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"Karies-Leitkeime bleiben bedeutsam"

Mikroorganismen

In oralen Biofilmen finden sich zahlreiche Mikroorganismen, deren Rolle für orale und odontogene Infektionen ungeklärt ist. (Fluoreszenz-Mikroskopie nach Lebend-Tod-Färbung, 200-fache Vergrößerung).

Im Rahmen des Kongresses der Europäischen Organisation für Kariesforschung (ORCA) wurde im vergangenen Jahr in Brüssel eine Umfrage zur Kariesätiologie durchgeführt. Laut Pressemitteilung des Prophylaxe-Anbieters Colgate Palmolive Gaba waren 76 Prozent der versammelten Experten der Meinung, dass es sich bei Karies nicht um eine übertragbare Erkrankung handelt. Professor Georg Conrads, Leiter des Lehr- und Forschungsgebietes Orale Mikrobiologie und Immunologie am Universitätsklinikum Aachen, nimmt dazu im Gespräch mit DZW-Autor Dr. med. dent. Jan H. Koch Stellung.

DZW: Herr Professor Conrads, stimmen Sie mit der Bewertung Ihrer Kollegen auf der ORCA überein? Oder sind aus Ihrer Sicht S. mutans und Laktobazillen weiterhin als Leitkeime für Karies zu bewerten?

Prof. Georg Conrads: Zweifellos sind Streptococcus mutans und an kariösen Läsionen haftende Laktobazillen Leitkeime der Kariesprogression. Hinzu kommen Bifidobacterium dentium und einige weitere azidophile oder azidogene Bakterienarten [1]. Bei der Abstimmung in Brüssel ging es um die Frage, ob diese Leitkeime von einem kariös erkrankten auf einen zahngesunden Menschen übertragbar sind und daraus mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit wieder Karies entsteht. Dies entspräche dem Wesen einer Infektionserkrankung nach den Koch’schen Postulaten.

Zum Hintergrund: Es gibt praktisch keine bakterielle Infektion, die einfach übertragbar ist, das heißt mit einer Wahrscheinlichkeit von 90 Prozent und höher. Dafür ist immer eine gewisse infektiöse Dosis notwendig, die nicht selten bei einigen tausend Erregerzellen liegt. Hinzu kommt eine – ebenfalls notwendige – Prädisposition des Empfängers. Eine übertragbare bakterielle Infektion ist auch nie wirklich monokausal, wie es in der Pressemitteilung kommuniziert wurde.

DZW: Die aktuelle Kariesforschung zeigt, dass bei Karies die mikrobielle Zusammensetzung im Biofilm verändert ist. Dabei spielen offenbar zahlreiche Arten eine pathogene Rolle. Greift eine Reduzierung auf einige „Schurkenkeime“ nicht zu kurz?

Conrads: Früher nahm man an, dass zum Beispiel Durchfallerkrankungen von nur einem Erreger, einer Viren- oder einer Bakterienart verursacht werden. Mit modernen diagnostischen Methoden werden heute häufig mehrere pathogene Arten in einer Probe gefunden, Stichwort polymikrobielle Infektion, vulgo Mischinfektion [2]. Gleiches gilt für die Pneumonie, Harnwegsinfektionen, die Parodontitis oder eben auch die Karies. Hinzu kommen Wirtsfaktoren, wie der Immunstatus oder bei Karies die Ernährung.

Die Virulenz der Karies-Leitkeime ist aber – verglichen mit Salmonellen oder Noroviren – gering. Das Ansteckungsrisiko liegt bei Erwachsenen deutlich unter 10 Prozent, aber sicher nicht bei Null. Relativ häufig oder sehr häufig ist eine Ansteckung – nennen wir es hier aber lieber Kolonisation – im Zeitfenster von der Geburt bis zum Abschluss der Pubertät.

Nach der Geburt und vor allem nach dem Zahndurchbruch etabliert sich zunächst die Primärflora. Während der Pubertät kommen – teils hormonstimuliert – zusätzliche anaerobe Mikroorganismen hinzu, auch Parodontitis-assoziierte. Im Erwachsenenalter ist dann die Übertragung neuer Keime relativ unwahrscheinlich.

DZW: Wie hätten Sie denn in Brüssel abgestimmt?

Conrads: Da die Frage nach einem Übertragungsrisiko altersspezifisch zu sehen ist, halte ich sie nicht für besonders seriös. Mit Ja-/Nein-Befragungen wird keine Wissenschaft gemacht oder gar das Verständnis erweitert. Das Ergebnis kann nur ein Meinungsbild sein. Eine solche Abstimmung ist aber zweifellos "catchy", wie die daraus resultierende Aufmerksamkeit zeigt, einschließlich dieses Interviews.

Was mich stört: Die Forschungsleiterin von Colgate Gaba bezeichnet im Pressetext das Meinungsbild als Paradigmenwechsel. Anschließend wird umfangreich auf eine neue Zahncreme eingegangen, die bei der lebenslangen Prävention helfen soll. Das ist eine klassische Vermengung von Wissenschaft und Industrie-Interessen.

Unverständlich ist auch, warum eine auf einzelne Leitkeime zurückgeführte Kariesätiologie einer Prävention mit Säureregulatoren oder Fluoridpräparaten widersprechen sollte. Natürlich ist das alles gut vereinbar. Dass säuretolerante Bakterien bei der Etablierung aktiver Läsionen wichtig sind, ist nicht umstritten. Und wenn Kinder ein paar besonders säurefeste Bakterien übertragen bekommen, zum Beispiel von der Mutter, wird dies zu entsprechend aggressiven Läsionen führen.

DZW: Was sollten Zahnärzte jungen Eltern mit auf den Weg geben?

Conrads: Eine Studie der Universität Hannover belegt, dass eine bereits in der Schwangerschaft begonnene Mundgesundheitserziehung signifikant häufiger zu kariesfreien Gebissen im Erwachsenenalter führt [3]. In der Testgruppe, die auch auf übertragbare Erreger wie S. mutans untersucht wurde, waren am Ende der Untersuchung 92,3 Prozent der 18- bis 19-Jährigen Probanden kariesfrei, gegenüber 71,4 Prozent in der Kontrollgruppe. Ich frage mich, ob wir dieses Konzept einer früh beginnenden Mundgesundheitserziehung in der zahnärztlichen Ausbildung angemessen berücksichtigen.

Karies ist ein ausgeprägt multifaktorielles Geschehen. Ursächlich sind Zuckerzufuhr und langfristiges Vorhandensein eines pathogenen Biofilms. Besonders eifrige Bakterienarten erhalten die meisten Kinder in frühester Kindheit aus der nächsten Umgebung. In jedem Fall sollten Zahnärzte junge Eltern für dieses Thema sensibilisieren, damit sie sich und dem Baby gegenüber achtsam bleiben. Damit ist in erster Linie der regelmäßige Zahnarztbesuch mit Sanierung primärer und sekundärer Läsionen bei den Eltern gemeint.

Ebenso sollten von Beginn an überzuckerte Nahrungsmittel und Getränke vermieden werden. So wird verhindert, dass sich sporadisch übertragene kariogene Keime frühzeitig einnisten und dann rasch vermehren können. Später kommt die konsequente Zahnputzerziehung der Kinder hinzu, mit Kontrolle und Nachputzen. Niemals dürfen Maßnahmen die Nähe zwischen Eltern und Kind stören, also keine Angst vor Küssen oder auch mal vom Butterbrot abbeißen!

DZW: Welche Folgerungen ergeben sich daraus für Kariesrisiko-Diagnostik und Kariestherapie in der täglichen Praxis?

Conrads: Eine Kariesrisikodiagnostik auf Bakterienebene sollten wir in jedem Fall nicht aus dem Auge oder der Achtung verlieren. Dabei ist es wichtig, auf effiziente Weise mehrere Erregergruppen nachzuweisen und neben ihrer Anwesenheit auch ihre metabolische Aktivität zu bestimmen. Daran wird eifrig geforscht, auch in Aachen. Erweist sich dieser systemorientierte Ansatz als erfolgreich, könnte er die übliche klinische Diagnostik unterstützen (siehe EU-Projekt Diagoras, dzw.de/ZBNRJ).

Nicht kavitierte aktive Läsionen sollten im Übrigen nach Möglichkeit minimal-invasiv behandelt werden. Langzeitstudien werden die am ehesten zahnschonenden Verfahren offenbaren. Diese müssen dann nur noch konsequent angewendet und – um dies zu erreichen – gleichermaßen bezahlt werden. Das wäre dann ein echter Paradigmenwechsel.