„Pflicht – rein rechtlich ja. Lästig aber keinesfalls, wenn man den Sinn und die Praxisrelevanz dahinter erkennt.“, so Frau Dr. Catherine Kempf, (Anästhesistin, Referentin zum Thema „Allgemein-medizinisches Wissen in der Zahnarztpraxis“). Im Interview gibt sie Einblicke in ein Thema, das jeder aus dem Praxisalltag kennt, jedoch oft von Zahnarzt wie auch Patient als lästige und unnötige Bürokratie fehlinterpretiert wird. Für E-WISE hat sie dazu eine Online-Fortbildung erstellt.
Frau Dr. Kempf, warum hat in Ihren Augen die allgemeinmedizinische Anamnese eine unterschätzte Bedeutung?
Dr. Catherine Kempf: Da wenige Zahnärzte eigene Erfahrungen mit schweren Zwischenfällen gemacht haben, ist das Bewusstsein für diese Risiken kaum ausgeprägt. Jedoch verdeutlichen Autopsiestudien, dass 80 Prozent der Arztfehler auf eine unzureichende Anamnese zurückzuführen sind. Somit wir klar, dass der Zahnarzt seiner Verantwortung, bezogen auf eine komplikationslose Behandlung der Patienten, nur durch das Beachten der Anamnese gerecht werden kann. Wenn die Anamneseerhebung gut organisiert ist und der Patient mit einbezogen wird, kann diese unkompliziert in den Praxisalltag intergiert werden, Komplikationen verhindern und die Patientenbindung durch aufgebautes Vertrauen und verbesserte Compliance optimieren.
Wie oft passieren denn eigentlich notärztliche Zwischenfälle in der Zahnarztpraxis?
Kempf: Lassen Sie mich das mit einem Vergleich beantworten. Ohne genaue Prozente Zahlen nennen zu wollen, ereignen sich ähnlich viele notärztliche Zwischenfälle wie schwere Autounfälle. Zum Glück beschränken sich die Notfälle in der Zahnarztpraxis auf Risikopatienten, wie zum Beispiel der herzkranke Patient, der eine höhere Wahrscheinlichkeit für Synkopen oder Herz-Komplikationen mitbringt als Gesunde. Ein Patienten, der innerhalb der vergangenen sechs Monate eine Herzinfarkt erlitten hat, ist auch ein gutes Beispiel, wie durch richtige Konsequenzen aus der Anamnese sogar lebensbedrohliche Zwischenfälle vermieden werden können. In diesem Falle müssen die Kontraindikationen, wie keine elektiven Eingriffe in diesem Zeitraum und das Vermeiden einer Lokalanästhesie mit Vasokonstriktor wegen der Gefahr herzbelastender Tachykardie beachtet werden.
Können Sie ein Beispiel für einen Zwischenfall nennen, für den die Zahnärzte verantwortlich sind – möglicherweise ohne sich dessen bewusst zu sein?
Kempf: Hier gibt es in der Tat einen nicht ganz seltenen Fall. Es handelt sich um die Verabreichung eines typischen Schmerzmittels wie Ibuprofen (oder andere NSARs). Ibuprofen wird über die Niere ausgeschieden, das heißt bei einem Patienten, der eine vorbestehende Niereninsuffizienz hat (zum Beispiel Diabetiker oder physiologisch im Alter) und noch Medikamente, wie Antihypertensiva einnimmt, kann die Ibuprofenverordnung zu einem akuten Nierenversagen führen, welches intensivmedizinisch behandelt werden muss. Durch Dosisreduktion oder Alternativmedikationen lassen sich solche Notfälle vermeiden! Sich die Kontraindikationen der verordneten Medikamente einmal bewusst zu machen, das lohnt sich immer wieder.
Wie wichtig ist in diesem Zusammenhang die Medikamentenanamnese?
Kempf: Extrem wichtig! Zum einen zeigen uns die Medikamente, an was der Patient erkrankt ist, ohne dass er dies möglicherweise selber angegeben hat. Zum zweiten können so unklare orale Befunde eventuell den Nebenwirkungen zugeordnet werden. Und zum dritten hilft es dem Behandler Wechselwirkungen mit den in der Zahnarztpraxis eingesetzten Mitteln zu vermeiden.
Wie steht es um rechtliche Aspekte beim Anamnesebogen? Reicht es, diesen alle 2 Jahre zu aktualisieren?
Kempf: Hier ein ganz deutliches: Nein! Nur eine aktuelle Anamnese ist sinnvoll! Zu oft ändern sich wesentliche Fakten. Im Patientenrechtegesetz wird dem entsprechend auch eine Aktualisierung der Anamnese im „unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der Behandlung“ verlangt. Meistens ist das einem „jedes Mal“ gleichzusetzen.
In diesem Zusammenhang: Ist die Unterschrift des Patienten unter dem Anamnesebogen rechtsbindend?
Kempf: Auch hier wieder ein: nein! Aber im Rechtsfall muss der Behandler den Nachweis erbringen, eine ausführliche Anamnese erstellt zu haben. Das Wort der Assistentin als Zeugin einer mündlichen Anamnese gilt wenig, da eine mögliche Befangenheit durch das Arbeitsverhältnis angenommen wird. Dementsprechend ist die Unterschrift sehr zu empfehlen. Zudem wird ein Patient, wenn er seine Angaben unterschreiben muss, die Anamnese sorgfältiger, bewusster und kompletter ausfüllen, als wenn er nur freundlich gefragt wird: Und wie geht’s? Hat sich was bei Ihnen verändert? Denn das kennen wir ja alle: wenn wir etwas unterschreiben sollen, bekommt es, mit dem Bewusstsein über mögliche Konsequenzen, eine höhere Wertigkeit.“
Zum Schluss: Würden Sie einen typischen Fall schildern, der die Wichtigkeit der Anamnese verdeutlicht?
Kempf: Ein fast alltäglicher Fall ist der Asthmapatient. Es ist nicht in allen Praxen bekannt, dass einige Chlorhexidinprodukte bei dieser Patientengruppe kontraindiziert sind. Der Grund liegt vermutlich im üblichen Pfefferminzzusatz dieser Produkte. Im Zweifel muss auf Alternativen ausgewichen werden.“
Wie wichtig ist denn in diesem Zusammenhang die ständige Weiterbildung? „Sehr wichtig, wie ich finde. Gerade auf Grund innovativer medizinischer Therapien und Medikationen und der zunehmenden Polypharmazie älterer Patienten haben wir mit ständig neuen Herausforderungen, auch in der zahnmedizinischen Betreuung zu kämpfen. Die Zeit, sich zu diesen Themen in Seminaren, Kongressen oder auch flexibel online fortzubilden, ist eine wert- und sinnvolle Investition für die Lebenszeit der Patient – und der eigene Praxis.
Das Interview führte Dr. Silke Waggershauser, Zahnärztin und freie Journalistin aus Madrid.
Weitere Informationen zu diesem Thema erhalten Sie im Online-Seminar „Die allgemeinmedizinische Anamnese in der Zahnarztpraxis“ auf . Das Seminar ist mit 3 CME-Punkten zertifiziert.