Oralmedizin kompakt — Update: Orale Dysfunktionen können Gebissentwicklung und Allgemeingesundheit beeinträchtigen
Im Kleinkindalter werden häufig orale Funktionsstörungen wie persistierende Mundatmung, inkompetenter Lippenschluss oder ein viszerales Schluckmuster beobachtet [1]. Diese Dysfunktionen können bis ins Schulalter und darüber hinaus bestehen bleiben, das Wachstum von Kiefer und Gebiss negativ beeinflussen und Probleme in der Gebiss- und Sprachentwicklung verursachen [2, 3]. Zugleich steigt mittel- und langfristig das Risiko für allgemeinmedizinisch relevante Erkrankungen wie das obstruktive Schlafapnoe-Syndrom (OSAS) und für Bruxismus als Risikofaktor für kraniomandibuläre Dysfunktionen (CMD).
Kurz und klar
- Orale Dysfunktionen wie Mundatmung oder falsches Schluckmuster beeinträchtigen die Kieferentwicklung und sind frühzeitig erkennbar.
- Stillen reduziert primär präventiv das Risiko für Fehlentwicklungen des Kiefers und sollte gefördert werden.
- Schädliche Gewohnheiten wie Daumenlutschen führen unter anderem zu offenem Biss und vergrößerter Frontzahnstufe.
- Protrudierte Frontzähne erhöhen das Traumarisiko und können ästhetische und damit psychosoziale Folgen haben.
- Mundvorhofplatten und funktionsorientierte kieferorthopädische Geräte können frühzeitig zur Therapie eingesetzt werden.
- Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen oraler Medizin, HNO-Heilkunde, Logopädie und weiteren Disziplinen ist essenziell.
- Die Familienpraxis ist primäre Anlaufstelle für erfolgreiche funktionelle Prävention und frühe Therapie.
Zungenposition und Kieferentwicklung
Ursache oder Kofaktor für eine nicht-physiologische Mundatmung können einerseits entzündliche Prozesse im Nasen-Rachen-Bereich sein, die interdisziplinär abzuklären sind. Andererseits treten ein offener Mund und Mundatmung auch primär habituell auf, zum Beispiel infolge von langfristigem Lutschen an Fingern oder Schnullern oder durch übermäßige Verwendung von Flaschensaugern. Beides verhindert, dass die Zunge ihre physiologische Position am Gaumen einnimmt [4].
Folgen können eine schmale Maxilla und sagittal unterentwickelte Mandibula mit vergrößerter Frontzahnstufe und protrudierten Oberkiefer-Frontzähnen sein. Neben erhöhtem Verletzungsrisiko kann dies ästhetische Probleme verursachen („Hasenzähne“), mit möglicher psychosozialer Beeinträchtigung infolge von Hänseln [5, 6].
Fehlentwicklungen verhindern
Primäre Prävention beginnt bereits mit dem Stillen, das im Vergleich zu Flaschenernährung das Risiko für Klasse-II-Anomalien, offenen Biss und Kreuzbiss reduziert [7]. Eine frühzeitige Aufklärung werdender Mütter über die Bedeutung zunehmend kauaktiver Nahrung ab einem Kindesalter von zirka zehn Monaten tragen dazu bei, physiologische Funktionsmuster zu etablieren.
Sekundäre Prävention setzt auf die frühzeitige Erkennung und Korrektur dysfunktionaler Muster. Myofunktionelle Therapie, Verhaltenstraining und kieferorthopädische Behandlungsansätze können die orofaziale Entwicklung signifikant verbessern [8, 9]. Eine spontane Ausheilung ist auf der Basis klinischer Beobachtung in der Regel nicht zu erwarten [4].
Mundvorhofplatten und Funktions-Trainer
Lässt sich ein Schnuller nicht vermeiden, können speziell geformte Produkte mit dünnem Schaft im Bereich der Frontzähne verwendet werden [10]. Alternativ lassen sich spätestens ab dem zweiten Lebensjahr Mundvorhofplatten nutzen, um Lutschgewohnheiten abzugewöhnen. Ab vier Jahren können speziell designte konfektionierte Mundvorhofplatten eingesetzt werden, die sowohl die transversale Kieferentwicklung als auch die korrekte Zungenlage fördern. Alternativ eignen sich hier konfektionierte funktionskieferorthopädische Trainingsgeräte.
Die Abrechnung dieser Maßnahmen kann über Bema-Positionen (k01k, 121) erfolgen, sofern eine ausgeprägte Fehlstellung vorliegt (zum Beispiel kieferorthopädische Indikationsgruppen/KIG D5, O4). Andernfalls müssen die Maßnahmen nach GOZ berechnet werden.
Stützzonen erhalten
Bei Verlust von Milchmolaren ein Jahr oder mehr vor dem zu erwartenden Durchbruch des bleibenden Nachfolgezahnes kann durch Vorrücken und Kippung des Sechsjahrmolaren sagittal Platz verloren gehen. Weiterhin kann die Kaufunktion beeinträchtigt sein, Antagonisten können elongieren.
In der Front folgen häufig Lautbildungsstörungen, Zungendysfunktionen und ästhetische und damit verbundene psychologische Probleme. Hier sind – auf der Basis einer diagnostischen Panoramaschichtaufnahme – individuell angefertigte, festsitzende oder herausnehmbare Lückenhalter für den Seiten- oder Kinderprothesen für den Frontzahnbereich indiziert.
Schlafstörungen und Bruxismus
Kieferfehlstellungen können sich auch auf den Schlaf auswirken. So wird das obstruktive Schlafapnoe-Syndrom (OSAS) häufig durch Kieferanomalien begünstigt, insbesondere durch verengte Atemwege infolge einer Klasse-II-Verzahnung in Verbindung mit dorsaler Zungenposition [6, 11]. Ebenso kann Bruxismus bereits im Kindesalter auftreten, was langfristig das Risiko für kraniomandibuläre Dysfunktionen (CMD) erhöht [4]. Frühzeitig eingesetzte, konfektionierte und individuell angepasste Silikonschienen können hier bei stärkerer Ausprägung und entsprechendem Leidensdruck therapeutische Unterstützung bieten.
Familienpraxis als Drehscheibe
Für eine erfolgreiche Prävention und interzeptive Therapie ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit der Logopädie und bei Bedarf auch mit Pädiatrie und HNO-Medizin von großer Bedeutung [12]. Als erfolgreich haben sich myofunktionelle Übungen in Verbindung mit kieferorthopädischer Behandlung erwiesen [13]. Alle oben genannten Geräte können ohne Risiko in der Familienpraxis verschrieben werden – bei Unsicherheiten in Bezug auf Lagebeziehungen und Indikationen in Rücksprache mit der Kieferorthopädie.
Fazit: Kieferorthopädische Prävention ist essenziell, um Funktionsstörungen und daraus resultierende Fehlentwicklungen zu vermeiden. Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Zahnmedizin, Logopädie, HNO-Medizin und Pädiatrie ist dabei unverzichtbar. Um frühzeitige Maßnahmen effektiver zu gestalten und eine langfristig gesunde Gebissentwicklung zu gewährleisten, sind versorgungsbezogene Änderungen erforderlich [14]. Dazu gehören um funktionelle Aspekte erweiterte gesetzliche Frühuntersuchungen und eine bessere Erstattung präventiver Maßnahmen.
Dr. Jan H. Koch, Freising
Interessenskonflikt: Dieser Artikel entstand auf der Basis eines Fachbeitrags in der Zeitschrift Prophylaxe Impuls [15]. Das Honorar für den Originalartikel übernahm die Dr. Hinz Unternehmensgruppe (Haranni Academie, Herne).
Hinweis: Beiträge in der Rubrik Oralmedizin kompakt können nicht die klinische Einschätzung der Leser ersetzen. Sie sollen lediglich – auf der Basis aktueller Literatur und/oder von Experten-Empfehlungen – die eigenverantwortliche Entscheidungsfindung unterstützen.
Mehr zum Thema: Interview: Interdisziplinäre Leitlinie für KfO und Funktion
Dr. Jan H. Koch
Dr. med. dent. Jan H. Koch ist approbierter Zahnarzt mit mehreren Jahren Berufserfahrung in Praxis und Hochschule. Seit dem Jahr 2000 ist er als freier Fachjournalist und Berater tätig. Arbeitsschwerpunkte sind Falldarstellungen, Veranstaltungsberichte und Pressetexte, für Dentalindustrie, Medien und Verbände. Seit 2013 schreibt Dr. Koch als fester freier Mitarbeiter für die dzw und ihre Fachmagazine, unter anderem die Kolumne Oralmedizin kompakt.
Mitglied seit
7 Jahre 10 MonateLiteratur
[1] Azevedo ND, Lima JC, Furlan R, et al. Tongue pressure measurement in children with mouth-breathing behaviour. J Oral Rehabil. 2018;45(8):612–7. Epub 20180610. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/29782038
[2] Furtenbach M. Bedeutung der Zunge in Kieferorthopädie und Logopädie. Informationen aus Orthodontie und Kieferorthopädie 2017;49(1):31–4.
[3] Salbach A, Grabowski R, Stahl de Castrillon F. Der Einfluss orofazialer Dysfunktionen auf die Gebissentwicklung im Milch- und frühen Wechselgebiss. Quintessenz. 2012;63(11):1427–37.
[4] Grabowski R, Hinz R, Stahl de Castrillon F. Das kieferorthopädische Risikokind. Gebissentwicklung und Funktionsstörungen – KFO-Prävention und Frühbehandlung. Herne: Zahnärztlicher Fach-Verlag; 2009.
[5] Granja GL, Bernardino VMM, Lima LCM, et al. Orofacial dysfunction, nonnutritive sucking habits, and dental caries influence malocclusion in children aged 8–10 years. Am J Orthod Dentofacial Orthop. 2022;162(4):502–9. Epub 20220702. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/35791996
[6] Kirschneck C, Proff P, Lux C. Ideal treatment timing of orthodontic anomalies-a German clinical S3 practice guideline. J Orofac Orthop. 2022;83(4):225–32. Epub 20220617. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/35713671
[7] Doğramacı EJ, Rossi-Fedele G, Dreyer CW. Malocclusions in young children: Does breast-feeding really reduce the risk? A systematic review and meta-analysis. The Journal of the American Dental Association. 2017;148(8):566–74.e6. https://doi.org/10.1016/j.adaj.2017.05.018
[8] Alam MK, Alayyash A. Management Strategies for Open Bite Relapse: A Systematic Review and Meta-Analysis. Cureus. 2024;16(3):e56285. Epub 20240316. https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC11018291/pdf/cureus-0016–00000056285.pdf
[9] Sambale J, Jablonski-Momeni A, Korbmacher-Steiner HM. Impact of initial lip competence on the outcome of class II functional appliances therapy. Clin Oral Investig. 2024;28(2):126. Epub 20240130. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/38286891
[10] Zimmer S, Barthel CR, Ljubicic R, et al. Efficacy of a novel pacifier in the prevention of anterior open bite. Pediatr Dent. 2011;33(1):52–5. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/21406148
[11] Hinz R. Schlafstörungen bei Kindern. Vom 1. bis zum 16. Lebensjahr. Herne: Zahnärztlicher Fach-Verlag; 2015.
[12] Fischer LS, Stellzig-Eisenhauer A. Gutes Timing ist alles! Der richtige Zeitpunkt für eine kieferorthopädische Behandlung. Bayerisches Zahnärzte Blatt. 2019(June):62–70.
[13] Carrasco-Llatas M, O‘Connor-Reina C, Calvo-Henriquez C. The Role of Myofunctional Therapy in Treating Sleep-Disordered Breathing: A State-of-the-Art Review. Int J Environ Res Public Health. 2021;18(14):7291. Epub 20210708. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/34299742
[14] Hinz R. Der Logopäden-Vertrag – ein Farce im Sommerloch. die zahnarzt woche. 2012(37):3.
[15] Koch JH. Frühzeitige kieferorthopädische Maßnahmen (Teil 1). Funktionelle Fehlentwicklungen vermeiden oder behandeln. Prophylaxe Impuls. 2024;28(3):138–42.