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Spezial-OP durch den Mund: Mann nach Zugunglück gerettet

Ein 18-Jähriger erlitt schwere Verletzungen, als er in Freiburg vom Zug erfasst wurde.

Ein 18-Jähriger sei Ende Juni 2016 nachts an den Bahnschienen im Freiburger Stadtgebiet entlang gegangen, als ihn ein vorbeifahrender Zug erfasst habe. Erst am nächsten Morgen sei der schwerverletzte Mann vom Zugführer entdeckt worden. Ein Rettungswagen hätten ihn ins Notfallzentrum des Universitätsklinikums Freiburg gebracht .

Dort hätten die Ärzte anhand per Ganzkörper-Computertomogramm eine Reihe von Verletzungen festgestellt: Leber, Niere und Milz waren teilweise gerissen, Rippen gebrochen, die Lunge gequetscht. Durch einen kleinen Riss in einem inneren Gesichtsknochen drang Luft ins Gehirn ein. Außerdem waren ein Lendenwirbel und ein Halswirbel gebrochen.

Die niedrige Körpertemperatur des Patienten von 31 Grad Celsius sei zunächst das größte Problem gewesen. "Wäre es nachts etwas kälter gewesen, hätte er vermutlich nicht überlebt“, sagt PD Dr. Kilian Reising, Leitender Oberarzt der Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie. Auch die Behandlung des Patienten sei dadurch erschwert gewesen. Denn bei einer so niedrigen Körpertemperatur funktioniere die Blutgerinnung nicht mehr richtig. Unter diesen Umständen wäre eine Operation lebensgefährlich gewesen. Darum haben die Ärzte nach eigenen Angaben zunächst die Körpertemperatur langsam angehoben.

Da bei den inneren Verletzungen keine OP notwendig gewesen sei, habe man vor allem die  Wirbelbrüche stabilisieren wollen. Das Verbindungselement des zweiten Halswirbels, auf dem der erste Wirbel ruhe, sei abgebrochen und habe sich verschoben. Das Problem: Drückt der verschobene Wirbel auf das Rückenmark kann es zu einer Querschnittslähmung kommen.

Üblicherweise werden nach Angaben des Klinikums bei einem solchen Bruch mehrere Wirbel und der Kopf vom Rücken aus miteinander verschraubt. „Das bringt die nötige Stabilität, aber der Patient kann nie wieder seinen Kopf vollständig drehen. Das wollten wir dem jungen Mann nicht antun und haben deshalb alternative Lösungen gesucht“, erklärt Unfallchirurg Reising.

Aufwändige Operationen für mehr Lebensqualität

Daher öffneten sie auf Höhe des Kehlkopfes von vorne den Hals, schoben Luft- und Speiseröhre auf die eine und die großen Halsgefäße auf die andere Seite. Dann fixierten sie mit einer etwa vier Zentimeter langen Schraube den abgebrochenen Teil des Wirbels. Doch wenige Tage später zeigte sich, dass die Schraube den Wirbel nicht dauerhaft stabilisierte. Die Mediziner suchten daher einen neuen Weg, weiterhin in der Hoffnung, die Beweglichkeit des jungen Patienten zu erhalten.

Prof. Rainer Schmelzeisen, Ärztlicher Direktor der Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie des Universitätsklinikums Freiburg, und Prof. Norbert Südkamp, Direktor der Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie des Universitätsklinikums Freiburg, schlugen vor, durch den Mund hinter dem weichen Gaumen an die Wirbelsäule zu gelangen: eine Technik, die weltweit sehr selten durchgeführt wird. Die Halswirbelsäule und der gebrochene zweite Halswirbel liegen knapp unterhalb der Schädelbasis und unmittelbar hinter der Rachenhinterwand. Sie stellt den hintersten Bereich des Rachenraumes dar.

Spezielle Instrumente für den Eingriff

"Vorteil dieser Operation ist, dass man den vorderen Bereich der Halswirbelsäule und insbesondere die Wirbel unmittelbar unterhalb des Schädels direkt sieht. Über diesen Zugang ist eine anatomische Stabilisierung besonders gut möglich“, sagt Schmelzeisen. Der Kieferchirurg ist einer der wenigen weltweit, der eine solche Operation bereits zwei Mal im Leben durchgeführt hat. Die Schwierigkeit habe darin gelegen, dass das eigentliche Operationsgebiet sehr weit entfernt von der Mundöffnung sei, denn viele chirurgische Instrumente seien nicht lang genug für die Arbeit „in der Tiefe“.

Doch mit Stirnlampen, einer Platte aus der Handgelenkschirurgie, die eigentlich für die Stabilisierung von Brüchen der Speiche entwickelt wurde, und größter Anstrengung nutzten die Ärzte nach eigenen Angaben ihre Chance. Mit einem feinen Faden sei zunächst der weiche Gaumen mit dem Zäpfchen nach vorne und zur Seite bewegt und damit der Blick auf die Rachenhinterwand freigelegt worden.

Lebenswichtige Gefäße unverletzt

Mit einem etwa sechs Zentimeter langen Schnitt durch Schleimhaut und Muskulatur des Rachens habe Schmelzeisen die bindegewebige Faszienschicht vor der Wirbelsäule freigelegt. Nachdem er diese ebenfalls eingeschnitten habe, sei die knöcherne Fläche der Wirbel erschienen. Durch vorsichtige Präparation ei es ihm gelungen, eine Verletzung lebenswichtiger Gefäße wie die beidseits seitlich verlaufende innere Hirnschlagader zu verhindern.

Während der Operation sei eine Positionsbestimmung für die Chirurgen mit einem sogenannten Navigationsgerät erfolgt. Die CT-Röntgendaten des Patienten stehen laut Uniklinik während der Operation zur Verfügung. Die Spitze bestimmter Instrumente lasse sich während der Operation mit einer Infrarotkamera identifizieren und erlauben dem Operateur die exakte Positionsbestimmung auch bei eingeschränkter Sicht. Das Operationsergebnis könne dann mit einer Glasfaseroptik durch ein Endoskop überprüft werden und werde während der Operation auf einen großen Bildschirm im Operationssaal übertragen.

"Der gebrochene Wirbel ließ sich gut erkennen. Nachdem wir ihn freipräpariert hatten, konnten die Unfallchirurgen die Fixierung vornehmen“, sagt Schmelzeisen. Mit fünf Schrauben sei die t-förmige Metallplatte an den Wirbel angebracht worden. Schließlich wurde die Rachenhinterwand wieder vernäht. Gut drei Wochen nach dem schweren Unfall habe der Patient das Krankenhaus verlassen, mit einer sehr guten Gesundheitsprognose. „Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass er wieder vollständig gesund wird“, sagt Reising.