Stichpunkt Anästhesie: Erst Entwicklung von „Druckspritzen” ermöglicht Injektion ins Ligament
Nur einen einzelnen Zahn zu anästhesieren – den, der behandelt werden soll – ist weder mittels der gelehrten Infiltrations- und auch nicht mit der Leitungsanästhesie möglich. Aber warum sollte man das denn überhaupt tun? Im Rahmen der universitären Ausbildung waren die Infiltrations- und die Leitungsanästhesie die gelehrten – und eingeübten – Lokalanästhesiemethoden. Eine punktgenaue Terminalanästhesie könnte dieses Schmerzausschaltungsspektrum eigentlich ganz sinnvoll ergänzen.
Im Gegensatz zu den konventionellen Lokalanästhesiemethoden muss das Anästhetikum, um einen einzelnen Zahn zu anästhesieren, ganz nahe dem zu behandelnden Zahn appliziert werden, das heißt, über den Sulcus gingivae in das Ligament dieses Zahns injiziert werden. Das injizierte Anästhetikum breitet sich dann entlang der Zahnwurzel und intraossär aus und desensibilisiert die den Zahn umgebenden Nervenendigungen.
Schon nach etwa 30 Sekunden erreicht es auch das Foramen apikale – diese Zahnwurzel ist jetzt tief anästhesiert. Bei einem zweiwurzeligen Zahn ist dieser Vorgang an beiden Wurzeln vorzunehmen. Nach Abschluss der Injektion kann in aller Regel sofort mit der Behandlung begonnen werden, da es bei intraligamentären Anästhesien praktisch keine Latenz zwischen Injektion und Eintritt der Anästhesie gibt.
Besonderer Vorteil – für den Behandler – ist die Möglichkeit, den Anästhesieeintritt sofort zu überprüfen und die Analgesie unverzüglich festzustellen. In aller Regel reagiert der Patient weder beim Kältetest und auch nicht bei Perkussion und Sondenstich. Die Behandlung kann sofort beginnen – Zeit gespart, denn das „Stuhlhopping“ entfällt.
Grundlagen der Einzelzahnanästhesie seit 100 Jahren bekannt
Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Injektion von Anästhetikum ins Ligamentum circulare zur Schmerzausschaltung vor Extraktionen in Frankreich angewandt und auch beschrieben. Über die „Anesthésie par injections intraligamenteuses“ berichtet Bourdin in seiner Dissertation über Chompret, der im Jahre 1920 publiziert hat, wie die Injektionsnadel entlang der Wurzel ins Ligament geführt wird [1, 2], und er berichtet ebenfalls von Van Houvenck (Louvain) und Polet (Bruxelles), dass sie Anästhetikum distal oder mesial des zu behandelnden Zahns ins Ligament injizierten, um „das Dentin oder die Pulpa zu anästhesieren“.
Die damals zur Verfügung stehenden Instrumentarien waren aber nur bedingt geeignet, diese Möglichkeit der Lokalanästhesie als Standardmethode zu positionieren. Eine Injektion ins Ligament mit einer normalen Aspirationsspritze durchzuführen, ist zwar möglich, aber mit nicht zu unterschätzenden Schwierigkeiten verbunden – vor allem im Seitenzahnbereich.
Erst mit der Entwicklung von „Druckspritzen”, mit denen die vom Behandler aufgebrachte Kraft über ein mehrstufiges – integriertes – Hebelsystem verstärkt wurde, war es möglich, die Anästhesielösung gegen den Widerstand des Desmodontalgewebes (back-pressure) mit geringerer Kraftaufwendung in das Ligament zu applizieren. Seit den 1970er-Jahren stehen Injektionssysteme zur Verfügung, bei denen die vom Behandler aufgebaute Injektionskraft so verstärkt wird, dass der Gewebsgegendruck problemlos überwunden und die Anästhesielösung mit hohem Druck ins Desmodont appliziert werden kann (Abb. 1).
Aber cave: Eine Kraftverstärkung durch ein integriertes – mehrstufiges – Hebelsystem ermöglicht einen hohen Druckaufbau. Wegen des Hebelsystems hat der Behandler – im Gegensatz zur Injektion mit normalen Infiltrationsspritzen – aber keine Möglichkeit, die individuellen anatomischen Gegebenheiten des Patienten (die Gewebsdichte) zu erspüren und seinen eigenen Injektionsdruck entsprechend anzupassen. Das ist der Grund, weshalb Drucknekrosen und unerwünschte Effekte, zum Beispiel Druckschmerz und Elongationsgefühl nach Ende der Anästhesie, mit diesen Spritzensystemen sehr leicht zu generieren sind. Diese Effekte sind nicht methodenimmanent, also nicht der Methode der intraligamentären Anästhesie zuzuordnen.
Warum wird die intraligamentäre Anästhesie nur bedingt gelehrt?
Wenn man bei zahnärztlichen Fortbildungsveranstaltungen die Frage an die anwesenden Zahnärztinnen und Zahnärzte richtet, wer denn – während des eigenen Studiums – die intraligamentäre Anästhesie kennengelernt hat, dann sind das meistens nur sehr wenige. Angesprochen: „Ja“ – systematisch gelehrt: „Nein“ sind typische Antworten. Die Gründe dafür, dass eine möglicherweise „patientenfreundliche“ Methode der Schmerzausschaltung nicht systematisch gelehrt wird, sind unterschiedlich: Wegen der zielgenauen Applikation des Anästhetikums und zudem der sehr geringen applizierten Mengen ist das Wirkungsfeld und die Wirkungsdauer der ILA eng begrenzt.
Nach etwa 30 Minuten kehrt das Empfindungsvermögen wieder zurück – für etwas länger dauernde Präparationen während der Ausbildungsphase sei diese Methode der Schmerzausschaltung deshalb nur eingeschränkt geeignet.
Eine schonende intraligamentale Injektion erfordert sensible Instrumentarien. Die bis in die 1990er-Jahre verfügbaren Spritzensysteme waren nur bedingt geeignet, die Anforderungen an eine patientenschonende Anwendung zu erfüllen (Americal Dental Association – Giovannitti und Nique 1983) [3]. Der medizintechnische Fortschritt der vergangenen 25 Jahre verbreitet sich nur sehr langsam.
Die heute zur Verfügung stehenden klinischen Erfahrungen – vor allem im direkten Methodenvergleich ILA versus Infiltrations- und Leitungsanästhesie – sind erst jüngeren Datums und finden nur allmählich Eingang in die Lehre [4]. Die intraligamentäre Anästhesie – bisher weitgehend als eine Möglichkeit der Komplettierung von Anästhesieversagern empfohlen – als primäre Methode der Schmerzausschaltung auch bei zahnerhaltenden Maßnahmen in Betracht zu ziehen, setzt allerdings eine Phase der Einübung und Gewöhnung (Abb. 3) voraus, um den angestrebten sicheren Anästhesieerfolg auch wirklich zu erreichen.
Definitionen: Intraligamental oder intraligamentär?
Eingeführt wurde der Begriff „intra-ligamentaire“ Anfang des 20. Jahrhunderts durch französische Zahnärzte [1, 2]. Im deutschsprachigen Bereich spricht man bei der Einzelzahnanästhesie von der „intraligamentären Anästhesie“.
Es gibt einen im lateinischen Ursprung begründeten Unterschied zwischen „intraligamental“ und „intraligamentär“: Intraligamental beschreibt die Richtung, in die das Anästhetikum appliziert wird, und gegebenenfalls auch die Technik für diese Injektion; intraligamentär bezeichnet die Ausbreitung und die Wirkung der Anästhesie.
Bei der Injektionstechnik ist – sprachlich – intraligamental richtig, bei der Wirkung/der Methode spricht man von intraligamentär, deshalb auch „intraligamentäre Anästhesie“.
Da bei der Einzelzahnanästhesie die Injektion des Anästhetikums via Sulcus gingivalis ins Desmodont (Periodontium) erfolgt, findet man in einigen Publikationen auch den Ausdruck „intradesmodontale Injektion“.
Im englischsprachigen Bereich heißt die Injektion ins Periodontium (Desmodont) „periodontal ligament injection“ und die Einzelzahnanästhesie „intraligamentary anesthesia“ (JADA 1983; 106: 222-224) [3].
Lothar Taubenheim, Erkrath
Der Autor dieses dzw-Beitrags, Lothar Taubenheim, begleitet seit 20 Jahren den medizintechnischen Fortschritt der intraligamentären Anästhesie. In der Serie „Stichpunkt Anästhesie“ werden in loser Folge Fragen und Themen der Anästhesie in der Zahnheilkunde aufgegriffen.
Literatur
[1] Bourdain C-L: L’Anesthésie par l’injection intra-ligamentaire pour l’extraction des dents. These de Doctorat, Editions de la Semaine Dentaire, Paris, 1925.
[2] Chompre, L: Anesthésie par injections intraligamenteuses. La Semaine Dentaire 3, 550 (1920). Rev Stomatol Chir Maxillofax 6, 309-312 (1920).
[3] Giovannitti J A, Nique T A: Status report: the periodontal ligament injection. J Am Dent Assoc 1983; 106, 222-224.
[4] Benz C, Prothmann M, Taubenheim L: Die intraligamentäre Anästhesie – Primäre Methode der dentalen Lokalanästhesie. Deutscher Zahnärzte Verlag 2016, ISBN: 978-3-7691-2319-7.