Anzeige

Vom Universalgelehrten Alberti zum forensischen Spezialisten

Hutt_Akfos

Dr. Dr. Jean-Marc Hutt aus Straßburg hielt den Eröffnungsvortrag.

Am 15. September 2018 fand in Halle (Saale) die 42. Jahrestagung des Arbeitskreises für Forensische Odonto-Stomatologie (AKFOS) statt, in diesem Jahr erstmals zusammen mit der 97. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin (DGRM).

Ausrichter der DGRM-Tagung ist jedes Jahr ein anderes rechtsmedizinisches Institut aus Deutschland, Österreich oder der Schweiz. Dieses Jahr war der 1. Vorsitzende des AKFOS, Prof. Dr. Rüdiger Lessig, Veranstalter. Die mitteldeutsche Universität ist die einzige der beiden Universitätsstädte in Sachsen-Anhalt, die neben Medizin- auch Zahnmedizinstudenten ausbildet. Das Motto der Tagung „Vom Universalgelehrten Alberti zum forensischen Spezialisten“ bezog sich auf die enge Beziehung zwischen der Juristischen Fakultät und der Rechtsmedizin in Halle. Lessig repräsentierte die Standorte der Rechtsmedizin in Halle und Magdeburg.

Germanwings Flug 4U9525

Der erste Themenblock stand unter dem Vorsitz von Prof. Dr. Tore Solheim (Oslo) und Bettina Eickhoff (Köln). Den Eröffnungsvortrag mit dem Thema „Identifizierungen der Opfer des Germanwings Flug 4U9525 aus forensisch stomatologischer Sicht“ hielt Dr. Dr. Jean-Marc Hutt (Straßburg). Bei dem Absturz eines Airbus A320, der durch den Copiloten in suizidaler Absicht auf dem Flug von Barcelona nach Düsseldorf kontrolliert in die Berge der Alpen gelenkt wurde, verloren 144 Passagiere und sechs Crewmitglieder ihr Leben. Anhand eines bilderreichen Vortrags wurde eindrücklich vermittelt, wie schwierig die Bergung der Opfer vor Ort war. Das Ausmaß der Katastrophe spiegelt sich in der Erfassung der in Kilogramm angegebenen Masse an menschlichen Geweberesten wider.

Identitätssicherung durch odontologische Gutachten

Den zweiten Vortrag mit dem Titel „Anwendung der Identifizierungskriterien des DVI-Guides von Interpol in der rechtsmedizinischen Routine – Luxus oder Erfordernis?“ hielt Dr. Dankwart Stiller aus dem Institut für Rechtsmedizin in Halle. Ziel der Auswertung von unidentifizierten Leichen über einen Zeitraum von drei Jahren, insgesamt 167 Fälle, war die Überprüfung der Methode in der täglichen Routine. Immer wieder werden Verstorbene bei der ersten Leichenschau von Ärzten als sicher identifiziert bescheinigt, obwohl die Leichen durch fortgeschrittene Fäulnis- und Verwesungsprozesse bis zur Unkenntlichkeit entstellt sind. Ein Problem, das vielen Rechtsmedizinern bekannt vorkommen dürfte, und das im Vortrag gut herausgearbeitet wurde. Forensisch-odontologische Gutachten führten in 87 Fällen zu einer Identitätssicherung, ein eindeutiges Plädoyer für die Anwendung der Kriterien des DVI-Guides bei unidentifizierten Personen. Weitere Vorträge beschäftigten sich mit rechtsmedizinischen Aspekten bei Explantationen, Suiziden im höheren Lebensalter und der Vorstellung der Arbeitsgemeinschaft „Geschichte der Rechtsmedizin“ gefolgt von zwei Vorträgen zur molekularen Altersschätzung.

Rechtsmedizin im Fokus

Der zweite Themenblock der diesjährigen AKFOS-Tagung stand unter dem Vorsitz von Dr. Dr. Claus Grundmann (Moers) und Dr. Uta Flössel (Dresden). Er war geprägt von Vorträgen zu Themen der Rechtsmedizin, unter anderem aus der forensischen Entomologie. Außerdem waren die Feinstaubbelastung auf dem Sektionssaal, ein Trainingsszenario zur Durchführung der polizeilichen Leichenschau, eine Evaluation unter Medizinstudenten zum Thema Medizinrecht und zur temperaturgestützten Todeszeitschätzung aus CT-Daten anhand eines menschlichen Körpermodells und die Ausbildung forensisch geschulter Krankenschwestern in der Schweiz Themen der Reihe.

Beispiele aus der Praxis

Der dritte  Vortragsblock stand unter der Leitung von Hutt und Lessig. Grundmann referierte zwei eigene Fallbeispiele unter dem Titel „Forensische Identifizierungen – auch nach 30 bis 35 Jahren noch möglich?“. Im Dezember 1977 wurde eine männliche Leiche aus dem Rhein geborgen. Trotz markanter individueller Merkmale des Gebisses (Ersatz der Zähne 12 bis 22 durch Modellgussprothese, weitere extrahierte Zähne im Unterkiefer) und Öffentlichkeitsfahndung konnte der Fall zunächst nicht geklärt werden. Bei dem Fall eines seit vier Wochen als vermisst gemeldeten Informatikers existierte ein fünf Jahre alter Zahnstatus aus dem Jahr 1972, der bei der Bundeswehr erhoben worden war. Die damaligen Einschätzungen gingen davon aus, dass über einen Zeitraum von fünf Jahren zahlreiche Abweichungen denkbar gewesen wären, sodass davon ausgegangen wurde, dass es sich bei beiden Fällen um verschiedene Personen handelt.

Der unbekannte Leichnam wurde daraufhin in einem anonymen Grab 1978 beerdigt. Die Aufbewahrungsfristen für staatsanwaltschaftliche Ermittlungsakten sind in Deutschland auf 30 Jahre begrenzt. Vor der Vernichtung erfolgt eine letzte Überprüfung durch die zuständige Polizeibehörde. Es erfolgte ein erneuter Abgleich der Obduktionsbefunde mit dem Vermisstenfall des Informatikers. Über eine Datenabfrage im Institut für Wehrmedizinalstatistik und Berichtswesen der Bundeswehr in Andernach konnten in Bezug auf den Zeitpunkt des Versterbens noch aktuellere antemortale zahnärztliche Befunde ermittelt werden, die nach genehmigter Exhumierung mit dem postmortalen Zahnstatus der Wasserleiche zahlreiche Übereinstimmungen zeigten.

Bei Bauarbeiten an einem Strommast wurden Knochen einer seit 1982 vermissten Frau entdeckt. Bereits zum Zeitpunkt ihres Verschwindens ging man davon aus, dass die Frau Opfer eines Gewaltverbrechens geworden war. Nach Reinigung der Knochen konnte neben sechs fehlenden Zähnen und diversen Restaurationen trotz kleinerer Fehler im antemortalen Zahnstatus eine zweifelsfreie Identifizierung erfolgen.

Automatisierter Abgleich von OPG-Aufnahmen

Dr. Rebecca Wagner (Jena) stellte ein Kooperationsprojekt zwischen dem Institut für interventionelle und diagnostische Radiologie und dem Institut für Rechtsmedizin in Jena mit dem Titel „Forensische Identifizierung: Automatisierter Abgleich von OPG-Aufnahmen“ vor. Ziel des Projekts ist die Entwicklung eines automatischen Abgleiches von ante- und postmortalen OPG-Datensätzen mittels Matlab. Hierfür wurde zunächst eine Datenbank aus OPG-Aufnahmen lebender Personen aufgebaut. Über einen speziellen Algorithmus werden Zahnmerkmale in Form von Bildpunkten codiert, sodass einzelne Aufnahmen gegeneinander abgeglichen werden können. Die Möglichkeiten und Limitationen der Methode wurden an Beispielen erläutert. Es folgten drei Vorträge mit medizin-historischem Hintergrund.

Eindrucksvoller Abschluss

Zum Abschluss des wissenschaftlichen Programms sprach Solheim über den Absturz eines dänischen Charterflugzeugs 1972 in Dubai. Es war auf dem Weg von Sri Lanka nach Kopenhagen, als es über einer Gebirgskette kurz vor dem Zwischenstopp in Dubai abstürzte. Dabei kamen 112 Menschen ums Leben, darunter 14 Norweger. Zur damaligen Zeit existierten in Norwegen keine Einsatzpläne zum Umgang mit Massenkatastrophen. Nur Schweden verfügte damals schon über ein Identifizierungsteam, das nach Dubai entsandt wurde. Solheim wurde damals als junger Zahnarzt zusammen mit einem norwegischen Kriminalbeamten zum Absturzort geschickt. Da die meisten Opfer dänische Staatsangehörige waren, lag die Hauptzuständigkeit bezüglich der Identifizierungen bei der dänischen Polizei. Aufgrund des Zerstörungsgrades der Körper und ohne Möglichkeiten der DNA-Untersuchung, gelang es dennoch, 96 Opfer sicher zu identifizieren. Ein eindrucksvoller Vortrag, wenn man bedenkt, was zum damaligen Zeitpunkt an technischem Equipment zur Verfügung stand.  Der Vorfall war die erste Massenkatastrophe, deren Folgen unter skandinavischer Zusammenarbeit ausgewertet wurden. Solheim stellte das Programm des 4. Internationalen Kurses Forensische Odontostomatologie der IOFOS vom 27. Februar bis 6. März 2019 in Spitzbergen vor und hofft auf rege Teilnahme.