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Dr. Willi Janzen zur Praxis der zahnärztlichen Funktionsdiagnostik (1)

Immer mehr Zahnärzte fragen funktionsdiagnostische Aspekte bei ihren Patienten nach, zum Beispiel, ob sie unter Kopfschmerzen, Nackenverspannungen, Rückenschmerzen oder Ohrgeräuschen leiden. Sie sind bereit, ihren Patienten zuzuhören und sorgfältig eine individuelle Anamnese zu erfragen und aufzunehmen. Allerdings haben die meisten Zahnärzte in entsprechenden Weiterbildungen zur Funktionsdiagnostik oft nur Bruchstücke eines Mosaiks erkannt und suchen danach, das komplexe Funktionspuzzle zu einem verständlichen Bild zusammenlegen zu können. Ihr Bedarf an Fortbildungen zur Funktionsdiagnostik konnte bisher kaum praxistauglich befriedigt werden.

In der wissenschaftlichen Literatur ist häufig zu lesen, dass bestimmte diagnostische und therapeutische Maßnahmen nicht evidenzbasiert sind. Klinische Entscheidungen müssen auch dann zulässig sein, wenn das externe wissenschaftliche Evidenz-Niveau niedrig ist. Die klinische Erfahrung des behandelnden Arztes und die subjektiven Erwartungen unserer Patienten sollten ausreichen, um trotz eines niedrigen wissenschaftlichen Evidenz-Niveaus zu einer dem wissenschaftlichen Wissensstand angepassten Therapieentscheidung zu gelangen.

Es ist unbedingt zu verhindern, dass eine vielversprechende Therapie einem Patienten vorenthalten wird. Die Möglichkeit besteht, dass auch umfangreiche okklusale Maßnahmen, basierend auf den individuellen, morphologischen und funktionellen Gegebenheiten des Patienten, zu seinem Wohl eingesetzt werden, auch wenn die Wissenschaft diesen Nachweis bisher nicht erbracht hat. Der klinischen Erfahrung des Behandlers und der informierten Patientenentscheidung muss in solchen Behandlungssituationen eine höhere Wertigkeit eingeräumt werden, um die niedrige externe Evidenz bestmöglich zu kompensieren.

Die Okklusion ist essenziell
Die natürliche Okklusion und die funktionell rekonstruierte Okklusion haben essenzielle und vitale Funktionen für den modernen Menschen zu übernehmen und dürfen nicht eingeschränkt beurteilt werden. Okklusion ist direkt in vitale Funktionen des Menschen eingebunden und sollte daher unter den Aspekten „krankheitsvorbeugend“ und „lebensverlängernd“ betrachtet werden. Gemeinsam mit dem Hauptanliegen des Patienten kann ein restauratives Konzept erarbeitet werden, das auf der skelettalen Morphologie des Patienten, den Funktionen des stomatognathen Systems und den individuellen Konstruktionsmerkmalen der Okklusion beruht.

Aus heutiger Sicht werden solche Konzepte durch hohe wissenschaftliche Evidenz  unterstützt. Konsequenterweise – im besten Sinne eines seriösen Behandlungsangebots für unsere Patienten – müssen Weiterbildungsangebote in der Funktionsdiagnostik und Funktionstherapie diese Aspekte in besonderer Weise berücksichtigen.

Wird bei Patienten gegen die Regeln einer physiologischen Okklusion und Artikulation verstoßen, wird das Auftreten einer Funktionsstörung beziehungsweise die Entwicklung einer CMD-Erkrankung, einer craniomandibulären Dysfunktion, in besonderem Maße begünstigt. Patho-funktionelle Abläufe von Funktionen des Kauorgans sind als kausal mitbeteiligt oder verursachend bei CMD-Patienten zu sehen.

Ebenso gehört es zum medizinischen Grundwissen, bestätigt durch Erfahrung mit Patienten in der täglichen Praxis, dass bei der Behandlung von Patienten mit Parodontitis, fehlenden Zähnen und geplanten Implantaten regelmäßig Funktionsstörungen mit Verlust der individuellen Vertikaldimension anzutreffen sind. Die notwendige Befunderhebungskette und Diagnostik scheinen somit eindeutig vorgegeben zu sein. Wer behandeln will, wer seinen Patienten Funktionstherapie über Initialtherapien wie Schienen, Physiotherapie etc. hinaus anbieten will, muss zunächst einmal die Informations- und Wissensbarriere der Patienten überwinden. Es hängt von der Gesprächsführung ab, um Patienten mit CMD in vollem Umfang zu erkennen. Die Anamnese ist ein wesentlicher Bestandteil für eine erfolgversprechende Behandlung.

Sorgfältige Anamnese

In der klinischen Funktionsanalyse müssen dementsprechend eine sorgfältige Anamnese aufgenommen und eindeutige Muskelbefunde erhoben werden. Der Zahnarzt muss mit seiner Befunderhebung die Schmerzangaben seines Patienten nachvollziehen können. Eine klinische Übersicht über Unterschiede zwischen retraler Kontaktposition (RKP) und habitueller Interkuspidation (IKP) sowie über zentrische und exzentrische Okklusion zu haben, ist unverzichtbar für die klinische Funktionsanalyse.

Doch was nutzt die beste klinische Funktionsanalyse, wenn aus den Einzelinformationen, aus den Einzelbefunden nicht die Hinweise für ein Gesamtbild abgeleitet werden können, die für weitere Diagnostik und weitere Behandlungsplanung erforderlich sind? Die Auswertungsbegleitung mit Hinweisen auf mögliche Verdachtsmomente sind elementare Bestandteile bei der Dokumentation der klinischen Funktionsanalyse sowie bei der systematisierten Datenerfassung und dem Datenmanagement für die weitere diagnostische und therapeutische Vorgehensweise. Es ist eine gewissenhafte fachliche Aufgabe, die Angaben des Patienten zu seinem subjektiven Befinden sehr differenziert für die weitere Diagnostik zu berücksichtigen. Die Konsequenz kann nur gezielte individuelle Diagnostik sein (Abb. 1).

Bei Schmerzen weiter diagnostizieren
Schmerzhafte Muskelpalpationsstellen können zahnmedizinische, aber auch orthopädische oder manualtherapeutische Verdachtsmomente bedeuten, denen in weiterer Diagnostik nachzugehen ist (Abb. 2). Die Feststellung oder der Nachweis von Unterschieden zwischen RKP und IKP sowie die Beurteilung von zentrischer und exzentrischer Okklusion aus einer wie auch immer eingenommenen IKP heraus, festgestellt im Rahmen der klinischen Funktionsanalyse, gestatten keine Rückschlüsse auf Quantität oder Qualität der Abweichung im Gelenkbereich  (Abb. 3). Werden diagnostische Aussagen aus einer Diskrepanz abgeleitet, ist ausschließlich die instrumentelle Diagnostik maßgebend.

Alle klinischen Aussagen am Patienten über Ausmaß und Richtung des sogenannten „slide in centric“ sind spekulativ. Für die möglichen Auswirkungen von Unterschieden zwischen RKP und IKP auf das craniomandibuläre System ist daher eine instrumentelle Beurteilung angebracht. Methoden der bildgebenden Verfahren einer Gelenkdarstellung, auch computergestützte, sind für diese Detaildiagnostik absolut ungeeignet.

Die klinische Funktionsanalyse ist eine obligate Aufgabe bei der Untersuchung von Patienten mit funktionellen Störungen. Hieraus ein umfassendes individuelles Bild abgeleitet zu haben, kann nur als Irrtum bezeichnet werden. Nach Informationen aus der klinischen Funktionsanalyse irgendeine Schiene anzufertigen, würde bedeuten, in einen spekulativen, ausprobierenden, nicht befundbezogenen Bereich auszuweichen, der die Individualität des Patienten nicht ausreichend berücksichtigt.

Die Bestimmung des individuellen skelettalen Wachstumstyps ist therapiebestimmend. Individuelle Zahnmedizin bedeutet aber auch in besonderem Maße Hierarchisierung von Behandlungsmaßnahmen. Pauschale Behandlungsempfehlungen jeder Art ohne Grundlagen in der Diagnostik sind für Patienten nicht zielführend.