Im deutschen Arbeitsrecht gibt es bislang keine allgemeine Pflicht zur Dokumentation sämtlicher Arbeitszeiten. Dies dürfte sich nach dem aktuellen Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) bald ändern (EuGH Az.: C-55/18). Danach müssen Arbeitgeber in Europa zukünftig alle Arbeitszeiten ihrer Arbeitnehmer erfassen und dokumentieren. Auch für Zahnarztpraxen und andere zahnmedizinische Arbeitgeber in Deutschland dürfte dies teils erhebliche Konsequenzen mit sich bringen.
In dem der Entscheidung zugrunde liegenden spanischen Fall hatte eine Gewerkschaft mit dem Ziel geklagt, den Arbeitgeber zur Einführung eines umfassenden Zeiterfassungssystems zu zwingen. Die verklagte Bank berief sich auf das spanische Recht, wonach nur Überstunden zwingend zu dokumentieren sind. Der EuGH gab der Gewerkschaft recht und begründete seine Entscheidung damit, dass nur so die europäischen Vorgaben des Arbeitsschutzes effektiv kontrolliert werden könnten.
Das Urteil dürfte auch für deutsche Arbeitgeber weitreichende Konsequenzen haben. Ähnlich wie in Spanien gibt es im deutschen Arbeitsrecht bislang keine umfassende Pflicht zur Arbeitszeiterfassung. Zwar gelten klare arbeitszeitrechtliche Vorgaben. So regelt das einschlägige Arbeitszeitgesetz (ArbZG), dass grundsätzlich nicht mehr als 48 Stunden pro Woche gearbeitet werden dürfen. Die tägliche Arbeitszeit wird auf acht Stunden begrenzt. Eine Verlängerung auf zehn Stunden pro Arbeitstag ist zwar zulässig; innerhalb eines Zeitraums von sechs Monaten oder 24 Wochen muss aber ein Ausgleich erfolgen.
Darüber hinaus macht das Gesetz zahlreiche Vorgaben zu Pausen- und Ruhezeiten sowie zur Arbeit an Sonn- und Feiertagen. So sind insbesondere zwischen zwei Arbeitstagen mindestens elf Stunden Pause einzuhalten. An Sonn- und Feiertagen darf nur in bestimmten Branchen gearbeitet werden. Eine Pflicht zur Aufzeichnung der tatsächlich geleisteten Arbeitszeit sieht das Gesetz allerdings bislang nur für diejenige Arbeitszeit vor, die über die tägliche Arbeitszeit von acht Stunden hinausgeht. Darüber hinaus ist schon heute jede Arbeitszeit an Sonn- und Feiertagen aufzeichnungspflichtig.
Eine generelle Dokumentationspflicht gibt es in Deutschland allerdings auch jetzt schon für bestimmte, vom Gesetzgeber im Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz als besonders gefährdet eingestufte Branchen. Hierzu gehören zum Beispiel das Baugewerbe, die Fleischwirtschaft, die Gebäudereinigung oder Gaststätten und Herbergen. Seit Einführung des Mindestlohngesetzes im Jahr 2015 wurden Arbeitgeber darüber hinaus verpflichtet, bei allen geringfügig Beschäftigten sämtliche tatsächliche Arbeitszeiten zu dokumentieren. So erhofft man sich eine bessere Kontrolle des Mindestlohns.
Diese Verpflichtung zur umfassenden Dokumentation wird – davon ist nach dem aktuellen EuGH-Urteil auszugehen – zukünftig generell ausgestaltet werden und dann branchenunabhängig für alle Arbeitgeber und deren Arbeitnehmer gelten. Der deutsche Gesetzgeber ist insofern nun in der Pflicht, die nationalen Regelungen an die europäischen Vorgaben und Forderungen anzupassen.
Mit Umsetzungsschwierigkeiten ist insbesondere überall dort zu rechnen, wo bislang flexible Arbeitszeitmodelle wie etwa Vertrauensarbeitszeit praktiziert werden. Im zahnärztlichen Bereich dürfte dies allerdings eher die Ausnahme sein. So gelten für angestellte Zahnärzte und zahnmedizinisches Fachpersonal jedenfalls in Zahnarztpraxen zumeist feste wöchentliche Arbeitszeiten, die sich an den Sprechzeiten der Praxis orientieren. Die Dokumentation dieser Arbeitszeiten wird in diesen Fällen auch ohne großen zusätzlichen bürokratischen Aufwand möglich sein.
Schwieriger kann es werden, wenn die Arbeitszeiten nicht von vornherein festgelegt wurden, sondern den Arbeitnehmern mehr Flexibilität zum Beispiel im Rahmen von Arbeitszeitkonten eingeräumt wurde. Solche Modelle sind bei größeren Praxen und anderen zahnmedizinischen Einrichtungen nicht unüblich. Hier wird man reagieren und entsprechende Dokumentationssysteme einführen müssen. Welche Voraussetzungen an die Dokumentation gestellt werden und welche Rechtsfolgen eine Nichtbeachtung hat, lässt das Urteil allerdings offen und wird entsprechend für Diskussionen sorgen.
In den Fokus rücken wird zudem die Frage, welche Zeiten als Arbeitszeiten zu erfassen sind. So war in der Vergangenheit zum Beispiel umstritten, ob An- und Umkleidezeiten als Arbeitszeit zu vergüten sind. Dies wurde von den Gerichten für den Fall bejaht, dass eine bestimmte Dienstkleidung – so wie in Zahnarztpraxen regelmäßig der Fall – vorgeschrieben ist.
Der EuGH hat also einmal mehr für Anpassungsbedarf im deutschen Arbeitsrecht gesorgt. Die konkrete Umsetzung dürfte sowohl für den Gesetzgeber als auch für die hiervon betroffenen deutschen Arbeitgeber eine nicht zu unterschätzende Herausforderung sein.
Rechtsanwältin Anke Ebel, Münster
Partnerin Curacon Rechtsanwaltsgesellschaft mbH