Man erwartet, dass sich damit auch die Gesundheitsbranche in den nächsten fünf bis zehn Jahren deutlich ändert. E-Health lautet das Thema, von dem man Entwicklungssprünge erwartet.
Auch die Repräsentanten der Dentalindustrie überschlugen sich zur Internationalen Dental-Schau mit Zukunftsvisionen von der digitalen Vernetzung, sprachen analog zum "Internet der Dinge" von der "IDS der Dinge" und Dental 4.0. Sicher ist, dass sich das Volumen nutzbarer und genutzter Daten aufgrund der allgegenwärtigen Sensor-Technologien und zunehmender Vernetzung der Marktteilnehmer und der Geräte in den nächsten Jahren exponentiell entwickelt – auch in der Dentalbranche.
Aber was ist wirklich zu erwarten für Praxen und Labore und natürlich auch für Industrie und Handel selbst? Vor allem aber für die jeweiligen Patienten-, Kunden- und Lieferantenbeziehungen? Mit diesen und anderen Fragen rund um den digitalen Transfer und Dental 4.0 versuchten zehn Experten aus Dentalindustrie und -handel in der "DZW Bonner Runde" Ende September unter der Moderation des Baseler Strategieberaters Rudolf Weiper den Blick in die dentale Zukunft.
Wer linear denkt, denkt falsch
Schon in der Einführung durch Weiper mit einem Rückblick auf die bisherige Entwicklung der Digitalisierung in der Dentalwelt und deren Folgen für die Strukturen im Markt und erste Diskussionen der Teilnehmer wurden zwei Dinge deutlich: Die bisherige Digitalisierung war erst der Vorlauf, und wer an eine absehbare lineare Weiterentwicklung des bisher Bekannten denkt, liegt sicher falsch. Die Digitalisierung erfolgte in Sprüngen und Brüchen; die Auswirkungen – die Großfusionen in der Industrie in den vergangenen fünf Jahren, die jüngsten Entwicklungen bei den Fertigungszentren und die Änderungen im Einkaufsverhalten von Praxen und Laboren – waren so nicht erwartet.
Das Informationsverhalten ändert sich
Die Generation Y, die zunehmend in die Praxen und Labore kommt, verändert auch das Informationsverhalten der älteren Generationen – das Internet wird zur umfassenden Informationsquelle. Größere Praxisstrukturen mit angestellten, meist jüngeren Zahnärzten haben ein anderes Informations- und Einkaufsverhalten als die traditionelle Einzelpraxis. Die Zahl der Praxen wird eher abnehmen, die Strukturen werden im Schnitt größer, so die Erwartungen.
Der klassische Außendienst des Handels, aber auch die Berater und Verkäufer der Industrie verlieren damit an Informationsvorsprung. "Der klassische Verkäufer ist in zehn Jahren tot. Wer nicht mehr weiß als das Internet, kommt morgen nicht mehr in die Praxis", so ein Teilnehmer. Angesichts der immer komplexeren Geräte und Vernetzungen werden Service und Techniker der Depots in den Praxen immer stärker als verlässliche und kompetente Informationsquelle wahrgenommen und vor Kaufentscheidungen befragt, so die Erfahrung. "Einer muss es vor Ort zusammenbringen, Fernwartungen funktionieren nur bei einfachen Geräten" und "Die Techniker sind zehnmal und mehr im Jahr in der Praxis, sie kennen den Laden und sind im Notfall Problemlöser, wenn der Verkauf nicht im Vordergrund steht. Denen vertraut man." Schon heute sind Wartung und Service für Handel und Direktvertreiber immer wichtigere Geschäftsfelder. Das wird schon aufgrund der hohen Zahl bestehender Altgeräte und Einrichtungen wohl auch noch so bleiben. Der Handel wird nach seiner Meinung weiter als Dienstleister für die digitale Vernetzung der Geräte und Systeme in der Praxis mit einem 24-7-Service gefragt sein, den die Industrie so nicht leisten kann.
Für die Direktvertreiber verlangt die Entwicklung einen zunehmend höheren Kommunikationsaufwand digital über Online-Portale, eigene Shops und Plattformen und analog über qualifizierte und spezialisierte Kundenberater, was heute schon viel Geld kostet. "Unsere Kunden erwarten nach wie vor die persönliche Beratung. Sie wollen unsere Produkte vor dem Kauf sehen und anfassen können", so ein Direktvertreiber. Trotz Wandel durch die Digitalisierung bleibt die persönlichen Beratung und Kompetenz, die vor allem die Zahnärzte, aber auch die Labore erwarten, für alle dienstleistungsorientierten Anbieter ein Muss. Persönliche Beratung bleibt auch für Labore und Auslandszahnersatz ein wichtiger Erfolgsfaktor.
Neue Datenmengen, mehr Wissen über die Kunden
Auch der Datenfluss zwischen den Marktteilnehmern wird größer und vor allem stetig direkter und intelligenter durch die Systeme analysiert und löst so Aktivitäten aus. Stehen Handel, Industrie, Praxen und Labore selbst im digitalen Workflow bislang wie getrennte Silos mit punktuellem Datenaustausch nebeneinander, fließen künftig auf deutlich mehr Ebenen Daten schon zwischen den Geräten und Plattformen aller Marktbeteiligten. Es winkt ein deutlicher Produktivitätsfortschritt durch die Digitalisierung. Die hier von Analytikern allgemein prognostizierten 30 bis 50 Prozent wirken als Treiber. Die sich ändernden Prozesse und Schritte in der Prothetik zeigen das heute schon, aber: "Man muss den Praxen sehr deutlich machen, dass man zu ihrem Vorteil an ihren geschäftlichen Prozessdaten und nicht an persönlichen Daten interessiert ist" brachte ein Teilnehmer Bedenken auf den Punkt. Die Transparenz nimmt zu, der mögliche Nutzen für die Kunden auch.
Da immer mehr Geräte vernetzt sind, können Hersteller und Händler immer häufiger auf Informationen über deren Nutzung durch die Kunden zugreifen, bei Bedarf eingreifen, für Großgeräte maßgeschneidert Reparatur, Service und Validierung, für Kleingeräte Fernwartungen und für alle Updates anbieten. Der Handel verliert hier sein Informationsmonopol über das Kundenverhalten gegenüber den Herstellern. Handhabung, Effizienz des Einsatzes und Lebenszyklus der Produkte werden transparenter. Das zwingt schon heute die Industrie dazu, in der Belieferung und Betreuung stärker vernetzt mit dem Handel zu agieren. Dieses Netzwerk wird dichter, die Abhängigkeiten größer und der Datenfluss schneller.
Der Zugang zum Kunden Zahnarzt könnte durch automatisierte Echtzeit-Auswertungen der verfügbaren Daten bis hin zu Social Media noch individueller gestaltet werden. Die Gießkanne wird in Verkauf und Kommunikation dann nicht mehr funktionieren, darin war man sich einig.
Wer die Daten gewinnen, auswerten und nutzen kann, macht das Rennen
Mit den großen Datenmengen kommen auch neue Unternehmen ins Spiel, die Kundendaten schon verwalten und auch verknüpfen können und Zugriff auf Logistikangebote haben, um Dentalprodukte zu vertreiben. Auch in der vergangenen ersten Phase der Digitalisierung tauchten im Dentalmarkt völlig neue Spieler auf und eroberten Marktanteile. Nicht nur das Materialgeschäft des Handels, das heute schon immer stärker ins preissensitive Internet geht, wird auch für Amazon, Google und Co. interessant. So ist Amazon bereits im Dentalmarkt unterwegs. Aber nicht nur diese Internetgiganten haben explizit den Gesundheitsmarkt zum Ziel erklärt. "Es werden ganz neue Player auch aus der Internetbranche in den Markt kommen", zeigten sich Vertreter des Handels überzeugt.
Als maßgebliche Gestalter mit den digitalisierten Daten kommen auch die Krankenkassen und Kostenerstatter mit ihren Data-Warehouses und die Patienten selbst immer stärker ins Spiel, die sich zum Beispiel durch die exponentiell steigende Zahl von Gesundheitsapps und Wearables informieren und vernetzen oder darüber von den Kassen geldwerte Vorteile erhalten bei bestimmtem Verhalten, zur Inanspruchnahme von bestimmten Leistungen motiviert werden und sich im Internet informieren. Am Ende der Kette wird der Zahnarzt von allen Seiten zunehmend mit der Digitalisierung konfrontiert werden. Das wird nach Meinung der Teilnehmer den Markt deutlich ändern – für alle.
Für die etablierten Industrie- und Handelsunternehmen ist es eine teure Herausforderung, ihre vorhandenen Strukturen an die Geschwindigkeit der Digitalisierung so anzupassen, dass die vorhandenen Kundendaten auch sinnvoll für Produktentwicklung, Service, Kommunikation, Kundenanalyse und -bindung ausgewertet und genutzt werden können. "Das machen wir noch viel zu wenig, weil das bisher viel zu aufwendig war", konstatierte ein Teilnehmer.
"Wir haben schon viel Geld in Kundenbindungs und -steuerungssystemen versenkt", so die Erfahrung eines Direktvertreibers. Auch das Thema Datenschutz und ständig verschärfte Richtlinien machen es schwierig, die für das eigene Geschäft relevanten Daten gewinnen und auswerten zu können. "Bei ihren Praxisdaten sind Zahnärzte empfindlich, man bekommt nur allgemeine E-Mail-Adressen, keine personalisierten, das macht die digitale Direktansprache fast unmöglich", so die allgemeine Erfahrung. Das gute alte Fax ist nach wie vor breit präsent in den Praxen.
Dental 4.0 weckt Ängste vor zu viel Transparenz, vor der Preisgabe von Unternehmenswissen – aber es kann sich keiner leisten, nicht mitzugehen. "Das kommt unausweichlich, und es ist besser, dabei zu sein", so die einhellige Meinung. Auch wenn damit für alle Beteiligten hohe Kosten, Fehlschläge, Wandel zu einer digitalen Unternehmenskultur und notwendigerweise veränderte Ansprache der einziehenden Generation Y im Unternehmen und bei Kunden und Patienten verbunden sind.
CAD/CAM in der Prothetik als Treiber
Ein Treiber für die Digitalisierung in Praxis und Labor ist nach wie vor die Prothetik. Der digitale Workflow wird mit der zunehmenden Verbreitung der Intraoralscanner in den Praxen komplett und Standard werden. Spätestens 2020 ist er nach Schätzung der Teilnehmer in der Breite in Praxis und Labor angekommen und wird weitere Prozessschritte überflüssig machen. Hinzu kommt als weiterer Treiber von Dental 4.0 der 3-D-Druck, dessen Möglichkeiten sich rasant entwickeln. Die großen Labore werden dabei nach Meinung der Teilnehmer eher die Gewinner sein, schon aufgrund der mit dem digitalen Wandel einhergehenden Investitionen und dem jetzt bereits hohen Kapazitätsbedarf für einen Schulungsaufwand, der, vergleichbar mit der Situation in Industrie, Handel und Praxen, immer höher wird mit der zunehmenden Geschwindigkeit der digitalen Änderungen. Große Labore werden sich selbst mit Praxen vernetzen und Angebote stellen können, die heute noch den Herstellern vorbehalten sind.
Die Digitalisierung wird aber in den Praxen weit über die Prothetik hinausgehen und fast alle Bereiche umfassen. Viele Anbieter im Markt stellen sich deshalb neu als Komplettanbieter auf – dazu gehören auch Direktvertreiber zum Beispiel aus der Implantatbranche, die mit Produkten und Dienstleistungen wie Fertigungszentren aus der CAD/CAM-Welt die Praxen und Labore angehen und sich mit diesen vernetzen wollen. Die zunehmende Zahl der Connect-Projekte und -Programme, die vielen Kooperationen der Hersteller und letztlich auch die großen Fusionen auf dieser Seite belegen diesen Trend. Der Handel ist mit wenigen Ausnahmen in der Kommunikation zwischen Zahnarztpraxis, Labor und Fertigungszentrum bisher noch außen vor.
Letztlich – und da waren sich die Teilnehmer einig – wird aber am Ende immer noch der Zahnarzt entscheiden, was von den Angeboten er wann wahrnimmt. Nur was ihm für seine Praxis und seine Patienten wirklich greifbar mehr Nutzen verspricht, wird sich durchsetzen. Auch seine Sicht wird durch die Informationen im Internet schärfer, breiter und nüchterner werden, was sich auch bisher schon an der verzögerten Akzeptanz einiger angebotener Entwicklungen zeigt.
Ist Dental 4.0 mehr Bedrohung oder mehr Chance? – "Mehr Chancen durch die hohe Innovationskraft, die in der Vernetzung liegt", so das einhellige Statement der spannenden Bonner Runde dazu, "und zwar für alle, letztlich auch für die Patienten".
Die Sicht erfolgreicher Zahnärzte auf Dental 4.0 und Praxis 4.0 werden wir in der kommenden DZW-Bonner Runde mit diesen selbst kritisch diskutieren.