Modellversuch in einer Zahnarztpraxis: Mit Pfeil und Bogen in zehn Schritten zu einem ganzheitlichen, bio-psycho-sozialen Erleben
Das Problem ist mutmaßlich so alt wie die Menschheit: physische und psychische Probleme des Individuums durch unterschiedlichste Belastungen und Einflüsse bei der Arbeit.
Schon vor mehr als viertausend Jahren haben Schriftgelehrte im alten Ägypten wahrscheinlich durch einseitiges langes Sitzen unter Schulter- und Nackenschmerzen gelitten, denn an ihren Skeletten finden sich erhebliche degenerative Veränderungen in den besonders beanspruchten Knochenregionen. Im Vergleich mit bildlichen oder plastischen Darstellungen arbeiteten die Betroffenen wohl mit nach vorne gebeugtem Kopf, flektierter Wirbelsäule und nicht abgestützten Armen [1].
Kleinstmögliches Arbeitsfeld
Im zahnmedizinischen Arbeitsfeld ist die Bewegungsfreiheit ähnlich limitiert, weil Problematik und Gegebenheit des Arbeitsumfelds „Patientenmund“ die Rahmenbedingungen bestimmen [2]. Für mehr als zwei Drittel [3, 4] zahnmedizinisch Tätiger wird der Arbeitsalltag durch eine ständig verkrümmte Wirbelsäule, eine zu starke Neigung des Kopfes und/oder eine ungünstige Armhaltung („Krebsscherenhaltung“) bestimmt.
Anfänglich harmlose, muskuloskelettale Verspannungen können so über Jahre hinweg zu einem vorzeitigen Ende des Berufslebens [3, 4] führen. Und das Problem findet sich schon am Anfang: So hat eine Befragung von 271 Zahnmedizinstudierenden im dritten Studienjahr ergeben, dass bereits 70 Prozent von ihnen an chronischen Dorsalgien litten [2]. Aktive Prophylaxe ist also notwendig.
Durch den eher zufälligen Kontakt mit einem Indianerbogen aus Kindertagen kam der hausärztliche Psychotherapeut Thomas Meyer vor knapp zehn Jahren auf die Idee, sich unter ganzheitlichem Aspekt mit dem intuitiven Bogenschießen, der ursprünglichsten Art des Umgangs mit Pfeil und Bogen, zu beschäftigen.
Durch die Ausbildung bei einem professionellen Bogenlehrer konnte er selbst eingehend die Zusammenhänge und das Zusammenspiel von Körper, Seele, Geist und Umfeld kennenlernen. Dabei verstärkte sich bei ihm schon bald der Eindruck, dass diese Art des gefühlsmäßigen, dem Körper- oder Bauchgefühl folgenden, eben intuitiven Bogenschießens bei regelmäßigem Üben zu einem ganzheitlichen, bio-psycho-sozialen Erleben führt. Der hierfür notwendige Aufwand ist gering.
Der einfach gestaltete Bogen besitzt keine Visiereinrichtung, er verfügt als einzige Hilfe über eine verwendungsabhängige (Links- oder Rechtshänder) Pfeilauflage (shelf) über dem Handgriff, die bei einem universell ausgestatteten Beidhänderbogen auch doppelt angebracht sein kann (Abb. 2).
Dem Körpergefühl folgen
Jede Schussabgabe beginnt mit der Einnahme eines stabilen, selbstsicheren Stands in Ausrichtung quer zum Ziel (Schritt 1). Nach einem tiefen Atemzug in Bauchatmung (Schritt 2) folgt das achtsame Einlegen des Pfeils in den Bogen (Schritt 3). Bereits jetzt schon entsteht eine während des ganzen Schießvorgangs anhaltende Ruhetönung mit Konzentration auf das Hier und Jetzt.
Das bloße Stehen wird im Sinne Guardinis als „schwingende Ruhe“ erlebt. Nach dem selbstbewussten Aufrichten des Körpers (Schritt 4) und Orientierung durch Augenkontakt mit dem Ziel (Schritt 5) wird der Bogen angehoben (Schritt 6), bis der, den Bogen haltende Arm („Bogenarm“) intuitiv, dem Körpergefühl folgend, die richtige Stellung im Verhältnis zum Ziel erreicht hat.
Dann ziehen die Schützin oder der Schütze die Sehne (Schritt 7) mit dem Pfeil kraftvoll zum „Ankerpunkt“ (Schritt 8), einem stabilen Ruhepunkt im Gesicht. Nach einem Moment des Innehaltens wird der Pfeil gelöst (Schritt 9), wenn der Körper signalisiert, „jetzt trifft der Pfeil“. Mit dem Einschlag auf der Scheibe kommt es zu einer Entspannung des gesamten Körpers beigleichzeitiger Verinnerlichung (Schritt 10) der beim Schießvorgang wahrgenommenen Erfahrungen (siehe Tabelle).
Das Erlernen der hierfür notwendigen zehn Schritte ist unter fachlicher Anleitung relativ einfach und auch für sportlich eher weniger trainierte oder körperlich gehandicapte Menschen in einigen Stunden gut zu bewältigen. Spezielle Sportkleidung ist nicht erforderlich.
Aufgrund dieser positiven Selbsterfahrung begann Meyer ab 2017 sein INGABO-Konzept zu entwickeln: Gruppenkurse im Rahmen der örtlichen Volkshochschule zu vier Abenden für Interessenten, aber auch Patienten der eigenen Praxis in Zusammenarbeit mit einem Bogensportfachgeschäft der Umgebung. Ziel des intuitiven, ganzheitlich (bio-psycho-sozial) erlebten Bogenschießens ist nicht der perfekte Treffer, sondern der immer gleiche Bewegungsablauf des Schießvorgangs mit den daraus resultierenden Benefits.
Im Verlauf der folgenden Jahre zeigte sich, dass der Kurszuspruch und die Zufriedenheit der Teilnehmer außerordentlich groß waren. Last but not least konnten diese subjektiv gefühlten, positiven Aspekte des intuitiven Bogenschießens auch wissenschaftlich im Rahmen zweier Bachelorarbeiten dokumentiert werden [5, 6].
Die Frage einer Tauglichkeit des intuitiven Bogenschießens als präventive Gesundheitsmaßnahme für das Praxisteam einer zahnmedizinischen Praxis stellte sich erstmalig, als der niedergelassene Zahnarzt Christian Langer über einen der angebotenen Kurse zum Bogenschießen und damit zum INGABO-Konzept fand.
Was kann INGABO Mitarbeitern in der Zahnmedizin bieten?
Die vielfältigen Vorteile liegen auf der Hand, werden doch genau die Punkte berührt, die Beschäftigte im zahnmedizinischen Bereich besonders belasten. Da beim intuitiven Bogenschießen keine besonderen körperlichen Voraussetzungen gegeben sein müssen, kann jede oder jeder, selbst innerhalb einer kurzen Arbeitspause, sportlich tätig werden.
Durch die vielfältigen, im intuitiven Bogenschießen enthaltenen, Benefits sollte es schon bald möglich sein, dass relativ kurze, aber regelmäßig wiederholte Übungseinheiten zu einer psycho-physischen Roborierung mit einer besseren, ganzheitlichen Wahrnehmung und aktiver Entspannung innerhalb eines stressbelasteten Arbeitstages in einer zahnmedizinischen Praxis beitragen können.
Erste Schritte zur Umsetzung
Die oben genannten Überlegungen führten dazu, dass innerhalb weniger Monate eine den Praxisräumen anliegende Freifläche zu einer Schießbahn (Abb. 1 und 2) umgestaltet wurde, die von allen Mitarbeitenden der Zahnarztpraxis genutzt werden kann. Voraussetzung ist, dass die am Schießen interessierten Mitarbeiter zuvor eine individuelle Einweisung (Th. Meyer, J. Abele) nach dem INGABO-Konzept durchlaufen haben müssen. Neben einer Sicherheitseinweisung steht hierbei zunächst das Erlernen eines immer gleichen Schießablaufs im Vordergrund.
Den Beginn macht das Üben mit einem sogenannten Technik- oder Nullbogen. Dabei handelt es sich um ein elastisches Plastikrohr mit einem am oberen und unteren Ende befestigten Plastikseil als angenommener Bogensehne. Das Zuggewicht ist Null, sodass sich die einzelnen Schritte des intuitiven Bogenschießens ohne Kraft- oder Zugaufwand perfekt einüben, automatisieren und internalisieren lassen. Der in Einzelschritte zerlegte Schussvorgang (siehe Tabelle) belegt dann als fließender Bewegungsablauf die Ganzheitlichkeit des intuitiven Bogenschießens.
Der Technikbogen kann mit etwas handwerklichem Geschick preisgünstig selbst gebastelt werden (Abb. 3) und zum weiteren Üben und Verfestigen des Bewegungsablaufs ohne „scharfen Schuss“ zu Hause oder selbst in kurzen Praxispausen zur Entspannung genutzt werden.
Für das angewandte Schießen in der Schießbahn werden bislang für die Praxismitarbeiter Leihbögen unterschiedlicher Größe und Zugkraft vorgehalten. Aus Praktikabilitätsgründen ist die Anschaffung flexibel einsetzbarer Beidhänderbögen (Abb. 1) geplant.
Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass die Realisierung einer innovativen Idee bis zu ihrer Implementierung und abschließenden Beurteilung von allen Beteiligten viel Geduld verlangt. Ende 2023 wurde die INGABO-Schulung schließlich mit einem halben Dutzend Mitarbeiter der Praxis in einer örtlichen Bogensporthalle begonnen, weil die praxiseigene Schießbahn im Freien nicht vollständig fertiggestellt war und Anfang 2024 wetterbedingt nur episodisch genutzt werden konnte.
Inzwischen findet immer freitags nach Sprechstundenende ein gemeinsames Schießen statt, das auch mit Angehörigen der Praxismitarbeiter in unterschiedlicher Beteiligung wahrgenommen wird. Als erster Erfolg kann verbucht werden, dass sich schon einzelne Teilnehmer eigene Sportgeräte gekauft haben.
Allerdings sind noch längst nicht alle Praxismitglieder involviert. Häufig sind es zeitlich-familiäre Aspekte, die den einen oder die andere vom Mitmachen abhalten, so dass auch über zeitlich flexible, vom Praxisbetrieb quasi unabhängige, individuelle, schießsportliche Aktivitäten nachgedacht werden muss.
Ermutigt durch das bisher Erreichte möchten Joachim Abele und Christian Langer in diesem Sinne weiterhin intensive Gestaltungs- und Aufklärungsarbeit leisten, um alle Beschäftigten der Praxis unter dem Blickwinkel des sozialen Miteinanders vom mehrdimensionalen Nutzen des kursorisch und strukturiert angebotenen, intuitiven Bogenschießens als innovativer, langfristig wirksamer, wenig aufwendiger und präventiver Gesundheitsmaßnahme zu überzeugen.
Letztlich ist geplant, die Erfahrungen mit der Implementierung und langfristigen Institutionalisierung von INGABO als vorbeugender Gesundheitsstrategie bei entsprechend gefährdeten Berufen wissenschaftlich zu evaluieren und es damit vielleicht auch für ähnlich belastete Gesundheitsberufe (HNO-Ärzte, Gesichtschirurgen, Augenärzte, Neurochirurgen etc.) interessant und attraktiv zu machen. Auf jeden Fall könnte sich hier mittelfristig eine interessante Facette im präventivmedizinischen Bereich entwickeln, die weiterhin beobachtet werden sollte.
Joachim Abele, Christian Langer, Elisabeth Meyer-Albrecht, Thomas Meyer, Fritz Meyer
Danksagung: Die Autoren bedanken sich ausdrücklich bei dem Ehepaar Volker und Steffi Siebert (Bogensportfachgeschäft Wemding) für die allzeit geduldige und kompetente Mithilfe bei der Auswahl und Bereitstellung von Bögen, Pfeilen sowie weiterem, notwendigem Equipment.
Über die Autoren
Joachim Abele ist Assistenzzahnarzt im Zahnärzteteam Langer & Wunderle, Wemding
Dr. Christian Langer, Praxisinhaber, Zahnarzt, Implantologe im Zahnärzteteam Langer & Wunderle
Dr. Thomas Meyer, Facharzt für Allgemeinmedizin, Sportmedizin-Psychotherapie
Dr. Elisabeth Meyer-Albrecht M.Sc. (Psychologie), Assistenzärztin Innere Medizin
Dr. Fritz Meyer, Facharzt für Allgemeinmedizin (Sportmedizin), Facharzt für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde
Literatur
[1] Brukner Havelková P, Dulíková V, Bejdová Š, Vacková J, Velemínský P, Bárta M. Ancient Egyptian scribes and specific skeletal occupational risk markers (Abusir, Old Kingdom). Sci Rep. 2024 Jun 27;14(1):13317. doi: 10.1038/s41598–024–63549-z. PMID: 38937484; PMCID: PMC11211405.
[2] Holzgreve F, Weis T, Germann U, Wanke EM. Gesundheitliche Risikofaktoren der Berufsbilder Zahnarzt/ Zahnärztin und Zahn medizinische Fachangestellte. Zbl Arbeitsmed 2022; 72:183–189 https://doi.org/10.1007/s40664–022–00463-z
[3] Kaps-Richter G. Wenn der Zahnarzt Schmerzen hat … DFZ 2017; 61 (3): 3
[4] Gopinadh A, Devi KN, Chiramana S, Manne P, Sampath A, Babu MS. Ergonomics and musculoskeletal disorder: as an occupational hazard in dentistry. J Contemp Dent Pract. 2013 Mar 1;14(2):299–303. doi: 10.5005/jp-journals-10024–1317. PMID: 23811663.
[5] Eipel L. (2021) Kann kursorisch und strukturiert angebotenes intuitives Bogenschießen ganzheitliches Erleben und aktive Entspannung vermitteln? Fragebogenanalyse zur Objektivierung der Wirkimpulse beim Bogenschießen. Bachelorarbeit (Studiengang Sportwissenschaft Betreuung durch H. Streicher) der Sportwissenschaftliche Fakultät des Instituts für Gesundheitssport und Public Health Universität Leipzig
[6] Jakobi D. (2021) Intuitives Bogenschießen − Evaluation psychischer Faktoren und nachhaltiger Effekte im Rahmen eines Gruppenkurses. Bachelorarbeit (Studiengang Sportwissenschaft Betreuung durch H. Streicher) der Sportwissenschaftlichen Fakultät des Instituts für Gesundheitssport und Public Health Universität Leipzig
[7] Clasing D, Siegfried I. (Hrsg.) Sportärztliche Untersuchung und Beratung. Erlangen, perimed Fachbuch-Verlagsgesellschaft, 1986
[8] Hüllemann K-D. (Hrsg.) Sportmedizin für Klinik und Praxis. Georg Thieme Verlag Stuttgart, New York, 1983