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Studieren mit Beeinträchtigungen

Studentin am Laptop mit Steinen auf dem Kopf

Beeinträchtigungen sind nur in den wenigsten Fällen von außen sichtbar, können das Studium aber trotzdem deutlich erschweren.

Am 20. März fand an der Justus-Liebig-Universität Gießen ein „Tag der offenen Bürotür“ der Beratungsstelle für behinderte und chronisch kranke Studierende statt. dzw-Redakteurin Tanja Peschel sprach mit Magdalena Kaim über die Aufklärungsveranstaltung und das Studieren mit Einschränkungen.

Wie war der „Tag der offenen Bürotür“?

Magdalena Kaim: Vor allem der Parcours kam sehr gut an. Das waren kleine Stationen, an denen man verschiedene Sachen ausprobieren konnte. Die Gäste sollten zum Beispiel im Rollstuhl Brandschutztüren ohne Taster öffnen oder verschiedene Brillen aufsetzen, die diverse Augenkrankheiten simulieren oder eine Audiocollage, die Stimmen bei Schizophrenie widerspiegelt. Wenn man das wirklich mal gemacht hat, kann man sich ein Stück weit besser vorstellen, wie viele Hürden es im Alltag gibt, die man als gesunder Mensch gar nicht wahrnimmt.

Frau mit Blindenstock

Beim Tag der offenen Bürotür konnten die Gäste unter anderem ausprobieren, wie es sich anfühlt, sich ohne Sehvermögen an der Uni zu orientieren.

Was man bei solchen Aufklärungsarbeiten im Blick haben muss, ist, dass immer noch das Bild vorherrscht, „Menschen mit Behinderung“ seien beispielsweise im Rollstuhl oder blind, also von außen sichtbar beeinträchtigt. Aber das sind ja die wenigsten. Der Großteil der Behinderungen ist auch im dauerhaften Kontakt mit der Person nicht sichtbar. Und gut die Hälfte der Beeinträchtigungen sind psychische Erkrankungen. [Anm.d.Red.: Laut der Studie „beeinträchtigt studieren – best2“ haben elf Prozent der Studierenden in Deutschland eine studienrelevante Beeinträchtigung. Nur bei 4 Prozent der Studierenden ist die Beeinträchtigung auf Anhieb zu erkennen, bei gut zwei Dritteln (67 Prozent) ist sie auch auf Dauer nicht sichtbar.] Daher sollten auch die Dozenten dafür sensibilisiert werden, dass nur, weil in einem Seminarraum auf den ersten Blick alle gesund aussehen, das nicht heißt, dass niemand mit einer Beeinträchtigung anwesend ist.

Welche Hilfestellungen bieten Sie für Studierende mit chronischen Krankheiten an, die oft nicht zu allen Veranstaltungen kommen können?

Kaim: Es gibt keine Pauschallösung für bestimmte Erkrankungen, sondern man muss das individuell betrachten. Insbesondere bei chronischen Krankheiten geht es oft um den Umgang damit, häufige Ausfälle –insbesondere bei Veranstaltung mit Anwesenheitspflicht– zu kompensieren oder sich sehr kurzfristig von Prüfungen abmelden zu können.

Studierende mit Behinderungen und chronischen Krankheiten haben prinzipiell einen gesetzlich verankerten Anspruch auf Nachteilsausgleiche im Studium. Der gewünschte Nachteilsausgleich kann zwar verweigert werden, damit das Prüfungsziel und letzten Endes auch der Abschluss des Studiums gleichwertig bleibt. Aber sind die Anforderungen erfüllt, kann ein Nachteilsausgleich nicht pauschal verweigert werden.  
Gerade in den medizinischen Studiengängen ist es allerdings oft schwierig eine Ersatzleistung zu finden, wenn es sich zum Beispiel um eine praktische Übung handelt.

Viele Menschen gehen davon aus, dass man Zahnmedizin und Humanmedizin mit stärkeren Beeinträchtigungen gar nicht erst studieren oder später in diesem Beruf praktizieren kann. Erleben Sie es häufiger, dass jemand denkt, so ein Studium sei aufgrund der eigenen Einschränkungen unmöglich?

Kaim: Das kommt vor. Im Medizinstudium geht man vom häufig vom „idealen Studierenden“ aust. Es ist ein hartes Studium und wenn man in der „Welt der Inklusion“ noch nicht angekommen ist, fehlt meist die Fantasie, sich ein Studium mit Einschränkungen vorzustellen. Wichtig ist aber, zwischen Studium und Arbeit zu unterscheiden. Wenn jemand (Zahn-)Medizin studiert, heißt das ja nicht, dass er danach auch unbedingt als Mediziner arbeiten muss. Man kann ja durchaus in die Forschung gehen, an der Uni bleiben, etc. Von daher geht es eher um die freie Berufswahl, die auch im Grundgesetz geregelt ist. Wenn jemand etwas studieren möchte, darf eigentlich nicht die Frage im Vordergrund stehen, ob die Person später in dem Beruf arbeiten wird. Bekommt jemand eine Zulassung, müssen die Hochschulen auch das Studium ermöglichen. Natürlich gibt es Einschränkungen. Jemand der komplett blind ist, wird wahrscheinlich nicht Medizin studieren können, da auch im Studium Sehen eine zu wichtige Kernkompetenz ist.

Es ist schon so, dass bei manchen Studiengängen die Sorge größer ist als bei anderen. Das Zahnmedizinstudium ist beispielsweise sehr getaktet und man hat praktische Übungen im Labor. Das kannn organisatorisch durchaus aufwändiger sein und es kann gut sein, dass man nicht in der Regelstudienzeit fertig wird – aber unmöglich ist es nicht.

Wie könnte man denn Alternativleistungen für Labore erbringen?

Kaim: Das ist sehr individuell. Ist jemand motorisch etwas eingeschränkt, könnte man mit einer Assistenz arbeiten. Dabei leitet der Studierende die Person ganz genau an und diese führt nur die Anweisungen aus. Aber das hängt von der genauen Veranstaltung ab und sollte am besten zusammen mit dem Fachbereich abgeklärt werden. Bei Prüfungen kann aber beispielsweise eine Pause eingelegt oder die Prüfung aufgeteilt werden. Bei manchen Veranstaltungen kann vielleicht auch ein praktischer Teil durch eine schriftliche Arbeit oder eine mündliche Prüfung ersetzt werden. Das ist sowohl von Hochschule zu Hochschule wie auch von Fall zu Fall unterschiedlich.

Es ist auf jeden Fall wichtig, sich vorher genau zu informieren. Auch wenn man keinen Ausgleich in Anspruch nehmen will. Denn viele kommen erst zu mir, wenn es zu spät ist und sie zum Beispiel endgültig durch eine Klausur gefallen sind. Nur: Rückwirkend etwas zu ändern ist fast nicht möglich. Daher sollte man sich wenigstens vorher unverbindlich informieren, denn so hat man die Möglichkeit, zu entscheiden, ob man einen Ausgleich in Anspruch nimmt.

Warum haben Studierenden oft Hemmungen, einen Nachteilsausgleich zu beantragen?

Kaim: Dafür gibt es drei Hauptgründe. Erstens das Unwissen. Vielen ist gar nicht bewusst, dass es an deutschen Hochschulen solch ein Angebot gibt, obwohl fast jede Hochschule eine Beratungsstelle hat und der Anspruch auf Nachteilsausgleich in der Prüfungsordnung verankert ist. Gleichzeitig ist auch die Angst da, sich zu „outen“ und stigmatisiert zu werden. Beratungen an der Hochschule sind immer vertraulich und auch anonyme möglich. Wenn jemand einen Nachteilsausgleich beantragt und Atteste einreicht, dürfen diese nicht weitergereicht werden oder digitalisiert werden. Das empfinden viele als beruhigend, gerade bei psychischen Erkrankungen.

Viele Studierende haben auch Hemmungen, einen Nachteilsausgleich zu beantragen, weil sie denken, das sei eine Erleichterung. Dabei bekommt man ja keine Leistung erlassen, sondern Nachteile ausgeglichen. Oft höre ich, dass man alles aus eigener Kraft schaffen will. Worauf ich antworte: „Das tun Sie ja!“ Denn wenn jemand schwer beeinträchtigt ist und keinen Antrag auf Nachteilsausgleich stellt, muss die Person ja mehr leisten als jemand, der gesund ist. Letztendlich schadet man sich damit nur selbst. Wobei ich natürlich verstehe, dass die Leute erst einmal schauen wollen, wie das Studium läuft, bevor sie etwas beantragen.

Inwiefern stellt die Uni eigentlich Hilfsmittel oder beispielsweise eine Assistenz zur Verfügung?

Kaim: Normalerweise stehen Menschen mit Bedarf solche Hilfsmittel zu und die werden fürs Studium über den Sozialhilfeträger beantragt. Wenn jemand fürs Studium eine Studienassistenz benötigt, ist auch das Sozialamt dafür zuständig, dass die Person Gelder dafür beantragen kann. Wir unterstützen die Studierenden dabei, eine passende Person zu finden, falls sie nicht schon jemanden haben. Manchmal ist es auch so, dass Kommilitoninnen oder Kommilitonen die Assistenz übernehmen, da sie ohnehin in den Veranstaltungen dabei sind. In diesem Fall ist die Assistenz oft auch zeitlich besser zu organisieren. Die Studierenden suchen mit mir und manchmal auch dem Fachbereich nach einer passenden Person, die sie gerne als Assistenz hätten.

Welche Maßnahmen wurden an der JLU für das barrierefreie Studieren umgesetzt?

Kaim: Bei Neubauten ist Barrierefreiheit sowieso verpflichtend, die Universität Gießen hat aber auch Gebäude, die bereits im 16. Jahrhundert erbaut wurden. Die Veranstaltungsräume in solchen Gebäuden stehen unter Denkmalschutz. Das heißt, es gibt Gebäude, die nicht barrierefrei zugänglich sind und nicht umgebaut werden können. Da sind wir darauf angewiesen, dass die Studierenden sich rechtzeitig bei uns melden, damit wir auf deren Bedürfnisse eingehen können und die Veranstaltung in einen anderen Raum oder ein neues Gebäude oder ein mit Rampen und Aufzügen ausgerüstetes Gebäude verlegen können.

Es gibt auch eine Präsidiale AG barrierefreies Studieren bei uns, die die von der/dem Vizepräsidenten/in geleitet wird und halbjährlich tagt. Darin vertreten sind unter anderem das Baudezernat und das Rechtdezernat der Universität, das Studentenwerk, der AStA und ich. Der AG geht es darum, wie man die Barrierefreiheit vorantreiben kann – sowohl was bauliche Barrieren angeht, aber auch Barrieren in den Köpfen oder in Prüfungsverfahren.  

Die Webseite der JLU ist mit einem Screenreader lesbar und die Downloads auf unserer Webseite sind auf jeden Fall barrierearm. Komplett barrierefrei ist immer sehr schwierig. Die Webseite ist fast barrierefrei. [Anm. d. Red.: Ein Screenreader oder eine Vorlese-Anwendung ist eine Software, die Blinden und Sehbehinderten hilft, Webseiten zu benutzen, die sonst über eine grafische Benutzeroberfläche funktionieren. Ein Screenreader liest beispielsweise per Audioausgabe Texte vor oder gibt diese mithilfe eines Brailledisplays in Blindenschrift wieder. Aber auch Bedienelemente und die von den Webseiten-Erstellern eingebenen Informationen über Grafiken und Bilder können so ausgegeben werden, weshalb barrierearme Webseiten gut gepflegt sein müssen.]

Wir prüfen die Seite intern. Wir haben das Glück, dass unser Webredakteur sich sehr gut mit Barrierefreiheit auskennt. Manchmal arbeiten wir auch mit dem BliZ zusammen, dem Blindenzentrum an der Technischen Hochschule Mittelhessen.

Was sehen Sie als größte Hürde an der Uni für Studierende mit Einschränkungen?

Kaim: Die Barrieren im Kopf. Die Dozentinnen und Dozenten für inklusive Lehre zu sensibilisieren ist definitiv ein Thema: Inklusion als relevant zu erachten, auch wenn man gar nichts damit zu tun hat und selbst nie betroffen war.

Es wäre auch sehr hilfreich, wenn es eine starke Community unter den Studierenden mit Beeinträchtigungen gäbe, die ihre Rechte erkämpfen. In den acht Jahren, die ich hier bin, hat sich bereits einiges getan. Es ist nur aber lange keine Barrierefreiheit erreicht und der Prozess erfordert immer wieder Leute, auch Betroffene, die Dinge ansprechen und vorantreiben. Ich habe vollstes Verständnis dafür, wenn man bei einem Studium mit Beeinträchtigung nicht mehr die Energie hat, um sich zusätzlich noch zu engagieren. Nur kann eben eine studentische Initiative auch viel bewegen. Und das wäre schön und wichtig.