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Am seidenen Faden

Corona hat Europa wieder fest im Griff, die zweite Welle ist da, und gemessen an den Infektionszahlen in den meisten Ländern erscheint die erste Welle inzwischen wie ein seichtes Plätschern. Dabei ist Corona kein nationales Problem, das Virus macht nicht an Ländergrenzen halt, und auch das Zurückdämmen der Pandemie kann nur als europäische Anstrengung gelingen. Die dzw schaut deshalb jetzt zu den Nachbarn. Wie kommen sie mit der Krise klar, welche spezifischen Herausforderungen hält sie für die Zahnmedizin vor Ort bereit? Heute werfen wir einen Blick nach Frankreich. Anders als in Deutschland mussten die „Cabinets“ hier im Frühjahr für zwei Monate schließen, mit erheblichen Folgen. Damals zogen Zahnärzte in sozialen Medien blank (#dentistesapoil), um auf die fehlende Schutzausrüstung aufmerksam zu machen. Brigitte Dinkloh konnte Franck Mouminoux, Präsident der Union Dentaire, für die dzw Fragen zur Situation der Kollegen in Frankreich stellen.

Franck Mouminoux, Präsident der Union Dentaire, die sich in Frankreich für die Belange von Zahnärztinnen und Zahnärzten einsetzt.

Sehr geehrter M. Mouminoux, Sie sind Präsident der Union Dentaire. Können Sie uns Ihre Organisation zunächst kurz vorstellen und sagen, welche Bedeutung sie für die Zahnärzte in Frankreich hat?
Franck Mouminoux: Die Union Dentaire ist eine von drei freien Zahnarztgewerkschaften in Frankreich. Eine freie Gewerkschaft darf im ganzen Land vertreten sein und gemäß ihrer Stärke Verhandlungen mit den Behörden führen zur Verteidigung der zahnärztlichen Interessen. Unsere Mitglieder sind vor allem Zahnärzte in niedergelassener Praxis, aber nicht nur. Jede Gewerkschaft hat – ähnlich wie eine Partei – ihre eigenen Werte und Ideen. Wir vertreten eine humanistische und fortschrittliche Vision unseres Berufsstands. Wir befürworten eine zeitgemäße Ausübung, um so den Herausforderungen der Zukunft gewachsen zu sein. Zahnärzte sind unserer Meinung nach, genauso wie alle anderen Ärzte, Apotheker und Pflegende, als Teil der Gesamtgesellschaft dem Wohlergehen ihrer Patienten verpflichtet.

Die Corona-Pandemie trifft Frankreich jetzt zum zweiten Mal mit voller Wucht und vielen Restriktionen. Was bedeutet das für die Arbeit der Zahnmediziner in Frankreich?
Mouminoux: Diesmal bleiben im Gegensatz zur ersten Welle im Frühjahr die Zahnarztpraxen geöffnet. Die Patienten können ihre Termine uneingeschränkt wahrnehmen. Das stellt eine ungemeine Erleichterung für die Bevölkerungen und ebenso für die Zahnärzte dar, die schon befürchtet hatten, die Praxen erneut schließen zu müssen.

Im Frühjahr mussten die französischen Zahnärzte für zwei Monate ihre Praxen schließen und durften nur noch Notfallbehandlungen durchführen. Welche Folgen hatte das für die zahnmedizinische Versorgung der Menschen?
Mouminoux: Ja richtig, zwei Monate lange vom 17. März bis zum 10. Mai waren nur dringende Notfallbehandlungen erlaubt. Es durften keine regulären Behandlungen durchgeführt werden, und so wurden aus ursprünglich harmlosen Problemen wahre Notfälle. Die Anzahl der Notfälle nahm immer mehr zu. Nach der Wiedereröffnung der Praxen am 11. Mai waren die Behandlungen so lange unterbrochen, dass man wieder von vorne beginnen musste. Noch heute spüren wir die Konsequenzen des zweimonatigen Lockdowns: Die Zahnärzte holen auf, aber Basisuntersuchungen werden weiterhin verschoben. Nicht selten müssen Patienten mehrere Monate auf einen Zahnarzttermin warten.  

Verfügen die Zahnärzte in Frankreich derzeit über ausreichende Schutzausrüstung und Desinfektionsmittel?
Mouminoux:
Ja, im Gegensatz zum Frühjahr, wo dies einer der Gründe für die verordnete Schließung der Zahnarztpraxen war, sind wir jetzt gut ausgestattet. Heute wird Schutzkleidung in großem Stil produziert. Seit Mai ermuntern wir die Zahnärzte, ihren Bedarf abzuschätzen und einen ausreichenden Vorrat an Schutzmaterialien für mindestens drei Wochen anzulegen. Dabei muss man abwägen : Es gilt, ausreichend Material für den gesicherten Betrieb der eigenen Praxis zu haben, und gleichzeitig darf man nicht zu viel zu bestellen, um keinen erneuten Engpass hervorzurufen.  

In Deutschland beklagten die Zahnmediziner im Frühjahr Einbußen, weil viele Menschen den Arztbesuch verschoben. Auch jetzt werden mit dem erneuten Anstieg der Infektionszahlen privat honorierte Leistungen wie die PZR wieder weniger nachgefragt. Haben die Menschen in Frankreich derzeit Angst, den Zahnarzt aufzusuchen? Und wie hoch sind die monetären Einbrüche für die Zahnarztpraxen?
Mouminoux: Seit der Wiederöffnung sind die Patienten in die Praxen zurückgekehrt. In einigen Gebieten werden die Praxen geradezu überrollt: der Mangel an Zahnärzten in gewissen Regionen tritt jetzt noch deutlicher zutage. Im letzten Juni haben wir eine Untersuchung durchgeführt: Mehr als die Hälfte der praktizierenden Ärzte haben infolge dieser Krise ihre Pläne geändert. Viele gehen vorzeitig in den Ruhestand. Und die französischen Zahnärzte hatten Angst vor dem erneuten Lockdown, wir wussten nicht, ob die Patienten weiterhin die Zahnarztpraxis aufsuchen würden. Seit dem 30. Oktober besteht wieder eine Ausgangssperre. Bislang haben wir, Gott sei Dank, noch keine nachlassende Aktivität in den Praxen beobachtet. Die zweimonatige Zwangspause im Frühjahr bedeutete für die Zahnarztpraxen natürlich große finanzielle Einbußen. Dank des Regierungsprogramms 100 % Santé (100 Prozent Gesundheit) haben sich die Zuzahlungen für Zahnersatz aber seit 2019 verringert und können ab dem nächsten Jahr sogar ganz entfallen, sodass immer noch ein gewisser Nachholeffekt besteht und die Patienten nicht zögern, zum Zahnarzt zu gehen.

Welche Form der (finanziellen) Unterstützung gibt es für die Praxisinhaber und ihre Mitarbeiter durch den französischen Staat?
Mouminoux: Im Frühjahr war das Überleben der Praxen ohne Rücklagen gefährdet. Wir befürchteten einen Dominoeffekt. Wir haben uns große Mühe gegeben, finanzielle Hilfen für die Zahnärzte zu erhalten. So haben wir das Sondervermögen der eigenen Pensionskasse CARCDSF freigegeben. Und die Krankenversicherung hat den Zahnärzten eine zusätzliche monatliche Kompensation bis in den Sommer gewährt. Diese finanziellen Unterstützungen dienten als Ausgleich für den Tätigkeitsverlust und müssen nicht erstattet werden. Nicht wenige befürchteten aber genau dies und haben die Hilfen deshalb nicht beantragt. Wir haben aber immer klar und deutlich verkündet: Diese Hilfe, die Union Dentaire ausgehandelt hat, muss nicht erstattet werden. Wir haben uns auch für das Kurzarbeitergeld der Angestellten stark gemacht, denn es war von entscheidender Bedeutung für den Fortbestand der Praxen und die Aufrechterhaltung der Beschäftigung.

Gibt es in Frankreich auch Praxisversicherungen, und zahlen diese im Fall von behördlich angeordneter Praxisschließung oder Praxisschließung aufgrund von Quarantäne?
Mouminoux
: Das ist ein wunder Punkt, der die französischen Kolleginnen und Kollegen sehr erregt. Natürlich bestehen Versicherungen, die die Ausübung unseres Berufs absichern. Gleichwohl wollte keine Versicherung in Frankreich das Pandemierisiko abdecken, und so haben die Zahnärzte keinen Schadenersatz erhalten. Die Versicherungen stehlen sich aus der Verantwortung, und das nicht nur bei den Zahnärzten.

In Frankreich wird derzeit ein Gesetz über eine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall für die freien Berufe (congé maladie pour les professions libérales) diskutiert und vermutlich im nächsten Jahr in Kraft treten. Was bedeutet das für Ihren Berufsstand?
Mouminoux:
Das ist ein bemerkenswerter Vorstoß, den wir befürworten. Auch wenn die Zahnärzte eine Zusatzversorgung haben, so bestraft sie die aktuelle Karenzfrist von 90 Tagen und zwingt sie, Zusatzversicherungen abzuschließen zur Risikominimierung. Im Krankheitsfall hat dies reale Schwierigkeiten zur Folge, denn der Mediziner ist verpflichtet, Überbeiträge zu bezahlen, was sich als Negativklausel herausstellen kann. Das Prinzip der gemeinschaftlichen Versicherung aller freien Berufe ist eine gute Sache, allerdings sollten die Beiträge bezahlbar sein.

In Deutschland gab es die Idee, dass Zahnmediziner zukünftig Corona-Impfungen durchführen könnten. Gibt es auch in Frankreich Überlegungen, wie Zahnärzte bei der Bekämpfung der Pandemie die Kollegen in der Humanmedizin unterstützen können?
Mouminoux:
Heute sprechen wir in Frankreich noch nicht über Impfungen in Zahnarztpraxen. Aber regelmäßig wird die Idee bemüht, dass Zahnärzte den Antigen- Schnelltest durchführen könnten. Dafür benötigt man aber eine Weiterbildung, die im Moment noch nicht allgemein angewendet wird.

Wie stark sind die Zahnärzte selbst in Frankreich von einer Infektion durch das Virus betroffen? Und welche Hoffnungen und Befürchtungen haben Sie für den Winter und das kommende Frühjahr?
Mouminoux
: Die Union Dentaire drängt seit dem 11.Mai bei unserer Zahnärztekammer auf die Durchführung einer umfangreichen Untersuchung, um herauszufinden, ob Zahnärzte durch das Virus besonders gefährdet sind oder nicht. Diese Untersuchung wurde nie durchgeführt. Im Elsass, einer Region, die sehr von der ersten Welle betroffen war, hat eine im April durchgeführte Untersuchung gezeigt, dass 86 Prozent der Zahnärzte negativ auf Sars-CoV-2 getestet wurden. Das steht im Gegensatz zu einer im gleichen Zeitraum publizierten Studie in der „New York Times“. Ja, die Ausübung unseres Berufs birgt ein Ansteckungsrisiko. Aber wir sind ein Berufsstand, der sich schon immer sehr geschützt hat und dies seit Ausbruch der Pandemie noch mehr tut. Mit der Einführung der neuen Hygieneprotokolle und der neuen Schutzausrüstung (PSA) seit dem 11. Mai gibt es keinen Beweis dafür, dass wir mehr Infektionen aufweisen als andere Berufe. Mit dem Winter erhöht sich das Problem der vorgeschriebenen viertelstündlichen Lüftung zwischen den Behandlungen der Patienten. Wir werden uns zwar dann nicht mit Covid-19 anstecken, aber vermutlich alle einen ordentlichen Schnupfen holen.

Zur Person:
Franck Mouminoux, 52, wurde 2020 zum Präsidenten der Union Dentaire gewählt. Seit 1994 ist er als Zahnarzt in Aurillac (Cantal) tätig, gemeinsam mit zwei Kolleginnen in einer Praxis. Er ist ein starker Befürworter der liberalen Berufsausübung und kennt die Probleme seiner Profession, wie zum Beispiel den Nachwuchsmangel. Franck Mouminoux, seit 1997 Mitglied der Union Dentaire, hat  Karriere gemacht: Zunächst Delegierter im Département, dann Präsident von Landes Auvergne Rhône Alpes, bis hin zum nationalen Generalsekretär, und seit diesem Jahr steht er der Gewerkschaft als Präsident vor. Respekt, Integrität, Solidarität, Teamgeist und Engagement, diese Werte lebt Franck Mouminoux nicht nur in seiner Freizeit beim Rugby, sondern auch in seiner Arbeit für die Patienten und die Union Dentaire.