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Interview: Rainer Jordan zur Prävalenz kieferorthopädischer Befunde

Mögliche Folgen fehlender Frühbehandlungen wird die DMS 7 zeigen

Im Rahmen der DGKfO-Jahrestagung Ende September in Berlin präsentierte Dr. A. Rainer Jordan, MSc, Zahlen zur Prävalenz kieferorthopädischer Befunde. Als Wissenschaftlicher Direktor des Instituts der Deutschen Zahnärzte (IDZ) ist Jordan zuständig für Versorgungsforschung und Epidemiologie und lehrt als außerplanmäßiger Professor an der Universität Witten/Herdecke. Das sogenannte KfO-Modul basiert auf einer Stichprobe von 705 acht- bis zehnjährigen Kindern und ist Teil der Deutschen Mundgesundheitsstudie (DMS) Nummer 6. Mit den Untersuchungen für den Hauptteil wurde in diesem Herbst begonnen.

Mit dem ersten Teil der neuen Deutschen Mundgesundheitsstudie (DMS 6) stehen erstmals bundesweit repräsentative Zahlen zur Häufigkeit kieferorthopädischer Anomalien und Erkrankungen zur Verfügung. Stimmen die Zahlen mit den abgerechneten Behandlungsfällen in der GKV überein?

Dr. A. Rainer Jordan: Ja, die Zahlen stimmen sehr gut überein, wobei wir als Basis für die Einstufung als Erkrankung die kieferorthopädischen Indikationsgruppen ab KIG 3 verwendet haben. Da wir die Kinder vor der zweiten Wechselgebissphase, aber bei schon erkennbaren Anomalien im bleibenden Gebiss erfassen wollten, haben wir acht- bis neunjährige Kinder untersucht. In der Folgezeit können sich bei diesen noch weitere Anomalien entwickeln. Zudem wurden in unserer Feldstudie Nichtanlagen und Zahndurchbruchstörungen, die nur röntgenologisch zu ermitteln sind, nicht erfasst. Entsprechend könnten die tatsächlichen Prävalenzzahlen noch etwas höher sein.

In welchem Verhältnis stehen die Zahlen des KfO-Moduls zu internationalen Prävalenzzahlen?

Jordan: Hierzu gibt es eine systematische Studie, deren Prävalenzzahlen sich auf junge Menschen mit Wechselgebiss beziehen. Sie wurden auf der Basis international gebräuchlicher Erkrankungsindizes ermittelt [1]. Diese sind nicht mit unseren Indikationsgruppen identisch. Im Wechselgebiss beträgt der Anteil von Neutralverzahnung im globalen Durchschnitt etwa 72,8 Prozent (KfO-Modul: 80,3 Prozent auf Basis der KIG-Grade 1+2), gefolgt von Distalbissen (Angle-Klassen II/1 und II/2) mit etwa 23,1 Prozent (19,7 Prozent/KIG 4+5) und Mesialbissen mit 4 Prozent (4 Prozent/KIG 4+5)*. In der Vertikalen dominieren im globalen Durchschnitt mit 24,3 Prozent tiefe Bisse (9,8 Prozent/KIG-Grad 3), offene Bisse wurden in etwa 5,3 Prozent (2,6 Prozent/KIG-Grade 3-5) festgestellt.

Im Abgleich mit dem in Großbritannien entwickelten ICON-Index fanden wir übrigens in unserer Studie – in Bezug auf den Gesamtanteil des Behandlungsbedarfs – keine wesentlichen Unterschiede zu unseren auf dem KIG-System basierenden Werten. Dieses scheint also geeignet, den Behandlungsbedarf valide einzustufen.

Mann im Anzug

Dr. A. Rainer Jordan ist als wissenschaftlicher Direktor des Instituts der Deutschen Zahnärzte zuständig für Versorgungsforschung und Epidemiologie.

„Die Prävalenzzahlen sind international sehr unterschiedlich“

Ethnologisch interessant ist, dass die Verbreitung von Zahn- und Kieferfehlstellungen international sehr unterschiedlich ist. So zeigen die epidemiologischen Befunde für das Wechselgebiss in afrikanischen Ländern den höchsten Anteil an Neutralbissen (90 Prozent) und offenen Bissen (8,3 Prozent), während in Europa mit zirka 32 Prozent die höchsten Anteile bei Distalbissen gefunden wurden (Afrika: 7,5 Prozent). Mesialbisse traten hingegen am häufigsten im asiatischen Raum auf (5,8 Prozent).

Der nach den KIG-Befunden festgestellte Bedarf an orthodontischen und orthognathen Frühbehandlungen ist mit 16,4 Prozent höher als bisher angenommen. Wie bewerten Sie dieses Ergebnis, auch unter versorgungspolitischem Blickwinkel?

Jordan: Die Zahl ergibt sich aus dem Abgleich unserer Befunde mit Abrechnungsdaten der Gesetzlichen Krankenversicherung. Sie ist etwa doppelt so hoch wie tatsächlich erfolgte Behandlungen (7,8 Prozent), die wir durch Abgleich mit den behandelnden Kieferorthopäden und Kieferorthopädinnen verifiziert haben. Dies war ein überraschender Nebenbefund unserer Untersuchung. Um ihn besser einordnen zu können, müssen wir die Daten der Folgestudie in zirka acht Jahren abwarten, die auch individuelle Langzeitverläufe zeigen wird. Dann wird zum Beispiel zu sehen sein, welche Folgen eine fehlende Frühbehandlung hat.

Ein weiteres interessantes Ergebnis ist, dass Kinder mit höherer Kariesinzidenz auch häufiger einen kieferorthopädischen Behandlungsbedarf hatten. In Berlin wurde daraus abgeleitet, dass eine Behandlung kariespräventiv wirksam sein könnte.

Jordan: Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge zwischen Zahnfehlstellungen und Karies lassen sich aus einer Querschnittsstudie nicht ableiten. Grundsätzlich könnten kausaler Beziehungen für beide Richtungen plausibel sein: Die Zahnfehlstellungen könnten die Entwicklung von Karies begünstigen. Es ist aber auch denkbar, dass bestehende Karies die Entwicklung von Zahnfehlstellungen fördert. Für beide Mechanismen existieren wissenschaftliche Hinweise.

Sozialer Einfluss unklar, MIH-Zahlen folgen

Haben sozialen Faktoren einen Einfluss auf kieferorthopädische Erkrankungen? Diese spielen ja bei Karies eine ­hoch­signifikante Rolle.

Jordan: Kieferorthopädischen Behandlungsbedarf fanden wir bei 43,0 Prozent der Kinder mit niedrigem und 42,3 Prozent der Kinder mit hohem Sozialstatus. Hingegen waren es bei einem mittleren Sozialstatus 38,1 Prozent der Kinder. Das spricht gegen eine Rolle von sozialen Faktoren auf Fehlstellungen in dieser Altersgruppe. Die Stichprobengröße für das KfO-Modul ist aber nicht darauf ausgelegt, hierzu statistisch valide Antworten zu liefern. Unsere Auswertungen können also nur als Hinweis dienen, dass möglicherweise kein Prävalenzunterschiede zwischen den sozialen Gruppen bestehen. Ob das tatsächlich so ist, müsste in Studien mit geeigneter statistischer Power untersucht werden.

Wurden auch Zahnentwicklungsstörungen und die Molaren-Inzisiven-Hyperplasie untersucht?

Jordan: Ja, diese Erkrankungen waren für uns ebenfalls von Interesse. Diese Daten werden aber erst ausgewertet. Wir haben uns bei unseren Analysen zunächst auf die primären Studienziele der Erfassung von Zahn- und Kieferfehlstellungen konzentriert. Weitere kinderzahnheilkundliche Ergebnisse werden wir mit den weiteren Publikationen zur DMS 6 veröffentlichen.

„Im Gesamtvolumen erwarten wir eine Zunahme der Karies“

In diesem Herbst wird mit der Feldstudie für die übrigen Altersgruppen begonnen. Erwarten Sie hier einen weiteren Rückgang der Prävalenzen bei oralen Erkrankungen?

Jordan: Das lässt sich nicht so einfach beantworten. Tatsächlich erwarten wir im Gesamtvolumen eher eine Zunahme der Karies, allerdings erst im höheren Lebensalter. Da diese Personengruppe jedoch in den kommenden Jahrzehnten weiter wachsen wird und den Großteil der Bevölkerung ausmachen wird, entsteht dieser Effekt, denn die Prävention in der ersten Lebenshälfte und mehr wird sich weiter auswirken, auch auf den Kariesrückgang. Bei Parodontitis könnte die Prävalenz – bei Fortschreiben des Trends aus den früheren DMS-Studien – etwa 13 Prozent abnehmen. Zugleich werden aber bei erkrankten Patienten aufgrund der höheren Zahl vorhandener Zähne auch mehr davon betroffen sein, sodass auf Zahnebene eine Zunahme von 27 Prozent erwartet wird. Zugleich werden sich die Erkrankungen auf höhere Altersstufen konzentrieren, was wir als Morbiditätskompression bezeichnen.

Das Interview führte Dr. Jan H. Koch, Freising

* Summe über 100 Prozent methodisch bedingt

Literatur

[1] Alhammadi MS, Halboub E, Fayed MS, Labib A, El-Saaidi C. Global distribution of malocclusion traits: A systematic review. Dental Press J Orthod 2018;23:40.e41-40.e10. (Artikel ist im Volltext frei verfügbar.)

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