All die verschnarchten Jahre und Jahrzehnte auf dem Weg in die Digitalisierung des Gesundheitswesens will er auf der Überholspur nachholen – (Noch-?) Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, sekundiert von SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach. „Wir sind nicht da, wo wir sein müssten“, sagte Spahn auf dem Deutschen Ärztetag. Da hat er recht. Bleibt die Frage, wie tauglich ist das deutsche Gesundheitswesen für Warp-Geschwindigkeit?
Da ist Skepsis angebracht. Die „Süddeutsche Zeitung“ berichtete jüngst, dass die ab Januar 2021 verpflichtend einzuführende elektronische Patientenakte anfangs eine Art offenes Buch ist – und eine „differenzierte Rechtevergabe in Folgestufen umgesetzt werden soll“, so die Gematik. Bei Patienten und Ärzten könnte jetzt Schnappatmung einsetzen. Möchte jemand also seine elektronische Patientenakte (ePA) nutzen, erführe der Zahnarzt vom Schwangerschaftsabbruch, der Urologe von Depressionen und der Augenarzt vom Fußpilz. Hallo? Wer sollte so etwas wollen. Das ist ja wie Dschungelcamp. Bitte holt mich hier raus. Elektronische Patientenakte ohne Rechtevergabe ist wie Auto ohne Reifen, Computer ohne Monitor, Herd, mit dem ich nicht kochen kann. Selbst die Entwicklung der sagenumwobenen Flugtaxis ist weiter. Und unter Datenschutz stellt sich selbst ein Laie anderes vor.
„Wir können nicht sofort das perfekte System haben, wir müssen in kleinen Schritten vorgehen und am Ende zeigen, dass es einen Vorteil für die Versicherten bietet“, so Gottfried Ludewig, Abteilungsleiter Digitalisierung und Innovation im BMG, auf dem Hauptstadtkongress Medizin und Gesundheit. Stellen wir uns einmal vor, Herr Ludewig träte in „Die Höhle der Löwen“ – jener Talentshow für Start-ups – auf und präsentierte dort den derzeitigen Stand der ePA. Das Gelächter mag sich jeder geneigte Leser selbst vorstellen.
Minister Spahn verstieg sich auf eben jenem Hauptstadtkongress Medizin und Gesundheit zu folgender Äußerung: „Ja, das ist wünschenswert [individuelle Rechtevergabe], ja, da wollen wir auch hin, aber das klappt im ersten Schritt noch nicht. Aber im Rahmen dessen, was ich gerade beschrieben habe, ist die Hoheit beim Patienten“, so der Minister.
Wenn sich das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der Patienten darauf beschränkt, Ja oder Nein zur ePA zu sagen, wird sich die Begeisterung zu Recht in Grenzen halten. Danke für nichts. Den „gläsernen Patienten“ wollte bis dato doch keiner. Eine Basta-Politik mit Patientendaten kann man machen, muss man nicht.
Spahn wiederholte in seiner Replik auf dem Ärztetag zum x-ten Mal seinen Lieblingssatz zur Digitalisierung des Gesundheitswesens: „Wenn wir die Entwicklung in den nächsten zwei bis drei Jahren nicht gestalten, erleiden wir sie.“ Und genau hier liegt das Dilemma. Spahn wäre gerne CEO eines agilen, smarten Start-ups. Aber er ist nun einmal Minister eines Verwaltungsapparats. Und seine Gegenüber sind auch nicht willige Dienstleister in Partylaune, sondern riesige Tanker der Selbstverwaltung mit zum Teil diametraler Interessenslage. Da kommt nur schwer Fahrt auf und noch weniger Stimmung.
Nun erwartet von der elektronischen Patientenakte ja niemand ein perfektes Produkt. Und ja, gerade digitale Produkte unterliegen einem rasanten technologischen Anpassungsdruck. Das wissen wir. Eine „eierlegende Wollmichsau“, wie Ludewig es nennt, ist nicht die Forderung, aber mehr als ein digitaler Ordner darf die ePA schon sein.
Spahn sieht sich als Macher und Tempomacher. Das Bild soll nicht getrübt werden. Der Mann hat ja bekanntlich noch Ambitionen. Am Ende des Tages zählt aber nicht die Anzahl der durchgebrachten Gesetze, sondern die Substanz. In diesem Fall: leider #Fail