Der LUXX Award zeichnet junge Zahnmediziner aus, die eine Vision zum Leben erweckt, ein Konzept mit Leben gefüllt oder Problemen bei ihrer Praxisgründung erfolgreich getrotzt haben. Sie sollen anderen jungen Zahnärzten Mut für den Schritt in die Selbstständigkeit machen. Den vierten LUXX bekommt 2017 Dr. Julia Witthohn aus Stade, die nach einem Wochenende intensiven Brütens ein Konzept ihrer Traumpraxis aufschrieb und zu dem eindeutigen Ergebnis kam, dass sie sich selbstständig machen muss. Denn mit keinem Chef hätte sie ihre Wünsche und Vorstellungen komplett verwirklichen können.
Zurück nach Norddeutschland
Eigentlich hätte sie es sich mit dem Sprung in die Selbstständigkeit relativ einfach machen können. Denn nachdem ihre Entscheidung, sich beruflich auf eigene Füße zu stellen, gefallen war, wurde der Kieferorthopädin im Frühjahr 2015 quasi auf dem Silbertablett eine fix und fertig eingerichtete Praxis zur Übernahme angeboten – und das auch noch in ihrer norddeutschen Heimat, in die es die damals 32-Jährige ohnehin zurückzog. "Für das entsprechende Objekt hätte ich aber genauso viel Geld auf den Tisch legen müssen, wie mich dann der Umbau und die Einrichtung meiner jetzigen Räume gekostet haben", erinnert sich Witthohn.
Und so habe sie auch ihrer Hausbank bei der Kreditvergabe erst einmal erklären müssen, warum sie eher bereit war, den deutlich unbequemeren Weg mit all seinen drohenden Baustrapazen einzuschlagen: "Ich sagte ihnen, dass ich mit der Selbstständigkeit meinen persönlichen Traum leben will – und dass ich mich in der zum Kauf angebotenen, bereits komplett sanierten und ausgestatteten Praxis schlicht nicht wiedererkenne. Zum Glück konnte ich die Banker mit dieser konsequenten Haltung tatsächlich überzeugen."
Traum der Selbstständigkeit in Stadtvilla
Dass die Wahl schließlich auf eine im Jahr 1880 erbaute Villa in ihrer Geburtsstadt Stade fiel, hat Julia Witthohn nicht zuletzt ihrem Vater zu verdanken: "Ihm hatte ich eines Tages, eher aus Jux, den Link zu dieser im Internet angebotenen Immobilie geschickt. Und zwei Wochen später rief er mich plötzlich an und teilte mir mit, er habe mit dem Verkäufer einen Besichtigungstermin vereinbart." Zu diesem erschienen dann neben dem Herrn Papa auch eine Vertreterin vom Dental Depot sowie ihr persönlicher Finanzberater Nobert Demir aus Hamburg: "Alle drei haben mich davon überzeugt, dass sich mein Traum von der Selbstständigkeit in der Stadtvilla tatsächlich würde umsetzen lassen."
Dabei schienen die äußeren Voraussetzungen alles andere als ideal, berichtet die Gründerin: "Die Innenräume waren alle ziemlich abgewohnt, der Garten völlig verwildert. Ich selbst hatte zunächst einige Probleme, mir dort meine berufliche Zukunft vorzustellen. Aber mein Vater, der eine Heizungs-, Sanitär- und Elektrofirma betreibt, war sofort Feuer und Flamme." Und so ist dann alles plötzlich recht schnell gegangen: "Im Mai 2015 war die Besichtigung, im Juni der Notar-Termin und im November die Schlüsselübergabe." Die eigentliche Eröffnung fand schließlich im Februar 2016 statt. Heute besteht das Praxisteam aus Julia Witthohn und ihren drei Assistentinnen.
Stationen des Berufswegs
Für die Kieferorthopädin schloss sich mit der Rückkehr in ihre Geburtsstadt ein Kreis – war sie doch von ihrem 40 Kilometer entfernten Elternhaus aus einst aufgebrochen, um ihre berufliche Karriere in Angriff zu nehmen. So verschlugen sie Zufall und Numerus Clausus 2002 zunächst zum Zahnmedizinstudium nach Aachen. Dort legte sie Ende 2007 ihr Examen ab, bevor Witthohn ab Mitte 2008 ihr allgemeinärztliches Jahr in Vechta absolvierte.
Anschließend nahm sie eine Weiterbildungsstelle für Kieferorthopädie in Witten an, der wiederum ab Oktober 2011 ein Abstecher an die kieferorthopädische Abteilung der Tübinger Uniklinik folgte – gekrönt mit der erfolgreichen Facharzt-Prüfung zwölf Monate später. Nach weiteren beruflichen Zwischenstationen in Duisburg und in der Nähe von Brunsbüttel keimte in der "norddeutschen Pflanze" allmählich der Wunsch, zu ihren privaten Wurzeln zurückzukehren.
"Damals sperrte ich mich ein Wochenende lang zu Hause ein und überlegte, was ich beruflich eigentlich wirklich will", erzählt sie. "Anschließend schrieb ich ein Konzept meiner Traumpraxis nieder." Am Ende stand ein klares Ergebnis: "Ich musste mich einfach selbstständig machen. Denn meine Wünsche und Vorstellungen hätte kein Chef der Welt erfüllen können."
Daran, wie sich ihr Traumkonzept seinerzeit las, kann sich Julia Witthohn natürlich noch bestens erinnern: "Es begann mit der exakten Vorstellung, welches Bracket-System ich verwenden wollte und ging über den persönlichen Umgang mit dem Praxisteam bis hin zum Wunsch, die Erstberatung der Patienten endlich selbst durchzuführen. Das war mir während meiner Zeit als angestellte Zahnärztin meist verweigert worden."
Heute kann die Existenzgründerin voller Stolz und mit gutem Gewissen von sich behaupten, dass sie ihren damaligen Traum gleich im doppelten Wortsinn in die Praxis umgesetzt hat. So führt sie mit jedem Patienten als erstes ein ausführliches Planungsgespräch: "Ich erkläre nicht nur, wann genau welche Arbeitsschritte passieren, sondern auch, welche Kosten die Kasse übernimmt und welche Sonderwünsche die Eltern gegebenenfalls selbst finanzieren müssen“, betont die Kieferorthopädin, "denn Transparenz ist bei mir oberstes Gebot." Den jungen Patienten wiederum erläutert sie mithilfe eines großen Spiegels, warum sie überhaupt eine Spange tragen müssen. „Auf diese Weise können die Kinder die erzielten Fortschritte selbst am besten erkennen.“
Gender-Asepkt in Heimatstadt
Keineswegs verhehlen will Witthohn, dass sie gegenüber den beiden männlichen Mitbewerbern am Ort durchaus von einem geschlechtsspezifischen Vorteil profitiert: "Kinder-Patienten gehen häufig lieber zu einer Frau", lächelt sie. Dies mache sich spätestens dann bemerkbar, wenn selbst "ursprüngliche Angsthasen" irgendwann völlig entspannt und ohne elterliche Begleitung nach der Schule zu ihr in die Praxis kommen, den Ranzen in die Ecke pfeffern und lässig fragen: "Was machen wir heute?"
Um das Vertrauensverhältnis zusätzlich zu stärken, hat sich die 34-Jährige noch einen weiteren Aspekt auf die Fahne geschrieben: Da bei einer kieferorthopädischen Behandlung oft interdisziplinär gearbeitet werden muss, nimmt sie selbst Kontakt zu Logopäden, Physiotherapeuten und gegebenenfalls auch Kieferchirurgen auf. Diese Aufgabe den Eltern ihrer Patienten aufzuhalsen, kommt für Witthohn nicht infrage: "Ich bin ja selbst auch genervt, wenn ich als Patientin von einem Arzt zum nächsten geschickt und dann immer gefragt werde, welche Diagnose denn der Kollege gestellt hat."
Zwar investiere sie in die persönlichen Fachgespräche mit den verschiedenen Kollegen viel Zeit, räumt die Kieferorthopädin ein, doch will sie keinem ihrer Patienten das Gefühl vermitteln, nach dem Verlassen ihrer Praxis auf sich allein gestellt zu sein. "Ich behandele meine Patienten ganz einfach so, wie ich auch selbst behandelt werden möchte", bringt Witthohn ihr berufliches Credo auf den Punkt. Dass dieses Konzept aufzugehen scheint, belegen nicht zuletzt die vielen Kinder, die vor allem über Mundpropaganda zum ersten Mal in ihrer Praxis aufkreuzen.
Stress vor Bezug der Praxis
Angesichts dieses Erfolgs rücken all jene Strapazen in den Hintergrund, die die Inhaberin im Vorfeld der Eröffnung vor rund 15 Monaten zu bewältigen hatte. So musste fast das gesamte Haus kernsaniert werden: Es galt, alte Wände einzureißen und neue hochzuziehen, Tapeten zu entfernen, acht Zentimeter neuen Putz aufzubringen sowie völlig neue Elektro- und Abwasserleitungen zu verlegen – vom Wiederherrichten des zuvor völlig verwilderten Gartens ganz zu schweigen. "Ohne die Fachkenntnisse meines Vaters und die tolle Unterstützung meiner Familie, Freunde und meines Praxisteams hätte ich das alles nie hinbekommen", freut sich Julia Witthohn noch heute.
Immerhin: Für die Aufteilung der Praxisräume auf zwei Etagen der Villa – im Erdgeschoss befindet sich die eigentliche Praxis, im ersten Stock sind Labor, Umkleideräume, Personaltoilette, Küche und Sozialraum untergebracht – musste sie keinen Innenarchitekten zu Rate ziehen: "Das habe ich alles selbst entworfen mithilfe meiner Mutter", erzählt sie stolz. Zugute gekommen sei ihr dabei, dass sie die verschiedenen Funktionswege innerhalb einer Praxis bereits bei ihren vorherigen beruflichen Stationen kennengelernt hat.
Und selbst in Sachen Marketing war Witthohn in der Lage, einen Teil ihres Traums in die Realität umzusetzen. So schwebte ihr als Grundlage für das Praxis-Logo von Beginn an das Motiv eines "weißen Hahns" (Plattdeutsch: "Witthohn") aus dem eigenen Familienwappen vor – eine Idee, die die mit dem Logo-Entwurf beauftragte Werbeagentur gern aufgegriffen und umgesetzt hat.
Das Wichtigste am Dasein als Praxisinhaberin ist für Witthohn jedoch, sich bei all dem Stress jene Freiheiten herausnehmen zu können, die ihr früher oft verwehrt blieben: "Als Angestellte konnte ich nur selten dann Urlaub nehmen, wann ich wollte. Das ist jetzt anders. Soweit es die Praxis erlaubt, gönne ich mir einfach die Zeit für Dinge, die mir wichtig sind – wie etwa für mein Hobby Dressurreiten. Im Gegenzug habe ich dann aber auch kein Problem damit, mich auch mal am Samstagnachmittag an den Praxisschreibtisch zu setzen."
Im Juli 2017 wird der LUXX des Jahres online gewählt. Auch Freunde, Bekannte, Patienten und Kollegen können dann für ihren LUXXter voten. Mehr Informationen zum LUXX und über die LUXXter gibt es auch auf luxxaward.de
Mark Göttinger, Berlin