„Mit 66 Jahren da fängt das Leben an … mit 66 Jahren ist noch lange nicht Schluss“, dieser Liedtext gesungen von Udo Jürgens aus dem Jahr 1977 ist nach wie vor aktuell, die Lebenserwartung der Menschen hierzulande seither kontinuierlich gestiegen. Aber nicht nur die Zahl der älteren Menschen steigt, sondern auch ihr Anspruch im Hinblick auf Funktion und Ästhetik ihres Gebisses. Zunehmend versorgen Zahnärzte auch Menschen im Rentenalter mit künstlichen Zahnwurzeln. Hinzu kommen Senioren, die schon länger Implantate tragen und bei denen sich Nachsorge- und Therapie-Bedarfe im Laufe der Jahre ändern. Mit der ersten deutschsprachigen Leitlinie zum Thema „Implantate im fortgeschrittenen Lebensalter" tragen die Deutsche Gesellschaft für Implantologie (DGI) und die Deutsche Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK) dieser Entwicklung nun Rechnung.
Keine Frage des Alters
„Bei der Therapieplanung für den Ersatz fehlender Zähne soll unabhängig vom Patientenalter unter Vorstellung der verschiedenen Therapieoptionen auch eine Implantattherapie in Betracht gezogen werden. Sowohl festsitzender als auch abnehmbarer implantatgetragener Zahnersatz kann eine Therapieoption sein.” So lautet die erste Empfehlung der Leitlinie. Das bedeute eine Abkehr von der bislang häufig geltenden Ansicht, dass Menschen ab einem bestimmten Alter für eine Implantation grundsätzlich nicht mehr in Fragen kommen. Der federführende Autor der Leitlinie Prof. Dr. Samir Abou-Ayash betont: „Das chronologische Alter entspricht nicht unbedingt der Konstitution des Patienten. Es gibt auch Patienten, die mit über 90 Jahren noch für ein Implantat in Frage kommen und damit sehr gut zurechtkommen. Nicht das Alter sollte der ausschlaggebende Faktor sein, sondern die individuelle Patientenentscheidung.“
Ein breites Indikationsspektrum
Seit vielen Jahren steigt bei älteren Menschen die Zahl der verbliebenen eigenen Zähne. Darum unterscheidet sich das Spektrum der Indikationen für Implantate im fortgeschrittenen Alter mittlerweile kaum noch von jenem bei jüngeren Menschen: Es reicht vom Ersatz einzelner Zähne bis zu festsitzenden oder abnehmbaren implantatgetragenen Versorgungen der ganzen Kiefer. Auch die Erfolgsraten einer Implantattherapie bei Älteren können sich sehen lassen: „Die Implantattherapie ist auch bei fortgeschrittenem Lebensalter eine vorhersagbare Therapieform mit ähnlichen Implantatüberlebensraten wie bei jüngeren Patienten“, lautet ein wichtiges Fazit der Fachleute. Die Patienten profitieren von einer höheren mundgesundheitsbezogenen Lebensqualität und einer besseren oralen Funktion wie zum Beispiel einer verbesserten Kaufähigkeit.
Risikofaktoren beachten
Gleichwohl müssen bei älteren Menschen stets besondere Risikofaktoren beachtet werden. Alterstypische Erkrankungen und Polypharmazie können den Erfolg einer Implantatbehandlung gefährden. So korrelieren tumorbedingte Rehabilitation, Bestrahlungen im Kopf-Hals-Bereich, ein unkontrollierter Diabetes mellitus und eine hoch dosierte Antiresorptivatherapie mit einer signifikant erhöhten Implantatverlustrate. Auch können sich im Alter die kognitive und manuelle Leistungsfähigkeit eines Menschen schnell ändern. Dann sind die Betroffenen auf fremde Hilfe bei der Mundhygiene angewiesen und der implantatgetragene Zahnersatz muss dementsprechend angepasst werden.
„Implantatbehandlung bei älteren Menschen kann auch bedeuten, den Zahnersatz umzuändern, beispielsweise von festsitzend zu herausnehmend“, erklärt Prof. Dr. Dr. Bilal Al-Nawas, Leitlinienkoordinator und Vizepräsident der DGI. „Ich vergleiche die Zahnmedizin im Alter gern mit alten Schlappen. Von denen möchte man sich auch nicht trennen, nur weil sie nicht mehr so gut passen. Wir müssen weg kommen von der Präzisionsprothetik, wir brauchen im Alter andere okklusale Konzepte.“
Insgesamt 19 Empfehlungen
Da es viel zu berücksichtigen und zu bewerten gilt, umfasst die neue Leitlinie, an der Fachleuten von insgesamt 23 Fachgesellschaften und Organisationen mitgewirkt haben, eine ungewöhnlich hohe Zahl von Empfehlungen: Insgesamt 19 Empfehlungen decken alle Abschnitte einer Behandlung ab, von der Planung der Therapie bis zur Nachsorge.
Da die wissenschaftliche Evidenz trotz steigender Fallzahlen in den ausgewerteten Daten unterrepräsentiert ist, handelt es sich bei dieser Leitlinie um eine S2k-Leitlinie: Sie basiert auf dem Konsens von Experten, da keine systematische Aufbereitung der wissenschaftlichen Evidenz zugrunde gelegt werden konnte. Gleichwohl liefert die Leitlinie relevante Antworten auf Fragen nach Überlebens- und Komplikationsraten von Implantaten und prothetischen Suprastrukturen bei Älteren und gibt wichtige Hinweise, auf die Auswirkungen einer Implantattherapie.
Im Austausch mit Fachkollegen Risiken und Nutzen abwägen
Schon bei der Planung der Therapie soll die Indikation nach Abwägung von patientenspezifischen Risiken gegen den Nutzen der Behandlung und unter Beachtung der allgemeinmedizinischen und speziellen Anamnese gestellt werden. „Es ist ratsam den Rat von weiteren Fachleuten wie Geriatern, Logopäden und natürlich auch dem Hausarzt hinzuziehen. Bei der Planung sollte auf die Ähnlichkeit des Zahnersatzes zur Restdentition und der prothetischen Versorgung geachtet werden, weil die Neuroplastizität des Gehirns mit steigendem Alter sinkt. So können Adaptationsschwierigkeiten minimiert werden“, erklärt Prof. Abou-Ayash.
Der Allgemeinzustand sollte ebenfalls berücksichtigt werden, wenn die Invasivität der Therapie sowie Dauer und Tageszeit der Therapiesitzungen geplant werden. Dr. Leoni Spilker erklärt als DGI-Pressesprecherin: „In den Praxen betrachtet man implantologische Patienten im Alter noch nicht so fächerübergreifend. Die Leitlinie stellt daher einen wichtigen Anstoß dar, dies zu ändern.“
Drei Empfehlungen zur Chirurgie
„Um Behandlungsdauer und Invasivität zu reduzieren, kann eine geführte Chirurgie angewandt werden“, heißt es in der Empfehlung 11. Dies verkürzt die Dauer des Eingriffs und mindert das postoperative Komplikationsrisiko. Allerdings ist dieses Vorgehen vor allem bei zahnlosen Patienten fehleranfällig. Darum muss die Genauigkeit bei der Übertragung der virtuellen Planung in den Patientenmund intraoperativ sichergestellt werden. Generell ist eine lokale Anästhesie immer einer Narkose vorzuziehen.
Kieferkamm-Augmentationen vermeiden
Kurze Implantate bis 6 mm können eine vertikale Augmentation des Kieferkamms vermeiden, durchmesserreduzierte Implantate unter 3,5 mm stellen eine Alternative zur horizontalen Augmentation dar. Systematische Übersichtsarbeiten belegen bei kurzen Implantaten durchschnittliche 5-Jahres-Überlebensraten von mehr als 90 Prozent. Für Implantate unter vier Millimeter ist die Evidenz geringer. Diese sollten daher nur in Ausnahmefällen in Erwägung gezogen werden.
Bei durchmesserreduzierten Implantaten sind die Überlebensraten mit jener von Standardimplantaten vergleichbar. Sogenannten Mini-Implantate sind zumeist einteilig und haben einen Durchmesser von weniger als 3 Millimeter. Sie kommen vor allem bei horizontal stark atrophierten Kieferkämmen zum Einsatz, um abnehmbare Teil- oder Totalprothesen zu stabilisieren. Die Verlustraten sind bei diesen Implantaten im Oberkiefer höher als im Unterkiefer.
Mehr Freiheit bei der Okklusion
Alterstypische degenerative Veränderungen des Kiefergelenks und der Verlust der parodontalen Propriorezeptoren erschweren im Alter die Okklusion. Ein Okklusionskonzept, das mehr Freiheiten gibt, kann diesen Problemen entgegenwirken. Möglichst vor der Fertigstellung der prothetischen Versorgung sollte die autonome Handhabung und Reinigungsfähigkeit des implantatgetragenen oder implantatgestützen Zahnersatzes durch die Patienten oder Helfende überprüft und sichergestellt werden.
Empfehlungen zur Nachsorge
Eine Vielzahl von Studien belegen den positiven Effekt einer regelmäßigen Nachsorge inklusive einer professionellen Mund- und Prothesenhygiene. Darum lautet die erste Empfehlung zur Nachsorge, dass Patienten in ein systematisches Nachsorgeprogramm aufgenommen werden sollten. Ein fester Bestandteil in diesem Programm sollte auch die Überprüfung der Handhabung und Reinigungsfähigkeit des Zahnersatzes sein, damit eine Umgestaltung der Versorgung diese verbessern kann.
In ihrer letzten Empfehlung mit der Nummer 19 betonen die Fachleute, dass eine alleinige prothetische Neuversorgung und die daraus folgende Verbesserung der Kaufähigkeit nicht zwingend zu einer verbesserten Ernährung führt. Bei Gewichtsverlusten, die auf die prothetische Versorgung zurückgeführt werden können, sollte darum neben der prothetischen Neuversorgung eine Ernährungsberatung durch entsprechendes Fachpersonal und ein Prothesenadaptationstraining eingeleitet werden.