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Parodontitis: Prävalenz geht nicht mehr zurück

Oralmedizin kompakt — Interview: Prof. Dr. Peter Eickholz zur Frage, wie Häufigkeit und Behandlungsbedarf in Deutschland einzuschätzen sind

Im März 2025 präsentierte das Institut der Deutschen Zahnärzte (IDZ) weitere Ergebnisse der sechsten Deutschen Mundgesundheitsstudie (DMS 6) [1]. Diese zeigen, dass Zahnlosigkeit ­immer seltener wird und Menschen auch im ­höheren Alter viele eigene Zähne im Mund haben [2]. Zugleich bleibt die Erkrankungshäufigkeit ­sowohl bei Karies als auch bei Parodontitis hoch [3, 4]. 

Prof. Dr. Peter Eickholz, Direktor der Poliklinik für Parodontologie am Carolinum (Goethe-Universität, Frankfurt am Main) war an der DMS 6 und ebenso an der Behandlungsrichtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) maßgeblich beteiligt. 

Im dzw-Interview erklärt er, warum die in der Mundgesundheitsstudie ermittelte Parodontitis-Prävalenz zu hoch ist – und nimmt Stellung zum tatsächlichen Behandlungsbedarf.

Portrait eines Mannes

Prof. Dr. Peter Eickholz, Direktor der Poliklinik für Parodontologie am Carolinum (Goethe-Universität, Frankfurt am Main) war an der DMS 6 und ebenso an der Behandlungsrichtlinie des G-BA maßgeblich beteiligt.

Nach den Ergebnissen der DMS sechs hat fast jeder Erwachsene Parodontitis. Sind diese sehr hohen Prävalenz-Werte realistisch?

Prof. Dr. Peter Eickholz: Damit die Zahlen der DMS sechs besser verständlich sind, muss ich etwas ausholen. Die für die Studie genutzte Par-odontitis-Klassifikation von 2018 basiert in erster Linie auf dem klinischen Attachmentniveau (CAL), also dem Abstand vom Taschenfundus zur Schmelz-Zement-Grenze [5]. Das Stadium eins entspricht einem Attachmentverlust von ein bis zwei Millimetern, bei Stadium zwei sind es drei bis vier Millimeter. Die Werte müssen inter­dental an zwei nicht benachbarten Zähnen festgestellt werden, also führt ein gemessener Attachmentverlust von je einem Millimeter an zwei Zähnen bereits zu einer Einstufung als Par-
odontitis.

Dieser Ansatz führt dazu, dass die Gesamthäufigkeit zu hoch eingeschätzt wird, mit 95,1 Prozent besonders bei den 35- bis 44-Jährigen. Zum anderen sind in dieser Zahl auch Fälle enthalten, bei denen es in der Vergangenheit zu Attachmentverlusten gekommen ist, bei denen aber keine parodontale Entzündung mit erhöhten Sondierungstiefen mehr vorliegt. Es besteht somit kein Therapiebedarf mehr [4, 6]. Dieser Wert sagt also nur etwas über einen bereits stattgefundenen Attachmentverlust aus, nicht über die Behandlungsbedürftigkeit.

Außerdem sind klinische parodontale Messungen mit einem Fehler von plus oder minus ein Millimeter behaftet, so dass in der Klassifikation wahrscheinlich auch parodontal Gesunde als erkrankt eingeordnet werden. Bei Patienten mit 28 Zähnen werden 112 interdentale Stellen gemessen. Es ist also leicht möglich, dass eine Person, die tatsächlich keine Parodontitis hat, als Stadium eins eingestuft wird.

Welche Rolle spielt das Alter?

Eickholz: Im Querschnitt der DMS sechs wurden einerseits jüngere Erwachsene zwischen 35 und 44 Jahren, andererseits jüngere Senioren im Alter von 65 bis 74 Jahren untersucht. In der älteren Probandenstichprobe sind die ermittelten Prozentsätze für die Stadien drei und vier mit 52,7 Prozent eher zu niedrig angesetzt. Grund ist, dass knapp 10 Prozent der Zähne in dieser Altersgruppe nicht klassifiziert werden konnten, zum Beispiel wegen Überkronung. Die für Attachment-Messungen benötigte Schmelz-Zementgrenze ist hier in der Regel nicht mehr bestimmbar, so dass nur Sondierungstiefen erhoben werden konnten.

Die epidemiologisch ermittelte Parodontitis-Häufigkeit wird außerdem durch die langfristig stark zurückgehende Zahnlosigkeit und die individuell höhere Zahl verbleibender Zähne beeinflusst. So hatten jüngere Senioren im Jahr 2005 durchschnittlich 14 Zähne, im Jahr 2023 waren es fast 20 [7]. Dieser Befund erklärt aber nur zum Teil, warum sich die über die letzten Jahrzehnte deutlich reduzierte Parodontitis-Prävalenz nicht weiter in die richtige Richtung entwickelt. So ist die Häufigkeit behandlungsbedürftiger schwerer Parodontitiden bei jüngeren Senioren nach einem Rückgang von 29,1 auf 21,7 Prozent zwischen 2005 (DMS 4) und 2014 (DMS 5) für das Jahr 2023 (DMS 6) wieder auf 30,4 Prozent gestiegen. Dies, obwohl die Zahl verbleibender Zähne gegenüber der vorangegangenen Studie nur noch geringfügig gestiegen ist [7].

Um die Werte aus den DMS-Studien vergleichen zu können, wurde für die zuletzt genannten Zahlen der Code vier des CPI (Community Periodontal Index) erhoben, auf dem der par-odontale Screening-Index (PSI) basiert [8]. Dieser misst keinen Attachmentverlust, sondern nur Sondierungstiefen. Trotz dieser Einschränkung müssen wir davon ausgehen, dass es nach wie vor einen sehr hohen Prozentsatz behandlungsbedürftiger schwerer Parodontalerkrankungen – zumeist Parodontitis – gibt. Obwohl es sich bei den Zahlen nur um Querschnittsdaten handelt und eine Entwicklung daraus nur bedingt abgeleitet werden kann, scheint sich die Prävalenz zudem aktuell nicht weiter in die gewünschte Richtung zu bewegen.

Wie könnte der Behandlungsbedarf aussehen, wenn aktuelle diagnostische und ätiologische Erkenntnisse berücksichtigt werden?

Eickholz: Wie sich aus der Antwort zur ersten Frage ergibt, haben viele jüngere Erwachsene, bei denen nach der aktuellen Klassifikation eine Parodontitis ermittelt wurde, wahrscheinlich „nur“ eine Gingivitis. Stadium-eins-Parodontitis entspricht einem Übergang von Gingivitis zu Parodontitis und – wie oben erläutert – klinisch nicht zuverlässig zu diagnostizieren [6, 9]. 

In der Praxis hat dies aber kaum Bedeutung, weil die Mehrheit der niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen das Stadium anhand von Röntgenbildern beurteilen. Damit kommt als Kriterium der radiologische Knochenabbau hinzu. Ab einer Distanz zwischen Schmelz-Zement-Grenze und Knochen von drei Millimetern ist von Parodontitis auszugehen. Als weiteres Kriterium kommt eine Sondierungstiefe von mindestens vier Millimetern hinzu [10]. Bei diesem Vorgehen kann der genannte methodische Fehler nicht auftreten und die Werte für eine Behandlungsbedürftigkeit nach Richtline – immer noch 73 Prozent – sind klinisch relevant. 

KI-Training mit Gingivitis plus Stadium eins

Auf der Europerio-11-Tagung war die Schwierigkeit, Stadium-eins-Parodontitis klinisch aufgrund des Attachment-Niveaus (CAL) zuverlässig festzustellen, ein viel diskutiertes Thema. So wird künstliche Intelligenz an der Unterscheidung von Gingivitis und Stadium-eins-Parodontitis gegenüber Stadium zwei, drei und vier trainiert und nicht an der Unterscheidung von Gingivitis zu Parodontitis Stadium eins bis vier. Daran lässt sich erkennen, dass diagnostische Schwellenwerte fortlaufend evaluiert und angepasst werden müssen. Beispiele sind zuletzt nach unten korrigierte Blutdruck- und nach oben korrigierte HbA1c-Werte.

Welche Konsequenzen haben diese Befunde für die Versorgung nach der deutschen Parodontitis-Richtlinie? 

Eickholz: Für Deutschland lässt sich aus den vorhandenen Daten zusammenfassen, dass die weiter reduzierte Zahnlosigkeit ein klarer Präventionserfolg ist. Und dass die Menschen in den betrachteten Altersgruppen mehr Zähne haben. Folge ist, dass unter den Erwachsenen und jüngeren Senioren im Vergleich zur vorangegangenen DMS-Studie jetzt 14 statt zirka elf Millionen Patienten eine schwere behandlungsbedürftige 
Parodontalerkrankung aufweisen (Sondierungstiefen/ST ≥ 6 mm). Die im Juni 2021 in Kraft getretene Behandlungsrichtlinie hat diese Befunde übrigens nicht beeinflusst. Dafür ist die Zahl von zirka 1,4 Millionen abgerechneten Therapiefällen im Jahr 2022 und nur noch einer Million im Jahr 2024 – im Vergleich zu 14 Millionen schweren Erkrankungen – viel zu gering.

„Prävalenzwerte unter diesen Bedingungen nicht veränderbar“

Die Behandlungszahlen sind durch die Budgetierung sogar wieder unter das Niveau von vor Einführung der Richtlinie zurückgegangen. Unter diesen Bedingungen können die immer noch hohen Prävalenzwerte nicht nachhaltig verändert werden. Die DMS 6 ist übrigens ein Werk, das nicht alle medizinischen Fachgebiete auf diesem Niveau geliefert haben. Die Zahnmedizin macht in Deutschland der übrigen Medizin vor, wie Prävention geht. Es bleibt zu hoffen, dass das starke und positive Medienecho auf die Studie von der Gesundheitspolitik registriert wurde und zu richtigen Folgerungen im Interesse unserer Patienten führen wird.

Wie können wir die weltweit hohe Parodontitis-Prävalenz primär präventiv in den Griff
 bekommen? Welchen Handlungsbedarf sehen Sie?

Eickholz: Wir haben verglichen, wie sich die Querschnittsdaten der letzten drei Mundgesundheitsstudien verändert haben. Diese Trenddaten weisen darauf hin, dass sich ein höherer Bildungsgrad, ein geringerer Anteil von Rauchern bei den jüngeren Erwachsenen und die Verwendung von Hilfsmitteln zur Interdentalreinigung sowie elektrischen Zahnbürsten jeweils positiv auf den Zahnerhalt auswirken [7]. 

Das sind Beobachtungen für Deutschland. Die Zusammenhänge sind sehr wahrscheinlich nicht ohne weiteres auf andere Regionen vor allem außerhalb Europas übertragbar, wo zum Beispiel elektrisch betriebene Mundhygieneprodukte nicht zur Verfügung stehen. Anderenfalls wären Mundhygiene mit modernen Hilfsmitteln, Bildung und Maßnahmen gegen das Rauchen, in Bezug auf die allgemeine, aber auch auf die parodontale Gesundheit förderlich.

Das Interview führte Dr. Jan H. Koch während der Europerio in Wien. 

Dr. Jan H. Koch

Dr. med. dent. Jan H. Koch ist approbierter Zahnarzt mit mehreren Jahren Berufserfahrung in Praxis und Hochschule. Seit dem Jahr 2000 ist er als freier Fachjournalist und Berater tätig. Arbeitsschwerpunkte sind Falldarstellungen, Veranstaltungsberichte und Pressetexte, für Dentalindustrie, Medien und Verbände. Seit 2013 schreibt Dr. Koch als fester freier Mitarbeiter für die dzw und ihre Fachmagazine, unter anderem die Kolumne Oralmedizin kompakt.

Mitglied seit

7 Jahre 10 Monate

Literatur

[1] Jordan AR, Wiltfang J, Geurtsen W, et al. DMS * 6: All new ! Quintessence Int. 2025;56(11):S2-S3. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/40091716 .
[2] Wostmann B, Samietz S, Jordan AR, et al. Tooth loss and denture status: results of the 6th German Oral Health Study (DMS * 6) https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/40091723 . Quintessence Int. 2025;56(11):S60-S8. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/40091723 
[3] Jordan A, Meyer-Lückel H, Kuhr K, et al. Karieserfahrung und Versorgung in Deutschland: Ergebnisse der 6. Deutschen Mundgesundheitsstudie (DMS • 6). DZZ 2025;80(2):90-100. 
[4] Eickholz P, Holtfreter B, Kuhr K, et al. Prävalenz von Parodontalerkrankungen in Deutschland: Ergebnisse der 6. Deutschen Mundgesundheitsstudie (DMS • 6). DZZ. 2025;80(2):102-10. 
[5] Papapanou PN, Sanz M, Buduneli N, et al. Periodontitis: Consensus report of workgroup 2 of the 2017 World Workshop on the Classification of Periodontal and Peri-Implant Diseases and Conditions. J Periodontol. 2018;89 Suppl 1:S173-S82. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/29926951  
[6] Eickholz P, Holtfreter B, Kuhr K, et al. Prevalence of the periodontal status in Germany: results of the 6th German Oral Health Study (DMS * 6). Quintessence Int. 2025;56(11):S40-S7. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/40091721  
[7] Kocher T, Eickholz P, Kuhr K, et al. Trends in periodontal status: results from the German Oral Health studies from 2005 to 2023. Quintessence Int. 2025;56(11):S48-S58. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/40091722  
[8] Ainamo J, Barmes D, Beagrie G, et al. Development of the World Health Organization (WHO) community periodontal index of treatment needs (CPITN). Int Dent J. 1982;32(3):281-91. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/6958657  
[9] Jordan AR. Die neue Klassifikation bei Parodontalerkrankungen. DMS 6 im Detail, Teil 2: Parodontitis. zahnärztliche mitteilungen. 2025;115(9):766-8. https://www.zm-online.de/artikel/2025/zm-2025-09/die-neue-klassifikation-bei-parodontalerkrankungen  
[10] Gemeinsamer Bundesausschuss GBA. Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses zur systematischen Behandlung von Parodontitis und anderer Parodontalerkrankungen (PAR-Richtlinie). in der Fassung vom 17. Dezember 2020 veröffentlicht im Bundesanzeiger am 21. Juni 2021 (BAnz AT 21.06.2021 B2) in Kraft getreten am 1. Juli 2021 https://www.g-ba.de/richtlinien/124/ . 2021.