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Zahnmedizin in Alten- und Pflegeheimen: Erfahrungen nach über vierjähriger Tätigkeit
Frau mit Koffer

Viele Koffer und Taschen für Instrumente etc. haben sich als unpraktisch erwiesen.

Der Gesetzgeber hat diese Situation erkannt und das GKV-Versorgungsstärkungsgesetz (GKV-VStG) regelt im Paragrafen 22a Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGBV V) einen neuen Leistungsanspruch für die Mundgesundheit von Pflegebedürftigen, Menschen mit Behinderungen und Menschen mit eingeschränkter Alterskompetenz.

Die Leistungen umfassen:

  • die Erhebung eines Mundgesundheitsstatus,
  • die Aufklärung über die Bedeutung der Mundhygiene,
  • Maßnahmen zur Erhaltung der Mundgesundheit,
  • die Erstellung eines Planes zur individuellen Mund- und Prothesenpflege,
  • die Entfernung von Zahnbelägen

Deutschlandweit gibt es ca. 12.500 Alten- und Pflegeheime mit ca. 900.000 Plätzen. Jährlich kommen etwa 12.000 neue Betreuungsplätze dazu. Insgesamt haben 3,1 Millionen Pflegebedürftige jetzt einen festgeschriebenen Anspruch auf zahnmedizinische Prävention [2]. Das macht uns Zahnärzten zu schaffen, denn eine Metastudie von 2010 [3] aller deutschen Studien zur zahnärztlichen Versorgung in Pflegeheimen fasst die Ergebnisse wie folgt zusammen: "Die Hälfte der Pflegeheime hatte im letzten Jahr keine oder nur wenige Besuche einer Zahnärztin oder eines Zahnarztes."

Dennoch gibt es einen Hoffnungsschimmer, denn die entsprechenden Abrechnungspositionen (Bema) für die Besuche einer Zahnärztin oder eines Zahnarztes in stationären Pflegebereich (sogenannte aufsuchende Betreuung) haben sich erfreulicherweise deutlich von 650.000 im Jahr 2012 auf 790.000 im Jahr 2014 gesteigert. Dieser Hoffnungsschimmer darf allerdings die Realität nicht verwischen: Im Augenblick haben wir eine bundesweite Quote von 16,5 Prozent der Abdeckung der stationären Pflegeeinrichtungen in Deutschland durch aufsuchende Versorgung.

Probleme

1. Nur ca. 5 Prozent der Kollegenschaft will aufgrund der Belastung durch Konfrontation mit dem Altern und dem Tod in Alten- und Pflegeheimen tätig werden [4]. Auch die eingeschränkten technischen Behandlungsmöglichkeiten, der erhöhte organisatorische Aufwand und die rechtliche Unsicherheit spielen eine Rolle für das geringe Engagement der Zahnärzteschaft.

Im Jahr 2007 wurde in Baden-Württemberg ein flächendeckendes Betreuungskonzept für den Bereich Zahn-, Mund- und Zahnersatzpflege initiiert (AKABeBW). Heute engagieren sich in Baden-Württemberg ca. 41 Senioren- und Behindertenbeauftragte und ungefähr 900 Betreuungszahnärzte.

2. Die Erfolge der zahnärztlichen Prophylaxe in den vergangenen 35 Jahren haben den Mundgesundheitszustand großer Teile der Bevölkerung verbessert. Aktuelle Studien zeigen, dass diese Erfolge nicht bei pflegebedürftigen Menschen angekommen sind. Die Mundhygiene dieser Bevölkerungsgruppe ist unbefriedigend. So zeigte zum Beispiel die Untersuchung von 131 Pflegebedürftige in drei Frankfurter Pflegeeinrichtungen, dass zwei Drittel aller Pflegebedürftigen zahnärztlich behandlungs- und pflegebedürftig waren [5].

Es ist folglich nicht verwunderlich, dass eine Verlaufsbeobachtung in fünf Seniorenheimen im Raum Heidelberg zeigte, dass innerhalb von 14 Monaten eine deutliche Verschlechterung der parodontalen Parameter bei den Seniorenheimbewohnern festgestellt wurde [6].

3. In den Pflegeheimen und beim Pflegepersonal gilt es, die weit verbreitenden Vorbehalte zur zahnärztlichen Betreuung zu überwinden. Sie sehen durch das zahnärztliche Engagement noch mehr Bürokratie und zusätzliche Pflegeleistungen und Pflegekontrollen auf sich zukommen.

Ein weiterer Mangel ist die nicht ausreichende Verankerung der Zahn-, Mund- und Zahnersatzpflege in der Ausbildung der Pflegekräfte (ca. sechs Stunden in drei Ausbildungsjahren). Da auch in umfangreichen Nachschlagewerken für Pflegekräfte nur wenig über die Zahn-, Mund- und Prothesenpflege zu finden ist [7], entsteht eine große Diskrepanz zwischen der Ausbildung und den Anforderungen hinsichtlich der Pflege im Bereich der Mundhöhle.

4. In Alten- und Pflegeheimen haben sich auch die Erkenntnisse über Wechselwirkungen, die zwischen Allgemeingesundheit und Mundgesundheit und umgekehrt bestehen, noch nicht durchgesetzt – obwohl diese Zusammenhänge vor allem für ältere Bevölkerungsgruppen eine große Rolle spielen. So ist die "Nursing-Home-Associated Pneumonia (NHAP)" der häufigste Grund für eine Krankenhauseinweisung. Mit 13 bis 48 Prozent zählt diese Infektion zu den häufigsten Erkrankungen bei älteren Bevölkerungsgruppen [8]. Parodontitispatienten weisen ein fünffach höheres Pneumonierisiko auf [9].

Andere Erkrankungen wie Gastritis, Endokarditis, kardio- beziehungsweise zerebrovaskuläre Störungen wie Herzinfarkt und Schlaganfall, sowie Diabetes stehen ebenfalls mit Parodontitis im Zusammenhang [10–12].

Lösungen – unser Konzept

Unser Konzept besteht aus zwei Modulen, der restaurativ-therapeutischen Betreuung und der präventiven Betreuung.

Restaurativ-therapeutische Betreuung: Die einfachere Aufgabe unseres Konzepts ist die aufsuchende restaurativ-therapeutische Betreuung. Wir führen im Pflegeheim nur Behandlungen stationär durch, die ohne Risiko für den Patienten und den Behandler möglich sind. Alle weitergehenden Behandlungen werden in der Praxis durchgeführt. Diese Vorgehensweise ist auch die Grundlage unserer zahnärztlichen mobilen Ausstattung. Die meisten einfachen Behandlungen betreffen zahnärztliche Maßnahmen an Zähnen, Schleimhäuten und Prothesen.

Koffer

Die Lösung: Ein professioneller Rollkoffer mit Unterteilungen, der mit einer Grundausstattung bestückt ist, die für den jeweiligen Fall ergänzt wird.

Nach fast zweijähriger Erfahrung mit verschiedenen Koffern, Schachteln und Taschen, die die Hilfsmittel und Geräte für unsere ambulante Tätigkeit im Pflegeheim beinhalten, haben wir seit zwei Jahren einen Rollkoffer für unsere Zwecke individuell umgestaltet (Abb. 1 oben und 2). Der dreigeteilte Koffer hat eine Dauerbestückung mit Hilfsmitteln und Geräten, die immer gebraucht werden, und eine Alternativbestückung je nach Behandlungsfall. Unsere Praxisverwaltungsmitarbeiterin nimmt die Anrufe des Pflegeheims entgegen und macht die Besuchstermine aus (Abb. 3).

Formular Heimbesuch

Die Praxisverwaltungsmitarbeiterin erfasst alle Informationen für die Behandlung im Pflegeheim auf einem gesonderten Formular.

Entsprechend der Vorabfrage wird der Rollkoffer individuell zusammengestellt. Mit unserer aufsuchenden restaurativen Tätigkeit gelingt es uns in mehr als 90 Prozent aller Fälle, einen aufwendigen Transport in die Praxis zu vermeiden und den Patienten auf unkomplizierte Art und Weise zu helfen.

Präventive Betreuung: Viel schwieriger gestaltet sich die präventive Betreuung. Dies trotz eines unseres Erachtens gut geplanten und strukturiert durchgeführten Prophylaxeprogramms, das folgende Elemente enthält:

  • Die generelle Schulung der Pflegekräfte beginnt mit zwei Grundseminaren zu den Themen "Allgemeine Zahnerkrankungen", "Zahnerkrankungen im Alter" und "Altersgerechte häusliche und professionelle Prävention", diese Seminare enthalten auch praktische Übungen am Modell. Der von der Landeszahnärztekammer Baden-Württemberg zur Verfügung gestellte Koffer ist dabei eine große Hilfe. Diesen Grundseminaren folgen jährliche "Update-Seminare". Die Seminare sind für die Pflegebereichsmitarbeiter verbindlich.
  • Zusätzlich werden individuelle prophylaktische Schulungen an denen von uns betreuten Heimbewohnern mit den Pflegekräften zusammen durchgeführt. Zuerst wird ein Mundgesundheitsstatus erhoben, dann eine kurze Aufklärung über die Bedeutung der Mundhygiene durchgeführt, danach erfolgt die Erstellung eines Planes zur individuellen Mund- und Prothesenpflege. Dieser individuelle Pflegeplan wird mit den Pflegekräften und den Heimbewohnern besprochen und geübt. Wir unterscheiden dabei drei Patientengruppen in Anlehnung an die "Zahnpflege-Ampel" der AKA-BeBW (Abb. 4). Die grüne Ampel steht für Patienten, die die häusliche Mundhygiene weitgehend alleine durchführen können. Die gelbe Ampel ist für Patienten mit reduzierten Mundhygienefähigkeiten, die Unterstützung durch das Pflegepersonal benötigen. Die rote Ampel bedeutet, dass die Patienten zur selbständigen Mundhygiene nicht mehr in der Lage sind.
  • Die von uns durchgeführte individuelle Mundhygieneaufklärung und Mundhygieneinstruktion, der das Motto "so einfach wie möglich" zugrunde liegt, umfasst die Hilfsmittel und Technik der Zahn-, Mund- und Prothesenreinigung. Das Gezeigte wird auf unserem Anamnese- und Befundbogen unter der Rubrik „Mundhygiene“ erfasst (Abb. 4), die individuelle "Mundhygieneampel" wird entsprechend ausgefüllt, foliert und am Badezimmerspiegel des jeweiligen Bewohners befestigt.
  • Für die mündlich durchgeführten Anweisungen und Empfehlungen werden den Heimbewohnern und dem Pflegepersonal auch schriftliche Hilfsmittel zur Verfügung gestellt. Dieses von uns "duales System" genannte Vorgehen – alles, was mit unseren Patienten besprochen wurde, den Patienten oder Betreuern nochmals schriftlich mitzugeben – hat sich auch im Praxisalltag unserer prophylaxeorientierten Praxis bewährt (Abb. 5).
  • Für die professionelle Prophylaxe stehen uns Handinstrumente, ein Piezon-Minimaster (EMS) und ein RHD Freedom (Midwest), ein akkubetriebenes Polierhandstück, zur Verfügung.
Individuelle Mundhygiene-Empfehlung

Die individuellen Mundhygieneempfehlungen und die Einstufung des Patienten nach dem Ampel-System werden auf einem Formular festgehalten, das laminiert und im Zimmer des Patienten am Spiegel angebracht wird.

Anwendung von Haftcreme

„Duales System“: Alle besprochenen Informationen werden für das Pflegepersonal, die Betreuer oder die Patienten noch einmal schriftlich mitgegeben.

Ausblick

Die zahnärztliche Behandlung einschließlich der Prophylaxe in Alten- und Pflegeheimen ist eine wichtige Zukunftsaufgabe für alle Zahnärzte und deren Organisationen. Die Zahnärzte müssen sich den sich verändernden Herausforderungen durch den demografischen Wandel stellen und Strukturen zur kompetenten zahnärztlichen Betreuung Pflegebedürftiger entwickeln.

Wir haben uns dieser Herausforderung gestellt. Mithilfe der Pflegeheimleitung ist es uns gelungen, die Verwaltung stark zu vereinfachen und dennoch alle rechtlichen Bedingungen zu beachten. Auch im Bereich der aufsuchenden restaurativ-therapeutischen zahnärztlichen Behandlung ist es uns gelungen, eine einfache, gut funktionierende Struktur zu erarbeiten. So ist es uns heute möglich, die meisten der von uns im Pflegeheim betreuten Patienten stationär, palliativ und den Bedürfnissen der Heimbewohner angepasst zu behandeln.

Dennoch gibt es auch nach vier Jahren noch ein großes Verbesserungspotenzial vor allem in systematischer kurativer, prothetischer und prophylaktischer Betreuung. Die größten Schwierigkeiten sehen wir bei der Umsetzung unseres Prophylaxekonzepts. Wir können leider noch keine Erfolge nachweisen, wie sie Benz und Haffner [13] mit ihrem „dualen Konzept“ zeigten: "Bei 76 Prozent der Studienteilnehmer konnte eine signifikant verbesserte Mundhygiene, 65 Prozent weniger Schmerzen im Mundbereich und eine Senkung der Extraktionen um 70 Prozent festgestellt werden".

Unser persönliches Fazit lautet: Wir haben sämtliche Berührungsängste vor Alten- und Pflegeheimen beziehungsweise deren Heimbewohnern verloren und gehen einer wunderbaren Aufgabe nach, die wir gerne machen. Unsere Empfehlung für die Kollegen, die sich in diesem Bereich engagieren wollen: Fangen Sie an, Sie werden überrascht sein, wie man mit wenig Ausstattung viel helfen kann und noch mehr Dankbarkeit erfährt!

 

Literatur

1. Kluckhuhn C. Mehr als Gebissreiniger. zm 105, Nr. 20A, 16.10.2015 (2376–2380)

2. Hinz R. Wird die Pflege zum Pflegefall. zm 105, Nr. 19A, 1.10.2015 (2222–2224)

3. Reißmann DR et al. Die zahnärztliche Versorgung von Pflegeheimbewohnern in Deutschland – eine kritische Würdigung der vorliegenden Studien. Schriftenreihe Health Technology Assessment, Bd. 125. 1. Auflage 2013

4. Nitschke I, Ilgner A, Muller F. Barriers to provision of dental care in long-term care facilities: the confrontation with ageing and death. Gerodontology 2005; 22:123–129

5. Jäger S. Mundhygiene und Mundgesundheit bei Bewohnern von Altenpflegeheimen – Auswirkungen eines Trainingsprogramms für Pflegekräfte auf die Mundgesundheit der Bewohner. Medizinische Dissertation, 2009, Bonn

6. Dieke A. Longitudinale Untersuchung zur Mundgesundheit und zur mundgesundheitsbezogenen Lebensqualität bei Institutionalisierten älteren Menschen. Medizinische Dissertation, 2008, Heidelberg

7. Bremer-Roth F, Henke F, Lull A et al. Alte Menschen personen- und situationsbezogen pflegen. In: In guten Händen. Altenpflege 1. Cornelsen, Berlin 1. Auflage, 2007:154f, 263ff, 333f, 512ff.

8. Kreissl ME, Eckardt R, Nitschke I. Mundgesundheit und Pneumonien bei pflegebedürftigen Senioren. Quintessenz 2008; 59:1089–1096

9. Awaro S, Ansai T, Takata Y et al. Oral health and mortality risk from pneumonia in the elderly. J Dent Tes 2008; 87:334–339

10. Dransholt MT. A new causal model of dental diseases associated with endocarditis. Review. Ann Periodont 1998; 3:184–196

11. Dörfer CE, Becher H, Ziegler CM et al. The association of gingivitis and periodontitis with ischemic stroke. J Clin Periodontol 2004; 31:396–401

12. Drescher J, Jepsen S. Wechselwirkungen zwischen Parodontitiden und Diabetes. zm 2008; 98:28–40

13. Benz C, Haffner C. Teamwork – Zahnmedizin für Pflegebedürftige. IDZ-Info 4/2009