In der Netflix-Dokumentation „Root Cause“ geht es um die Leidensgeschichte des Regisseurs Frazer Bailey, der am chronischen Fatigue Syndrom litt und ungefähr alle (alternativen) Behandlungsmethoden ausprobiert hat, die man sich vorstellen kann. Von Entgiftungen mit Froschtoxinen bis hin zu den heilenden Händen diverser Gurus ist alles dabei. Positive Auswirkungen hatte nichts davon – abgesehen vom Unterhaltungsfaktor für das Publikum. Was das mit Zahnmedizin zu tun hat? Nun, nach etwa 40 Minuten erfährt der geneigte Zuschauer, dass Baileys Probleme eigentlich einer Wurzelbehandlung zu verdanken sind, die bereits zehn Jahre her ist und sich entzündet hat. Spoiler: Der Zahn wird am Ende gezogen, es werden noch ein paar andere Dinge „repariert“ und schon kann Bailey wieder das Leben genießen.
Der Trailer zu „Root Cause“.
Was sonst noch in dieser vermeintlich wissenschaftlichen Dokumentation geschieht, ist eine Präsentation der „Fakten“, die gegen Wurzelbehandlungen sprechen. Würden wir jetzt einfach nur über die Risiken einer Wurzelbehandlung sprechen, wäre das alles schön und gut (siehe dzw 07/2019). Es ist klar, dass Zahnprobleme Auswirkungen auf den ganzen Körper haben können und dass ein interdisziplinärer Therapieansatz oft sinnvoll ist. Es ist ebenso klar, dass eine Endokarditis von Bakterien aus dem Mund verursacht werden kann und dass Wurzelkanalbehandlungen schief gehen und zu einer höheren Bakterienlast führen können. Es ergibt demnach auch Sinn, dass eine Wurzelkanalbehandlung statistisch gesehen mit einem höheren Herzinfarktrisiko korreliert.
Das Problem von „Root Cause“ ist jedoch, dass hier ein vermeintlicher Experte auf den nächsten folgt und angebliche Fakten präsentiert, für die es den allermeisten Fällen einfach keine Belege oder überhaupt wissenschaftliche Studien gibt. Noch beunruhigender wird die Sache, da nahezu alle der Experten aus einem sehr fragwürdigen Umfeld stammen und auf ihren Webseiten verschiedenste ganzheitliche Heilungskonzepte anbieten – meist inklusive Shop. Hier nun also eine genauere Auflistung der in „Root Cause“ auftretenden und zitierten Experten. Nehmen Sie sich einen Kaffee, oder vielleicht eine Kopfschmerztablette, und machen Sie sich auf eine abenteuerliche Reise durch die Quacksalberei gefasst.
Experten mit Expertise im Experten-sein
Zuallererst taucht Dr. Dawn Ewing auf, eine Dentalhygienikerin, die zwar keine Zahnmedizin studiert hat, aber dafür mehrere Doktortitel in holistischer Ernährung und integrativer Medizin besitzt, die teilweise bei nicht-akkreditierten Instituten erworben wurden. In der Doku scheint sie dafür verantwortlich zu sein, Dinge möglichst drastisch zu formulieren. Denn Ewing zufolge versucht die traditionelle Zahnmedizin um jeden Preis, Zähne zu erhalten. Und wenn der Patient sterbe, sei das eben der Preis für die Zahnerhaltung gewesen.
Bei der Recherche fragt man sich auch schon mal, wer da alles in den Grundkursen des Studiums geschlafen hat.
Laut Kardiologe Dr. Thomas E. Levy könnte Vitamin C nämlich sogar Anthrax und die Pocken heilen, er habe nur leider bisher nicht die Gelegenheit gehabt, dies zu überprüfen. Auf seiner Webseite kann man dann praktischerweise auch gleich das beste Vitamin C Präparat erwerben, das es je gegeben hat.
Währenddessen erklärt Dr. Jerry Tennant auf seiner Seite, warum der pH-Wert einer Zelle mit elektrischer Spannung gleichzusetzen sei. Und dass deshalb eine falsche „Zell-Polarität“ Krebs verursache. So einfach ist es. (Ähm, nein? Das Membranpotenzial einer Zelle ist nicht dasselbe wie der pH-Wert des Körpers.) Vermutlich steht in Tennants Buch „Healing Is Voltage“, welche Spannung man anlegen muss, um diesen wieder zu heilen.
Amalgam und Quecksilber
Dazu passt die Geschichte des 2014 verstorbenen Hal A. Huggins, der von Bailey als „Vater der biologischen Zahnmedizin“ bezeichnet wird. Ein Pionier war er auf jeden Fall, zumindest, was die Kritik von Amalgam-Füllungen anging. “Dr Hal Alan Huggins, Noted Dental Pioneer, Passes Away” ist ein Nachruf, der im Fachjournal “Integrative Medicine – A Clinician’s Journal” erschien und auch auf der Webseite des US-Amerikanischen National Institutes of Health (NIH/NCBI) zu finden ist ... darin wird allerdings nicht erwähnt, dass Huggins 1996 seine zahnärztliche Lizenz entzogen wurde, sondern nur, dass er zeitlebens für das Wohl seiner Patienten kämpfte. Ein echter Underdog, der seine Patienten motivieren wollte, indem er ihnen erzählte, das „Quecksilber“ (Amalgam) aus ihrem Mund zu entfernen, könne sie sogar von Multipler Sklerose (MS) heilen. So wie es bei ihm selbst auch geholfen habe. Huggins selbst hatte zwar nie MS, aber mit Erfolgsgeschichten kann man anderen Leuten natürlich viel mehr Hoffnung machen ...
In seine Klinik kamen Patienten mit allen möglichen Leiden und bei allen diagnostizierte man – unter anderem mittels unspezifischer Fragebögen – eine Quecksilber-Vergiftung, die dann mit umfassenden und vor allem teuren Therapien behandelt wurde. Obwohl nicht jeder Patient eine Quecksil- ähm, Amalgam-Füllung hatte, konnte man durch die unspezifischen Testmethoden trotzdem bei allen eine Quecksilber-Vergiftung diagnostizieren. Zähne, an denen zuvor eine Wurzelbehandlung durchgeführt worden war, wurden vorsichtshalber auch ausnahmslos gezogen.
Eine verquere Theorie, die Huggins vorbrachte, war die der „Retentions-Toxizität“, nach der eine geringe Ausscheidung von Quecksilber im Urin bedeutet, dass der Patient an einer Vergiftung leidet und das Quecksilber nicht ausscheiden kann. Dafür gab es zwar keinerlei wissenschaftlichen Beleg, das gleiche galt aber auch für eine der gerne angewandten Therapiemethoden: Saunagänge. Obwohl es keine Belege dafür gab, dass Quecksilber durch Perspiration den Körper verlässt, verwies Huggins auf seine persönliche Erfahrung, nach der dies sehr wohl so sei. Da allerdings alles von Alzheimer, Autoimmunkrankheiten, MS bis hin zu „emotionalen Problemen“ zu den Diagnosen zählte, kann es natürlich durchaus sein, dass ein entspannender Saunagang bei einigen Patienten die Symptome verbesserte.
Strom-Messgeräte und Gerichtsurteile
Huggins gab damals vor Gericht zu, die Verbindung zwischen Amalgam und/oder Quecksilber und all denen in seiner Klinik behandelten Krankheiten nicht nachweisen zu können, aber, dass auch hier seine klinische Erfahrung ausreichend sei, um auf einen solchen Zusammenhang zu schließen. Er verkaufte neben den Therapieaufhalten in der Klinik auch ein simples Strommessgerät unter dem Namen „Amalgameter“, das positiv und negativ geladene Zahnfüllungen aufspüren sollte. Da fragt man sich doch glatt, ob positive Zahnfüllungen besser sind als negative.
Auf der Webseite von „Huggins Applied Healing“ kann man übrigens immer noch das „Rita Meter“ kaufen, vermutlich die neue Version des Amalgameters, dessen Vorgänger im Jahr 1989 von der FDA verboten wurde. Ein „Rita Meter“ kostet 1.270 US-Dollar und den Negativ-Ionen-Generator, der die Luft in der Praxis von schädlichem herumfliegenden Quecksilber aus aufgebohrten Füllungen befreit, gibt es für nur 1.497 US-Dollar. Ob die Amalgam-Wegionisierung auch mit einem herkömmlichen Ionen-Föhn funktioniert?
Einigen der Experten wurde sogar mehrfach ihre ärztliche Lizenz entzogen. Darunter beispielsweise Dr. Gerald H. Smith, der ebenso wie viele der anderen Experten einen Feldzug gegen Quecksilber (also meistens Amalgam und Impfstoffe) führt. Er hat eine Patientin auf eine Quecksilbervergiftung getestet, indem er ihr ein verschlossenes Gefäß in die eine Hand gedrückt hat, sie dieses nahe ihres Bauchs halten ließ und dann ihren anderen ausgestreckten Arm nach unten gedrückt hat. Das schockierende Ergebnis: Der Arm der Patientin ließ sich nach unten drücken. Um dieser offensichtlichen Vergiftung entgegenzuwirken, verordnete Smith eine Entgiftungstherapie, die zwei Jahre lang andauern sollte. Dafür, aber beispielsweise auch für die Behandlung von Patienten ohne Handschuhe, wurde Smith vom Staat Pennsylvania zu Geldstrafen, 30 Tagen Lizenzentzug und einmal sogar zu 18 Monaten auf Bewährung verurteilt. Die Quecksilber-Panik sorgt übrigens auch dafür, dass sich in unserem illustren Expertenpanel nicht nur Amalgam-, sondern auch Impfgegner finden.
Wenn ich glaube, dass etwas stimmt, ist das ein Beweis, oder?
Nehmen wir noch einmal ein Beispiel, um die eher dünne Faktenlage des Films zu erläutern. Laut „Root Cause" konnte eine Studie im Gewebe von 90 Prozent der Prostatakrebs-Patienten kanzerogene Bakterien nachweisen. Welche Studie das war, dürfen wir uns mal wieder selbst aussuchen. Obwohl ich die Studie spontan nicht finden konnte, mag diese existieren, aber erstens: Es handelt sich wohl nur um eine einzige Studie. Und zweitens: Wenn man sich eine Übersichtsstudie aus dem Jahr 2018 zum Thema des krebserregenden Potenzials von Bakterien bei Prostatakrebs anschaut, sind die Ergebnisse uneindeutig, da die Studien zu oft keine (guten) Kontrollen aufwiesen oder Kontaminationen während der Gewebe-Biopsien schlicht nicht ausgeschlossen werden konnten. Dass die Bakterien laut dem Film natürlich auch gleich aus dem Wurzelkanal stammten, hatte unter Umständen auch nichts mit der ominösen Studie zu tun, sondern mit Dr. Weston Price, der von Dr. Joseph Mercola als „the world’s greatest dentist“ bezeichnet wird.
Warum? Weil Price in den 1920ern der endodontisch behandelte Zähne bei seinen Patienten entfernte und diese damit – laut eigener Aussage – von diversen Krankheiten heilte, und die Zähne dann nach einer Desinfektion in Hasen implantierte. Laut Price entwickelten alle Hasen, auch bei sukzessiver Implantation eines Zahns in mehre Hasen, genau die Krankheit, unter der der jeweilige Patient gelitten hatte. Seine Studien wurden später widerlegt, Einfluss hat sein Gedankengut jedoch immer noch. Nicht zuletzt in Form der Weston A. Price Stiftung, die sich hauptsächlich auf, sagen wir, exzentrische Ernährungsratschläge spezialisiert hat. (Darunter der Feldzug gegen Soja oder Vegetarismus und für Rohmilch, gesättigte Fette und mehr Salz.)
Sie sind überall: die Impfgegner
Bevor wir ihn vergessen, noch ein paar Worte zu Mercola. Er ist auch ein Verfechter der These, dass alle Patienten mit Krebs im Endstadium zuvor eine Wurzelkanalbehandlung hatten. Außerdem ist er Impfkritiker und spricht sich gegen Fluorid in Zahnpasta aus. (Letzteres ist allerdings unter dem Gesichtspunkt zu bewerten, dass in den USA das Trinkwasser bereits mit Fluorid versetzt wird, also theoretisch auch ohne Zahnpasta eine höhere Fluoridaufnahme zustande kommen kann.)
In der Doku wird auch der „renommierte“ Chemiker Boyde Hailey zitiert, der zwar emeritierter Professor der Chemie der University of Kentucky ist, es aber trotzdem schafft, als Experte für das Thema Autismus und Quecksilbervergiftung durch Amalgam und Impfungen aufzutreten. Kurze Wiederholung: Die Form von „Quecksilber“, die in Impfstoffen allgemein vorkommt beziehungsweise vorkam, ist eine Verbindung namens Thiomersal. Laut Hailey gab es Studien, die nachgewiesen haben, dass Thiomersal zu Gehirnschäden führt. Und die American Pediatric Association wird von der Impfstoffindustrie kontrolliert, ebenso wie alle Studien, die klar zeigen, dass es keine Verbindung zwischen Autismus und Impfungen gibt ...
Ziehen wir alle mal unsere Aluhüte aus und zitieren wir einfach mal das (hoffentlich als glaubwürdig genug akzeptierte) Paul-Ehrlich-Institut zum Thema Impfungen und Quecksilber: „Bei Thiomersal handelt es sich um eine organische Quecksilberverbindung, das so genannte Ethylquecksilber. Ethylquecksilber hat eine wesentlich kürzere Eliminationshalbwertszeit für die Ausscheidung aus dem Körper als Methylquecksilber, das u.a. über die Nahrung aufgenommen wird (1). Selbst für Schwangere gilt die Aufnahme von 1,6µg/kg Körpergewicht Methylquecksilber pro Woche (z.B. aus Fisch) als unbedenklich.“ Hier wird mit (1) übrigens auch eine Studie zitiert, in der das nachgewiesen wurde.
Krebs heilen mit Ernährungsumstellung und Detox
Dr. Thomas Rau von der Schweizer Paracelsus-Klinik Lustmühle würde ja bei den Experten des Films nicht vorkommen, wenn er nicht auch Aussagen träfe, wie: „Die Wahrscheinlichkeit, Krebs zu bekommen, ist [nach einer Wurzelbehandlung] signifikant erhöht und das verbreitet sich nur aufgrund der Ignoranz der sogenannten Spezialisten nicht, die diesen Fakt nicht akzeptieren möchten, auch wenn es absolut klar bewiesen ist.“ Ebenfalls ohne Belege für diese Aussagen. Der Fokus der Klinik, deren medizinischer Direktor und Teilhaber Rau ist, liegt auf der alternativen Krebstherapie. Laut Rau haben 97 Prozent der Brustkrebspatienten in der Klinik, die zwischen 30 und 70 Jahren als sind, eine Wurzelkanalbehandlung hinter sich oder eine „toxische Situation“ der Zähne. In seiner Klinik steht ganz oben auf der Liste der Therapieoptionen eine Ernährungsumstellung, gefolgt von einer Entgiftungstherapie.
Dieser Ansatz scheint ohnehin eine der Basistherapien nach der Extraktion eines Zahns zu sein. Es werden Nahrungssupplemente gegeben und dem Patienten Saunagänge verordnet, um die übrig gebliebenen Toxine auszuschwitzen. Das mit den Saunagängen hatte ja auch schon Huggins versucht, obwohl Quecksilber über die Schweißdrüsen nicht ausgeschieden wird. Ist das bei den anderen Toxinen, von denen es ja anscheinend unzählige gibt, nun nachgewiesen? Oder ist hier die Devise schlicht „Kann ja nicht schaden“? Da wir nicht genau wissen, um welche Toxine es sich überhaupt handelt, können wir nun schlecht nach Studien suchen, die das belegen. Tja.
Gehen wir die Therapieoptionen speziell für Krebs einmal genauer durch, finden sich darunter auch interessant klingende Ansätze wie „pH-Transformation der Tumorzelle (Nutzung der metabolischen Kenntnisse des Tumors zur Zellzerstörung mittels Nanotechnologie)“, die ein wenig nach der Theorie von Tennant klingen, der Patienten mittels Strom heilen möchte.
Magnete und Vitamin C
Auch Vitamin C wird gerne verordnet – zusätzlich zur magnetischen Pulstherapie, was laut der Erläuterung in „Root Cause“ dafür sorgt, dass die Zellen wieder lernen, ihre Zellmembran zu kontrollieren. Die Magneten, nicht das Vitamin C. Letzteres soll dann von den Zellen aufgenommen werden, wenn diese sich nach dem professionellen magnetischem Gepulse wieder in den Griff bekommen haben. Das magnetische Pulsieren entlädt nämlich die Zellmembran und dadurch kann die Zelle sich detoxen. Und das ganz ohne Smoothies, brilliant. Was passiert eigentlich während eines MRTs mit den Zellen? Werden die durcheinander gebracht oder kontrollieren die danach auch schon besser, was drinnen bleiben soll und was aus der Zelle raus muss? Fragen über Fragen, die ich ebenso wenig beantworten kann, wie „Root Cause“ faktenbasierte Argumente gegen den prinzipiellen Einsatz von Wurzelbehandlungen liefert. Okay, so langsam werde ich unfreundlich, die Doku hat definitiv meine Hirnzellen in negative Schwingungen versetzt.
Nicht „cavities“, sondern „cavitations“
„Cavitations” ist noch so ein Thema, das wiederholt vorkommt. Das sind laut den Experten Restinfektionen im Kieferknochen, die nach der Extraktion eines Zahns – insbesondere bei mangelhafter Entfernung des Parodontalligaments – weiter vor sich hin schwelen und dann zu Problemen führen. Damit könnten die (umstrittenen) Diagnosen neuralgia-induced cavitational osteonecrosis (NICO) und fatty degenerative osteonecrosis of the jawbone (FDOJ) gemeint sein. Für diese gibt es Hinweise darauf, dass sie zu einer erhöhten Ausschüttung von Entzündungsfaktoren führen können, die wiederum verschiedenste andere Körperbereiche negativ beeinflussen können. Ein Grund, warum kaum jemand wurzelbehandelte Zähne oder „cavitations“ als Problem sieht, sei, dass die meisten Praxen nur 2-dimensional röntgen können und daher gar keine Entzündungen finden können. (Es wird also auch gleich Werbung fürs 3-D-Röntgen gemacht, das ist doch nett.)
Bisher gibt es jedoch sehr wenige verlässliche Studien zum Thema NICO/FDOJ, ergo noch mehr Forschungsbedarf. Was aber niemanden davon abhält, fröhlich über „cavitations” zu reden. Neben Price ist das auch der bereits erwähnte Thomas Rau, dessen Ansicht nach MS eine der Krankheiten ist, die durch diese eventuell existierenden Diagnosen verursacht werden. Thomas Rau war übrigens der von der privaten Klinik in der Schweiz und gleichzeitig auch derjenige, der 2009 wegen fahrlässiger Tötung eines Patienten (Prinz Sadruddin Aga Khan, Sohn des damaligen pakistanischen Fürsten) dort angeklagt wurde. Kurz gesagt schien sich der durch eine Chemotherapie immunkompromittierte Khan während mehrerer Injektionen in der Paracelsus-Klinik eine Infektion zugezogen zu haben. Der Fall verjährte jedoch, bevor es zu einem Urteil kam.
Aber kommen wir wieder zurück zum eigentlichen Thema! Prinzipiell seien alle Wurzelkanäle ausnahmslos entzündet, so wird der Zuschauer informiert. Verschiedene Menschen haben schlicht verschiedene Toleranzen für Toxine und deshalb gäbe es nicht bei allen so starke Auswirkungen auf die Lebensqualität. Den Zahn zu ziehen sei auch nur der erste Schritt. Danach muss die Umgebung von Bakterien befreit werden. Da die Bakterien sich im Kieferknochen eingenistet hätten, braucht man hierfür anscheinend wirklich spezialisierte Spezialisten. Dr. Mark Breiner empfiehlt für die Bakterienentfernung Ozon, das man direkt in den Kiefer injiziert. Seiner Erfahrung nach wird dadurch das gesamte Kiefergebiet oder sogar der ganze Kopfbereich desinfiziert. Ohne dabei jetzt Bezug auf diesen speziellen Ansatz nehmen zu wollen, sei gesagt, dass Breiner in Connecticut bereits einmal zu fünf Jahren auf Bewährung verurteilt wurde. Er hat ohne medizinische Indikation Amalgam-Füllungen entfernt und Zähne gezogen, die zuvor wurzelbehandelt worden waren. In diesen fünf Jahren stand seine Praxis unter Beobachtung und er durfte nur noch unter bestimmten Auflagen Zähne und Amalgamfüllungen entfernen.
Titan ist auch keine Lösung ...
Da ja die Zähne nicht erhalten werden sollen, muss unweigerlich auch über Alternativen gesprochen werden. Daher geht es auch um Implantate, mit denen die Zähne ersetzt werden können, auch wenn Brücken die beliebtere Alternative scheinen. In diesem Zuge wird den Zuschauern mitgeteilt, dass Titan ein Hapten ist, das Metallionen ausscheidet und so Allergien auslösen kann – was natürlich komplett falsch ist! Ein Hapten zeichnet sich dadurch aus, dass vom Metall Ionen ins umgebende Gewebe wandern, dort vom Immunsystem registriert und gemeinsam mit körpereigenen Proteinen als Allergen registriert werden, was dann schließlich eine Immunreaktion im Bereich des Implantats auslöst. Im Gegensatz zu anderen Metallen werden Titanionen jedoch nur unter bestimmten Bedingungen (wie einem ungünstigen pH-Wert der Umgebung) verstärkt freigesetzt und bilden meist direkt nach der Freisetzung Oxidschichten auf der Implantatoberfläche. Das so entstandene Titandioxid wirkt nicht als Hapten und hat deshalb auch nur eine geringe allergene Potenz. Eine Periimplantitis bei einem Titanimplantat kann trotzdem auftreten. Diese wird aber durch eine generelle Entzündungsreaktion auf Titanabrieb ausgelöst und stellt soweit bisher bekannt keine spezifische Allergie gegen Titan dar.
Im Film geht es aber nicht nur um eine simple Periimplantitis. Das „Hapten“ Titan triggert laut Dr. Ewing bei der entsprechenden Prädisposition diverse Autoimmunkrankheiten wie Hashimoto, rheumatoide Arthritis oder die von einem irgendwie schon fast vertrauenserweckenderen Arzt namens House populär gemachte Krankheit Lupus. Jedenfalls werden deswegen Zirkoniumdioxid-Implantate empfohlen. Auch wenn die wohl ebenfalls nicht perfekt sind, aber so ganz ohne Zähne ist auch doof, das sieht man selbst so, wenn man in „Root Cause“ über Wurzelbehandlungen spricht. Ich möchte nicht behaupten, dass alle Menschen, die in der Doku vorkommen, schlechte Absichten haben. Vielleicht sind einige der Zahnärzte aufgrund eigener Erfahrungen wirklich überzeugt, dass Wurzelbehandlungen immer schlecht sind und möchten ihren Patienten eine Alternative bieten. Es ist nur einfach auffällig, dass in den allermeisten Fällen eine sehr offensichtliche Verkaufsmaschinerie hinter den Therapie-Optionen steckt, die definitiv nichts mehr damit zu tun hat, das Beste für die Patienten zu wollen.
Bitte suchen Sie sich einen ganzheitlichen Zahnarzt – zur Sicherheit!
Am Ende des Films folgt wenig überraschend der Appell, dass kranke Menschen bitte ihre Wurzelkanalbehandlungen untersuchen lassen sollen und der Regisseur spricht dann noch darüber, dass er davon ausgeht, dass alle chronischen Kranheiten von einem Zuviel an Toxinen verursacht werden, die aus der Umgebung, der Ernährung oder gar aus „toxischen Emotionen“ kommen können. Und wir lernen, laut Bailey, auch erst jetzt mehr über die toxischen Auswirkungen elektromagnetischer Frequenzen. Einen Kommentar dazu spare ich mir jetzt einfach.
Danach darf noch eine das güldene Haar zurückschwingende fesche „ZFA“ Empfehlungen in Form einer Checkliste aussprechen, was man tun könne, wenn eine Wurzelkanalbehandlung ansteht. Das ist jetzt ausnahmsweise mal nicht übertrieben, diese Stelle soll vermutlich lustig sein, wirkt aber einfach wie eine ganz billige Werbung. Mitgeteilt wird jedenfalls, folgendes: Falls ein Zahn entfernt werden muss, sollte man zu seiner eigenen Sicherheit zu einem ganzheitlichen Zahnarzt gehen. Denn nur dieser entfernt die Infektion und das Parodontalligament korrekt. Ist der Zahn entfernt und der Mundraum abgeheilt, gibt es laut Model-ZFA drei Optionen. Erstens eine Haft-Keramik-Brücke. Zweitens ein „Zirkon-Implantat“. Jedoch empfehlen 99 Prozent der nicht-ganzheitlichen Zahnärzte angeblich ein Titan-Implantat, was aber ja genauso schlimm wie eine Wurzelbehandlung ist. Wiederholungen erhöhen ja bekanntlich leider die Glaubwürdigkeit von Argumenten. (Vermutlich werde ich demnächst spontan Kopfschmerzen bekommen, wenn jemand auch nur das Wort „Wurzelbehandlung“ erwähnt.) Die dritte Option sei „eine gute, altmodische Prothese“.
In diesem Sinne findet dann auch die Geschichte des Protagonisten der Doku ein glückliches Ende. Nachdem er noch einmal unterschwellig mit einem Ghandi-Zitat darauf hinweist, dass die Wahrheit (also dass Wurzelbehandlungen böse sind) immer ihren Weg finde, sind wir auch fast schon am Ende des Films und dürfen Bailey beim Surfen zusehen. Und bei der Fast-Demonstration, dass auch mit der Romantik alles wieder klappt. [Die Autorin des Textes war an dieser Stelle sehr dankbar dafür, dass hier die medizinischen und visuellen Details dann doch einmal ausgespart wurden.]
Ich freue mich ja, dass es dem Regisseur nun besser geht und dass Zähne hier anscheinend wirklich die „Wurzel seines Problems“ waren. Ich verstehe auch, dass er anderen Menschen seine Erfahrungen mitteilen und ihnen damit helfen will. Es ist ebenfalls toll, dass er nun surfen kann und im Bett wieder alles läuft, ABER die Panikmache, dass wir alle unterschwellig dem Tode nahe sind, sobald wir einmal einen Eingriff an den Zähnen hatten, ist dann doch ein wenig übertrieben. Durch die Einleitung der Doku hat er gezeigt, wie sehr er nach dem letzten Strohhalm gegriffen hat und welche Dinge er ausprobiert hat, ohne die Qualifikationen seiner vermeintlichen Heiler zu hinterfragen. Daher bedeutet das für mich, dass er zwar gerne davon berichten kann, dass diese Methoden für ihn persönlich funktioniert haben. Aber gleich alle Zahnmedizinerinnen und -mediziner schlecht zu reden, hat nichts mit Information zu tun, sondern mit Verschwörungstheorien.
Nicht einmal den Abspann kann man in Ruhe genießen
Während die Autorin versuchte den Abspann für einige Mediationsübungen zu nutzen, um ihre spontan aufgetretenen Kopfschmerzen und den Bluthochdruck auf angemessen ganzheitliche Art zu behandeln, sprang ihr ein weiterer Name ins Auge. Neben den ganzen Experten gab es einen „Research Consultant“ für den Film! War etwa jemand am Film beteiligt, der die ganze Sache nüchtern betrachtet und von den „Amalgam und Impfungen sind Gift“ trennen konnte? Eine kurze Suche zeigt: Das wäre wohl zu viel verlangt. Der Berater heißt Patrick Timpone und arbeitet bei „One Radio Network“, dessen Webseite nicht nur mit Anzeigen für Probiotika und Kräuterextrakten zugekleistert ist, sondern auch mit Scalar Energy Devices, kleinen Pyramiden, die unter anderem elektromagnetische Verschmutzungen neutralisieren sollen. Am meisten überrascht hat mich aber der „Bio-Schwefel“ (vielleicht auch Öko-Schwefel) als Nahrungsergänzungsmittel, weil wir alle aus unserer Nahrung nicht genug Schwefel bekommen. Laut Webseite soll es jedenfalls so ungefähr alles verbessern und heilen, was einem beim nächtlichen Abtippen einer Werbebotschaft für das neueste Produkt in den Sinn kommen könnte.
„Autoimmunkrankheiten müssen immer mit rein, gegen Stress und so hilft es natürlich auch ... Was noch? Genau, es lässt einen besser atmen, weil es ääähm, die Sauerstoff-Aufnahme in der Lunge verbessert und dann ... hmm, ach ja, Diabetes hatten wir schon länger nicht mehr, es unterstützt also auch die ... die öhm gesunde Insulinfunktion. Klingt gut, lassen wir so.“ Und die Kommentare unter dem Produkt sind bedrückend. Eine Mutter fragt um Rat, ob sie ihrer achtjährigen Tochter den Schwefel geben könne, da die beiden Medikationen, die sie von den Ärzten gegen ihre Epilepsie bekommen hat, nicht helfen. Jemand schreibt, er nehme den Schwefel seit einem Monat und habe nun Rückenschmerzen. Sein Chiropraktiker ist der Meinung es könne ein Nierenproblem sein. Daraufhin wird ihm von einem anderen Nutzer geantwortet – nicht von Timpone selbst, denn der antwortet höchstens auf Fragen zum Versand. Vielleicht weil er sich durch Ratschläge ja vielleicht strafrechtlich belangbar machen könnte? Jedenfalls solle der Fragesteller noch mehr Schwefel nehmen bis die Schmerzen weggehen. Die Schmerzen seien nämlich nur eine Reaktion auf die Entgiftung des Körpers.
Je mehr, desto besser ...
Eine Erklärung, die man unglaublich häufig bei pseudowissenschaftlichen Nahrungsergänzungsmitteln findet und die wahrscheinlich dazu führt, dass die vertrauensseligen Kunden sich im Zweifelsfalle einen Nierenschaden herbei detoxifizieren. Und das nur, wenn keine anderen Stoffe darin enthalten sind, die Auswirkungen auf den Rest des Körpers haben – ganzheitliche Medizin eben. Dass es auch Artikel zum Thema Impfungen gibt und Timpone in seiner Radiosendung erwähnt, dass vermutlich alle Menschen glutenintolerant seien, wundert vermutlich niemanden mehr. Gleichzeitig gibt es in seiner Radiosendung den Disclaimer, dass er keine medizinischen Ratschläge erteilt, sondern nur Informationen weitergibt.
Die Autorin möchte übrigens noch einmal betonen, dass es selbstverständlich nicht prinzipiell einen Doktortitel braucht, um Ahnung von einem bestimmten Thema zu haben – ebenso können jedoch auch Menschen mit Doktortitel Blödsinn erzählen. Nicht alles, was unter dem Begriff „alternative Medizin“ zusammengefasst wird, ist automatisch schädlich und allein die Tatsache, dass eine Person sich mit alternativen Heilmethoden beschäftigt, macht sie nicht weniger glaubwürdig. (Das wäre ein reines Argument ad hominem, also die Diskreditierung eines Diskussionspartners über einen Angriff auf die Person und die damit nur scheinbare Entkräftung eines Argumentes). Aber wenn keine Studien geliefert werden, die belegen, dass die Argumentation auch auf Fakten basiert, dann hilft eben auch keine ganzheitliche Betrachtungsweise mehr. Das ist dann nämlich nur ganzheitliches Fest-dran-glauben.
Mein Fazit: Ich brauche einen Kaffee
Grundsätzlich könnten einige der Denkansätze, die in diesem überdramatisierten Fallbericht namens „Root Cause“ vorgebracht werden, durchaus in eine richtige Richtung gehen. Ein Beispiel: Entnimmt man die Nerven aus einem Zahn und belässt ihn im Mund, so kann man, aufgrund der fehlenden Nerven, eine darauffolgende Infektion, die normalerweise schmerzhaft wäre, nicht mehr fühlen. Logisch. Problematisch wird es, wenn die Schlussfolgerungen, die aus so einer logisch erscheinenden Tatsache folgen, nicht mehr belegt, sondern nur als „offensichtlich ebenso logisch“ dargestellt werden. Wenn diese vermeintlichen Tatsachen dann auch noch fast ausnahmslos von Personen präsentiert werden, deren wissenschaftliches Verständnis fragwürdig und von Verweisen auf Onlineshops mit Nahrungsergänzungsmitteln und „revolutionären“ Bestsellern durchzogen ist, dann sinkt die Glaubwürdigkeit der gesamten Theorie schnell ins Bodenlose.
Das Problem ist, dass dieser Schritt vom logisch klingenden ersten Argument bis zur letzten Schlussfolgerung von vielen Menschen nicht hinterfragt werden wird. Gerade wer selbst keinen Doktortitel hat, wird davon leicht eingeschüchtert. Und hier folgt Doktortitel auf Doktortitel und Expertin auf Experte. Gerade verzweifelte Menschen, mit denen Wunderheiler bekanntlich das meiste Geld verdienen, werden hoffnungsvoll nach der Idee einer Wurzelbehandlung als „Wurzel allen Übels“ greifen. Gleichzeitig werden genügend Menschen ihrem Zahnarzt danach mit mehr Skepsis begegnen und beim Begriff „Wurzelbehandlung“ entweder direkt flüchten oder Nachweise verlangen, dass diese Behandlung wirklich absolut 100-prozentig sicher ist. Ironischerweise genau das, was ja in der Doku so gut wie nicht geliefert wird. Aber der eigene Zahnarzt ist erstens greifbar und hat zweitens keine dramatische Beleuchtung inklusive der Einblendung „Dr. Vorname Nachname, absolut vertrauenswürdiger Zahnarzt mit Zusatzausbildung im Perfektionismus“. Was Sie im wahren Leben vermutlich auch eher unglaubwürdig machen würde. Aber bei Dokumentationen gehen wir eben davon aus, dass das schon alles stimmen wird, was uns darin erzählt wird. Irgendjemand wird das schon kontrolliert haben, richtig? Richtig?