Der Kommentar von Chefredakteur Marc Oliver Pick
Die Frage, welche eigentlich die zentrale Disziplin unter den vielen unterschiedlichen Fachgebieten der Zahnmedizin ist, lässt sich nicht leicht, vielleicht gar nicht beantworten. Schließlich macht die Gesamtheit aller zahnmedizinischen Disziplinen mit ihren jeweils weit fortgeschrittenen Spezialisierungen die Zahnmedizin aus.
Diese Vielfalt an Fachgebieten ist gleichzeitig Beleg dafür, wie lebendig und hoch entwickelt die heutige Zahnmedizin ist. Und doch fällt ein Fach auf, das man sehr nahe am Ideal Oralmedizin verorten kann. Das Fach Parodontologie ist es wohl, das neben mechanischen, chirurgischen und chemischen sowie biologischen Verfahren das Gesamtkonzept Mundhöhle und darüber hinaus das Gesamtsystem Mensch mit all seinen biologischen Facetten am umfassendsten betrachtet.
Eines der komplexesten zahnmedizinischen Fächer
Das macht das Fach Parodontologie allerdings auch zu einem der komplexesten zahnmedizinischen Fächer. Wie komplex, das hat vergangene Woche die Europerio 10 in Kopenhagen eindrucksvoll gezeigt. Mehr als 7.000 Teilnehmer nahmen die Gelegenheit wahr, sich von mehr als 130 Top-Speakern aus mehr als 30 Ländern in 41 Sessions auf den neusten Stand in Sachen Parodontologie bringen zu lassen.
Vorgestellt wurde außerdem die erste europäische Leitlinie zur Behandlung von Patienten mit fortgeschrittener Parodontitis. Die brandneue S3-Leitlinie selbst ist Ausdruck der Komplexität der Herausforderung Parodontitis. Denn, so Prof. Moritz Kebschull (Birmingham, England), Mitglied des Workshop-Organisationskomitees der EFP und Leitlinien-Beauftragter der DG Paro, „eine alleinige systematische Parodontitistherapie reicht in schweren Parodontitisfällen nicht aus, um die Dentition zu stabilisieren. Daher ist in der Regel für die orale Rehabilitation eine umfassende multidisziplinäre Behandlung notwendig, die auch prothetische, implantologische und/oder kieferorthopädische Maßnahmen beinhaltet.“ (Ein Interview mit Prof. Kebschull folgt in Kürze.)
Thema personalisierte Medizin weiter voranbringen
Multidisziplinarität (und vernetzte Forschung), das sind auch die wichtigsten Voraussetzungen für Fortschritte in der Erforschung der Parodontitis, wie die Europerio in ihren zahlreichen wissenschaftlichen Sessions, Symposien und Diskussionen gezeigt hat. Viele der vorgestellten Ansätze können möglicherweise eines Tages vielversprechende Therapieverfahren oder präzise diagnostische Verfahren liefern, um etwa das spannende Thema personalisierte Medizin weiter voranzubringen.
Spannend auch die Frage, ob Probiotika in Form von Medikamenten, Nahrungsergänzungsmitteln oder gar geeigneten Lebensmitteln helfen können, Dysbiosen des oralen Mikrobioms wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Probiotika könnten, frei nach dem Motto „stärke die Guten, verdränge die Bösen“ eventuell ein wichtiger Teil der der adjuvanten Therapie sein.
Wachsendes Verständnis um das orale Mikrobiom
Nicht von ungefähr wurde in Kopenhagen deshalb das wachsende Verständnis um das orale Mikrobiom, seine Zusammensetzung sowie Ursachen und unterschiedlichen Ausprägungen von Ungleichgewichten immer wieder aus den verschiedensten Perspektiven beleuchtet. Gleiches galt für das Thema systemische Erkrankungen – von Schwangerschaftskomplikationen über Lungenerkrankungen bis hin zu rheumatoider Arthritis und Demenz.
Die Europerio 10 hat – neben einer umfassenden Standortbestimmung – auch gezeigt, wo noch Lücken im Verständnis der verschachtelt ineinandergreifenden Mechanismen dieser tückischen Erkrankung bestehen, wo derzeit (noch) Grenzen gesetzt sind und wo noch Leitlinienbedarf besteht, etwa zu den wichtigen Bereichen Diagnostik und Prävention. Eines ist jedenfalls sehr deutlich vermittelt worden: Die Parodontologie ist ein Schlüsselfach der Zahnmedizin, ein Fach mit Verästelungen in fast alle anderen Disziplinen.