In Paragraf 119 b SGB V vom 19. Dezember 2019 steht eindeutig „… aufsuchend, regelmäßig und nicht anlassbezogen …“, es muss also jedem Heimbewohner medizinische Betreuung angedient werden. Aus früheren Kann-Bestimmungen ist mithin ein Muss geworden. Seit geraumer Zeit stehen besondere Vergütungen für diesen Dienst auch den Zahnmedizinern zur Verfügung. Allein abgerufen werden, auch zur Verwunderung des SV der KK, diese Positionen in verschwindend geringem Umfang.
Die Ausgangssituation: In rund 8.000 Altenheimen in Deutschland wohnen derzeit rund 850.000 Menschen; 100.000 werden bis 2025 hinzukommen. Weitere etwa 1.400.000 Menschen werden allein in den zwei höchsten Pflegegraden 4 und 5 häuslich, zumeist durch Angehörige, gepflegt. Verantwortlich für die Umsetzung der – es sei wiederholt – aufsuchenden, regelmäßigen und nicht anlassbezogenen (zahn-)medizinischen Betreuung sind die Heimträger/Heimleitungen. Ihnen obliegt die Verantwortung für umfassende Fürsorge der weitgehend ja nicht mehr selbstständigen Bewohner.
Mangelnde Anwendbarkeit medizinischer Geräte
Was im Bereich der Fachärzteschaft für Allgemeinmedizin weitgehend funktioniert, zeigt deutliche Lücken im Bereich der Fachärzte und der Zahnmediziner. Dem Facharzt für Allgemeinmedizin genügen in der Regel Blutdruckmessgerät, klinische Kontrolle, Überprüfung der Medikation sowie die Rezeptneuausstellung. Ein Grund für die seltenen Besuche der Fachärzte und der Zahnmediziner ist die in den Häusern mangelnde Anwendbarkeit medizinischer Gerätschaften. So werden beispielsweise Patienten schon zum routinemäßigen Kathederwechsel mit RTWs zur niedergelassenen Urologie gefahren.
Von und für Zahnmediziner herbeigekarrte Behandlungsgerätschaften sind teuer, umständlich und verbieten sich obendrein nach Auffassung von Fachjuristen für Medizinrecht allein schon aus Gründen des MRSA-Schutzes. Zudem bestätigen Zahnmediziner mit Erfahrung bezüglich dieses ambulanten Equipments, dass sie eigentlich lediglich die begünstigtere Patientenlagerung, die Sprayspritze und das ZEG nutzen. Eine weitergehende Behandlung sei auch mit solchen Hilfsmitteln im Heim aus anderen Zusammenhängen kaum möglich, wird berichtet.
Ein besonderes Kapitel stellen die wachsenden Zahlen der sogenannten Kooperationsverträge, KZV-registriert, geschlossen zwischen Zahnarztpraxis und Heim dar. Was auf den ersten Blick im Gesetzessinne Hoffnung machend aussieht, bekommt in der Reduzierung der Umsetzung arge Risse.
Zahnarzt-Besuch wird als lästig empfunden
Behandler, die sich diesem Dienst an den Alten in den Heimen wohlmeinend zuwenden, bekommen bald Frust. Da verwehren sich die Heime, gesetzliche Betreuer und bisweilen selbst Angehörige versperren den Zugang.
eimbedienstete empfingen die zahnärztlichen Konsultationen als lästig, zusätzliche Zeit kostend, störend (Bewohner befinden sich im Singkreis, halten Mittagsruhe oder es sind Zeiten von Mahlzeiten auszusparen etc.). Obendrein mangelt es an der Lernbereitschaft des Heimpersonals bezüglich durchaus vorhandener zu pflegender Prothetik. Schon eine tägliche, dezidierte Mundpflege wird nur recht rudimentär durchgeführt. Kurzum, das Elend der Unterlassung ist weithin etabliert!
Sämtliche, aber wirklich sämtliche Beteiligten bestätigen, zumindest in intensiveren Einzelgesprächen, die schlimme Situation in den Mündern der Heimbewohner. Das Delta mangelnder Mundpflege wird bestätigt durch Pfleger, Zahnärzteschaft, Angehörige, Pflegeberater und den Medizinischen Dienst der Krankenkassen. Krankenhaushygieniker bringen es auf den Punkt: Mundhygiene verhindert eine weitgehend vermeidbare Keimbesiedelung aus der Mundhöhle. Zu hohe Keimbelastungen wandern in die Bronchien und von dort in die Lungen. Über eine Lungenentzündung naht der zu frühe Tod – schmerzarm, aber weitgehend vermeidbar!
„Machen Sie einen Aushang am Schwarzen Brett“
Aber es kommt noch härter: Zahnärzte, die sich Heimträgern/Heimleitungen/Pflegeschulen zur Mundpflege anbieten, bekommen abschlägige Nachrichten: Entweder wird gar nicht geantwortet, oder es erfolgt der Hinweis „kein Bedarf“. Allenfalls zaghaft kommen Antworten daher wie: „Sie können gern Unterweisungen geben. Machen Sie einen Aushang am Schwarzen Brett unserer Mitarbeitenden. Die Unterrichtszeiten müssen aber außerhalb der Arbeitszeiten liegen und freiwillig wahrgenommen werden. Und kosten darf unsere Einrichtung das nichts.“ Nachgefragt kommt dann nicht so selten: „Geben Sie uns zwei Pflegestellen mehr und wir kümmern uns auch noch um die Münder.“ Aktuell lautet die (willkommene) Aussage allerorten: „Der Covid-Pandemie wegen dürfen wir ja nicht.“ Wie arm ist denn das vor dem Hintergrund einer vermutlich drei Jahre währenden Beschränkung?
Wenn ein Problem bloß beschrieben, aber nicht flächendeckend gelöst wird, dann tritt irgendwann Gewohnheit ein. Im Ergebnis werden Kooperationsverträge so gelebt, dass Heimleitungen bei offenkundigen, akuten Beschwerden im Mundraum (soweit vorhanden) den externen, niedergelassenen zahnärztlichen Behandler anrufen. Der kommt, behandelt oder überweist in die KFC des Krankenhauses. Dort wird chirurgisch gearbeitet. Andere Behandlungen wie Endo, Kons oder Prothetik werden dort nicht erbracht. Sie unterbleiben.
Freude am Essen und Trinken bleibt erhalten
Mundbetreuung an alten Menschen, gerade im Heim, hat einen deutlichen sozialen und ethischen Mitinhalt. Alte Menschen wissen um ihr erschreckendes Aussehen, wissen, dass ihre Enkel sie wegen ihres Mundgeruchs nicht mehr umarmen etc. Wissenschaftler sagen uns, dass die Freude am Essen und Trinken bis ganz zuletzt erhalten bleibt und wichtige Orientierungspunkte für diese schutzbefohlenen Menschen bilden.
Ganz ausdrücklich erwähnt werden muss, dass es diejenigen Behandler gibt, die sich in Altenheimbesuchen, der eigenen Mitarbeitendenausrichtung, der räumlichen und technischen Ausstattung ihrer Praxis schon immer, lange bevor es dazu Gesetze oder besondere Vergütungen gab, diesem Dienst gewidmet haben. Sie leisten ihn aus der Selbstverständlichkeit ärztlichen Tuns/der gelebten sozialen Verpflichtung – rundum Respekt! Festzuhalten ist aber eben auch, dass die flächendeckende Versorgung im Sinne des Gesetzes allenfalls zu vermutlich 5 Prozent abgedeckt ist. Allen Kooperationsverträgen zum Trotz. Anzumerken ist, dass ein Fach Seniorenzahnheilkunde in der universitären Ausbildung nicht existiert.
Ein logischer Weg zur Besserung der Situation wird sein, die Politik auf die Umsetzung ihrer an sich ja guten Gesetzesvorlagen festzulegen. Danach könnte das BGB aus Berlin mit seinem Staatssekretär für Behindertenfragen die Länder (föderativer Bundesstaat) anweisen, Berichte anzufordern. Letztere müssten sich verbindliche Auskünfte bei den Heimträgerschaften einholen. Geschieht das mit einheitlicher Matrix, kann die Umsetzung gezielt eingefordert werden. Der vom Gesetzgeber gleichsam ausgeliehene Versorgungsauftrag wäre wohl ein Hebel. Damit das passiert, ist Öffentlichkeit gefragt. Allein die vom Autor vielfach angefragten Patientenhilfeorganisationen bestätigen anerkennend den Notstand, werden aber auch nicht tätig. Vielmehr verweisen auch sie auf die jeweils anderen Organisationen oder schreiben, man komme später darauf zurück. Hinter den Lippenlinien ist eben traditionell alles vergessen.
Ganz im Sinne eines Leitspruchs des Friedrich von Bodelschwingh, 1903, Bielefeld-Bethel: „Neue, große Nöte bedürfen mutiger Gedanken“. Im Folgebeitrag in der kommenden Ausgabe der dzw wird deshalb eine organisatorisch-technische Lösung zur Mundbetreuung und Zahnbehandlung von Senioren vorgestellt.
Horst Willeweit, Bielefeld
(wird fortgesetzt)