Sie sind die Waisenkinder der Medizin (im Englischen: orphan diseases): Seltene Erkrankungen, an denen in einem Land vielleicht nur wenige hundert Menschen leiden. Immer am letzten Tag im Februar wird seit 2008 – inzwischen weltweit – der „rare disease day“ begangen, um auf die Belange der Betroffenen aufmerksam zu machen, Motto in diesem Jahr: #ShowYourRare.
Als selten gilt eine Krankheit in der Europäischen Union dann, wenn weniger als einer von 2000 Menschen von ihr betroffen ist. Das Wissen über Ursachen, Symptome und Therapiemöglichkeiten dieser Erkrankungen ist gering – genau wie das wirtschaftliche Interesse der Pharmaunternehmen, in neue Diagnosetechniken oder Wirkstoffe zu investieren.
Im Durchschnitt haben die betroffenen Patienten eine Odyssee von sieben Jahren hinter sich, bis sie endlich die korrekte Diagnose erhalten. Eine kaum vorstellbare Leidenszeit.
Sprechstunde für Menschen mit seltenen Erkrankungen mit orofacialer Beteiligung
Etwa 15 Prozent aller seltenen Erkrankungen gehen mit Veränderungen im Mund-, Kiefer- und Gesichtsbereich einher. In der Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie am Universitätsklinikum Münster wird eine Spezialsprechstunde für Menschen mit seltenen Erkrankungen mit orofacialer Beteiligung angeboten. Im Interview mit der DZW-Redakteurin Katrin Ahmerkamp spricht Dr. Marcel Hanisch über Erfahrungen, Herausforderungen und das Schicksal eines kleinen Mädchens, das ihn besonders berührt hat.
Herr Dr. Hanisch, Sie bieten in Münster eine Spezialsprechstunde für Menschen mit seltenen Krankheiten mit oraler Beteiligung an. Was können Sie für diese Patienten tun? Liegt der Fokus auf Diagnostik oder Therapie?
Dr. Marcel Hanisch: Wir haben die Sprechstunde für „Seltene Erkrankungen mit oraler Beteiligung“ innerhalb der Zahnklinik des Universitätsklinikums Münster im März 2016 initiiert. Inzwischen sind wir Teil des Centrums für seltene Erkrankungen Münster und kooperieren eng mit den weiteren medizinischen Fachabteilungen des UKM’s und der Humangenetik. Durch diese enge Kooperation innerhalb des Universitätsklinikums verfügen wir über maximale diagnostische Möglichkeiten. Primär möchten wir also unsere diagnostischen Möglichkeiten, gerade bei unklaren oder noch nicht abschließend diagnostizierten Erkrankungen, anbieten. Die Therapie soll, wenn möglich, heimatnah erfolgen. Hier muss man auch bedenken, welche Fahrstrecken Patienten teilweise auf sich nehmen müssen. Allerdings ist dies natürlich nicht in allen Fällen möglich. Gerade bei komplexen Fällen, die im interdisziplinären Umfeld oder unter stationären Bedingungen behandelt werden müssen, bieten wir dann auch die Therapie an.
Wie viele Menschen in Deutschland sind von seltenen Erkrankungen betroffen?
Hanisch: Weltweit sind zwischen 6000 bis 8000 seltene Erkrankungen bekannt, von denen sich etwa 15 Prozent orofazial manifestieren können. Aktuellen Daten zufolge sind in Deutschland rund 4 Millionen Menschen von einer seltenen Erkrankung betroffen, also etwa jeder 20ste Bundesbürger.
Wie steht es um die mundbezogene Lebensqualität dieser Menschen?
Hanisch: Bisher gab es zur mundgesundheitsbezogenen Lebensqualität von Menschen mit seltenen Erkrankungen in Deutschland kaum Daten. Wir haben hierzu kürzlich eine Studie mit beinahe 500 Teilnehmern durchgeführt. Die Datenauswertung zeigt hier deutlich schlechtere Werte, als wir sie in der deutschen Durchschnittsbevölkerung kennen. Hier scheint ein erheblicher Handlungsbedarf zu bestehen.
Welche Krankheiten haben Sie beispielsweise bis jetzt behandelt?
Hanisch: Wir haben in den vergangenen zwei Jahren etwa 50 verschiedene Erkrankungen allein in der Spezialsprechstunde behandelt. Unser Fokus liegt insbesondere auf Patienten mit multiplen Zahn-Nichtanlagen wie der ektodermalen Dysplasie. Des Weiteren sehen wir unseren Schwerpunkt beim Ehlers-Danlos Syndrom und der Osteogenesis imperfecta. In Fällen mit multiplen Zahn-Nichtanlagen konnten wir inzwischen bei zehn Patienten in Kooperation mit dem Institut für Humangenetik die Diagnose „ektodermale Dysplasie“ stellen.
Gibt es Patienten, die Ihnen besonders in Erinnerung sind?
Hanisch: Besonders in Erinnerung ist mir eine kleine Patientin mit dem extrem seltenen Seckel-Syndrom, welches sich durch einen Zwergwuchs charakterisiert. Hier sind weltweit nur etwa 30 Fälle bekannt. Ich habe die Patientin 2014 während meiner Weiterbildungszeit in einer Praxis in Dortmund kennengelernt und seither behandelt. Anfangs war sie sehr ängstlich und hat kaum eine Behandlung zugelassen. Doch nach und nach hat sie Vertrauen gefasst und ich durfte ihr sogar einige Milchzähne ziehen. Leider ist sie im vergangenen Monat im Alter von nur 10 Jahren verstorben. Als mich diese Nachricht erreicht hat, hat mich das ziemlich mitgenommen. Sie war mir über die Jahre sehr ans Herz gewachsen.
Sehen Sie besondere Herausforderung für die Zahnmedizin?
Hanisch: Etwa 15 Prozent aller seltenen Erkrankungen können sich im Fachgebiet des Zahnmediziners manifestieren. Uns Zahnärzten fällt damit nicht nur eine wichtige Rolle bei der Behandlung, sondern insbesondere bei der Diagnostik zu. Eine Vielzahl von seltenen Erkrankungen können erste Symptome in der Mundhöhle entwickeln, bevor weitere Symptome auftreten. Richtig erkannt, können sie den Krankheitsverlauf maßgeblich beeinflussen. Ich denke hier beispielsweise an Autoimmundermatosen wie den Pemphigus vulgaris, der als Erstsymptom eine Blasenbildung der Mundschleimhaut aufweisen kann. Durchschnittlich vergehen übrigens etwa sieben Jahre zwischen den ersten Symptomen einer seltenen Erkrankung und deren Diagnose! Hier können wir als Zahnmediziner dazu beitragen, dass seltene Erkrankungen in Zukunft früher erkannt werden.
Haben Sie Forderungen an die Politik?
Hanisch: Im Jahr 2013 wurde ein Nationaler Aktionsplan für Seltene Erkrankung verabschiedet. Das Nationale Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE) arbeitet seitdem an der Umsetzung der 52 darin enthaltenen Maßnahmen. Einiges wurde seitdem geschafft, vieles ist noch nicht erreicht. Die Förderung von NAMSE endet im Juni 2018. Einige der Bündnispartner sind bislang nicht bereit, die Fortsetzung von NAMSE durch die Gründung eines Vereins sicherzustellen. Ohne eine solche Struktur wird es schwierig werden, die notwendigen Maßnahmen weiter umzusetzen. Die Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE e.V). arbeitet hierzu gerade an einer Petition, deren Unterstützung ich nur befürworten kann.
Ende des vergangenen Jahres hat ein erster nationaler Kongress für seltene Erkrankungen in der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde in Münster stattgefunden. Wie war die Resonanz, was waren in Ihren Augen die wichtigsten Themen und Erkenntnisse?
Hanisch: Wir hatten über 300 Teilnehmer, darunter neben Ärzten und Zahnärzten auch Betroffene und Vertreter von Selbsthilfeorganisationen, eine Zahl, mit der wir zuvor nie gerechnet hätten. Die unerwartet hohe Teilnehmerzahl und die regen Diskussionen während des Kongresses haben uns gezeigt, dass hier offenbar großes Interesse an einem bisher wenig beachteten, jedoch höchst relevanten Thema besteht. Besonders die Konzeption des Kongresses, als Veranstaltung für Mediziner und Betroffene, hat dazu beigetragen, dass gegenseitige Verständnis und den Austausch zu fördern. Wir haben uns nun vorgenommen, den Kongress regelmäßig alle zwei Jahre zu veranstalten.
Patienten können sich in der Sprechstunde für Seltene Erkrankungen am Universitätsklinikum Münster vorstellen. Die Sprechstunde ist eingebunden in das Register zur Erfassung orofazialer Manifestationen bei Menschen mit seltenen Erkrankungen ROMSE (http://romse.org).Termine können vereinbart werden unter (0251) 83-47013.
Einige Anlaufstellen für Betroffene:
• Nationales Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE)
• Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (achse)
• Orphanet – Das Portal für seltene Erkrankungen und orphan drugs