsalternativen kann allerdings erforderlich sein, wenn diese zu jeweils wesentlich unterschiedlichen Belastungen des Patienten führen oder gewichtige unterschiedliche Risiken und Erfolgschancen bieten, mithin eine echte Wahlmöglichkeit für den Patienten besteht (BGH, Az.: NJW 2005, 1718). Ob überhaupt eine kieferorthopädische Behandlung sinnvoll ist und welche Behandlung konkret zu empfehlen ist, sollte vor dem Hintergrund dieser Verpflichtung durch den Behandler abgewogen werden, um gegebenenfalls über echte Alternativen aufklären zu können.

Erhebt der Patient trotz aller Sorgfalt den Vorwurf eines haftungsrechtlich relevanten Verhaltens des Behandlers, stellt die Qualifikation zum Kieferorthopäden eine weitere Besonderheit dar. Diese Qualifikation führt dazu, dass etwaige kieferorthopädische Behandlungsfehler in einer gerichtlichen Auseinandersetzung auch durch einen Kieferorthopäden zu begutachten sind. Nur wenn der Sachverständige aus dem betreffenden Sachgebiet stammt, aus dem die zu klärende medizinische Frage herrührt, ist seine Expertise im gerichtlichen Verfahren verwertbar. Dies gilt selbst dann, wenn die kieferorthopädische Behandlung durch einen Allgemeinzahnarzt ausgeführt wurde, da zu beurteilen ist, ob die ausgeführte Behandlung dem Fachzahnarztstandard entspricht oder nicht.

Konsequenzen der Haftung: Ist letztlich ein haftungsrechtlich relevantes Fehlverhalten des Behandlers zu bejahen, drohen Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche, sodass – neben dem Ersatz des rein materiellen Schadens infolge des Haftungsfalls – auch ein möglicher immaterieller Schaden des Patienten ausgeglichen wird. Die Gerichte stellen bei der Bemessung des Schmerzensgelds in der Regel auf Vergleichsfälle ab, was dazu geführt hat, dass ganze Bücher mit ausgeurteilten Schmerzensgeldern und den jeweiligen Bemessungsgrundlagen erstellt wurden. Anhand dieser Tabellen zeigt sich, dass sich kieferorthopädische Schmerzensgelder in aller Regel im vier- bis maximal fünfstelligen Eurobereich bewegen.

RA Guido Kraus, Hannover