Zahnarzt Dr. Dirk Bleiel besucht einmal pro Woche ältere, zum Teil demente und bettlägerige Patienten im Heim oder zu Hause. Die DZW hat ihn auf einer Tour begleitet.
„Ist alles gepackt?“ Dr. Dirk Bleiel, Spezialist für Seniorenzahnmedizin in Rheinbreitbach, eilt aus dem Behandlungsraum ins Labor. Seine ZFA Anne Graziola nickt und schließt den großen grauen Koffer aus Kunststoff, in dem diverse steril verpackte Instrumente, Mundschutz und Handschuhe für zwölf Patienten sowie ein Kartenlesegerät lagern. Etwa eine halbe bis Dreiviertelstunde braucht die 27-Jährige jeden Donnerstagmorgen für die Vorbereitung der Hausbesuchstour.
Im schwarzen VW-Golf fahren die beiden zum Christinenstift in Unkel. Dort ist für Dr. Bleiel schon alles vorbereitet. Vor einem großen, hellen Raum, in dem Gymnastikgeräte und Stühle stehen, warten seine Patienten auf ihn. Einige sitzen im Rollstuhl, andere haben auf blau gepolsterten Stühlen Platz genommen oder stützen sich auf ihre Rollatoren.
„Es geht gleich los“, sagt Dr. Bleiel mit einem Lächeln, bevor er in dem Behandlungsraum verschwindet. „Ich nenne das hier meine Campingpraxis. Alles ist ein bisschen improvisiert, aber ich mag das“, sagt er. Bei den nächsten Handgriffen merkt man sofort, dass seine ZFA und er ein eingespieltes Team sind. Innerhalb kürzester Zeit haben sie die 20 Kilo schwere mobile Einheit aufgebaut, die über eine Absaugvorrichtung und Druckluft verfügt. Von der Prophylaxe bis zum Austausch von Füllungen kann der 52-jährige Spezialist damit so ziemlich alles machen, was auch in der „echten Praxis“ möglich ist.
„Die Einheit ist sperrig, deshalb lagert sie unter der Woche hier in einem verschlossenen Nebenraum“, erklärt Dr. Bleiel, während er seinen Arztkoffer öffnet, um einen Mundschutz und Handschuhe herauszuholen.
Aufruf
Kolleginnen und Kollegen, die an der praktischen Umsetzung des Paragrafen 22a SGB V und der Gründung einer Aktionsgemeinschaft zahnmedizinische Prävention in der Pflege (AZPIP) interessiert sind, werden gebeten, sich bei der Redaktion der DZW – Die ZahnarztWoche unter pflege@dzw.de oder per Fax unter (0228) 28 92 16-20 zu melden.
Als unabhängige Wochenzeitung für die Dentalbranche wird die DZW-Redaktion die Arbeitsgemeinschaft bis zu ihrer Gründung organisatorisch begleiten und über ihre Arbeitsergebnisse berichten.
Seine erste Patientin schiebt sich mit ihrem Rollator, auf dem ein Teddy sitzt, langsam durch die Tür in Richtung „Behandlungsecke“. Anne Graziola hilft ihr, sich auf einen Stuhl zu setzen. Währenddessen spricht ihr Chef noch schnell mit Barbara Biermann, der Qualitätsbeauftragten im Christinenstift, über seine Patienten für diesen Vormittag. Einige hat er zu dem Termin gebeten, andere wurden von den Pflegern zum Zahnarztbesuch geschickt. Neben fitten Senioren, die nur zur Prophylaxe kommen, sind auch demente Menschen mit massiven Mundhygieneproblemen dabei. Ihre bunten Chipkarten sind bereits ordentlich auf einem Seitentisch aufgereiht und werden rasch eingelesen.
„Die meisten meiner Kollegen sagen, rauszufahren und sich um Senioren zu kümmern, ist nicht wirtschaftlich. Wenn man die richtigen Strukturen schafft, kann es das aber sehr wohl sein“, sagt Dr. Bleiel und wendet sich der grauhaarigen Frau zu, die still auf ihn wartet. Sie holt ihre Teilprothese heraus, er wirft einen prüfenden Blick darauf und steckt sie in einen Beutel, der von seiner Mitarbeiterin beschriftet wird. Dann beginnt er mit der Untersuchung. Während er diktiert, schreibt seine ZFA mit. Nach etwa anderthalb Minuten sagt er zu der älteren Frau: „Wir müssen da was reparieren, Sie bekommen die Zähne morgen wieder.“ Als sie nicht reagiert, tätschelt er sanft ihre Schulter und wiederholt seine Worte – diesmal ein bisschen lauter. Sie hebt langsam den Kopf und antwortet mit brüchiger Stimme: „Ist gut, Herr Doktor.“
Patient Nummer 2 kann nicht mehr laufen. Dr. Bleiel beugt sich über seinen Rollstuhl und prüft den Zahnzustand, während seine Assistentin mit einer Taschenlampe für das dringend benötigte Licht bei der Untersuchung sorgt. „Hier muss bald mal der Wurzelrest raus, sonst sieht alles okay aus“, erklärt der Seniorenzahnmediziner dem Heimbewohner.
Die nächste Patientin betont, dass sie eigentlich gar nicht kommen wollte. „Meine Kinder haben darauf bestanden. Ich habe nichts. Ich weiß nicht, warum ich hier bin, ich habe keine Zahnschmerzen“, wiederholt sie immer wieder. Geduldig nickt Dr. Bleiel und sagt: „Aber jetzt, wo Sie schon mal da sind, können wir Sie auch gleich untersuchen, nicht wahr?“ Etwas widerwillig öffnet sie den Mund, macht dann aber problemlos mit. „Für 82 Jahre haben Sie aber eine top Mundhygiene“, sagt er anerkennend. Stolz erklärt sie, dass sie sich die Zähne immer noch selbst putzen kann. „Und nach jedem Essen nehme ich die kleinen bunten Bürstchen, um alles sauber zu machen“, berichtet sie, bevor sie der nächsten Patientin Platz macht.
„Leider können sich nicht mehr viele Bewohner selbst die Zähne putzen“, sagt Dr. Bleiel während des Patientenwechsels. Und für die Zahnpflege an sich bleibt den Pflegekräften wenig Zeit. „Wobei wir hier im Christinenstift sehr gut aufgestellt sind, was das betrifft“, erklärt die Qualitätsbeauftragte Barbara Biermann. Auf 86 Bewohner kommen 40 Pfleger in Voll- und Teilzeit, sieben Auszubildende sowie zwei FSJ-ler. „In vielen anderen Häusern müssen sich die Kollegen aber um deutlich mehr Bewohner kümmern. Und nicht jeder hat den Luxus eines Dr. Bleiel, der regelmäßig ins Haus kommt und den Pflegern erklären kann, worauf sie bei der Mundhygiene unserer Bewohner achten müssen“, erklärt die Qualitätsbeauftragte.
Trotz dieser guten Situation gibt es auch im Christinenstift Patienten, deren Zustand Dr. Bleiel als „desolat“ bezeichnet. „Einige von ihnen kommen aus der häuslichen Pflege hierher. Manchmal ist ihre Mundhygiene sehr gut und manchmal leider sehr schecht“, erklärt der Zahnmediziner. Doch ihm bleibt keine Zeit für lange Erklärungen, als eine ältere Dame im Rollstuhl hereingebracht wird. „Jetzt kommt ein kniffliger Fall“, erklärt er kurz, bevor er sich voll und ganz seiner Patientin zuwendet. Die Frau reagiert nicht auf seine herzliche Begrüßung, ihr Gesichtsausdruck ist starr, die Lippen fest zusammengepresst. Kurz taucht er seinen Zeigefinger in eine Lösung und reibt ihr sanft die Lippen damit ein. Nach etwa einer halben Minute entspannt sich ihr Gesicht und sie öffnet leicht den Mund. Vorsichtig schiebt er seine Finger dazwischen und spreizt die Lippen soweit, dass seine Mitarbeiterin eine Aufbisshilfe zwischen die Zähne schieben kann. Doch die Seniorin mag den Fremdkörper nicht, sie stöhnt laut auf und hebt ihre dünnen Arme Richtung Mund. Sofort ist Anne Graziola zur Stelle und hält die Hände der 87-Jährigen fest, damit sie niemand anderen – oder sich selbst – versehentlich verletzt.
Mit einer 3-D-Zahnbürste, die mit Chlorhexamed-Gel getränkt ist, reibt Dr. Bleiel über die Zähne seiner Patientin. Nach wenigen Sekunden ist alles blutig, die alte Frau stöhnt. „Ich bin Ihr Zahnarzt, ich helfe Ihnen“, sagt er beruhigend, greift zum Chlorhexamed-Spray und desinfiziert damit das dunkelrote wunde Zahnfleisch.
Nachdem die Frau von einer Pflegerin weggebracht wurde, hält er kurz inne. „Früher waren die meisten Senioren zahnlos und hatten Totalprothesen. Da war die Pflege deutlich einfacher. Doch durch die qualitativ hochwertige Versorgung treten Probleme auf, die bewältigt werden müssen. Denn bei den meisten Implantaten und Teilprothesen ist eine professionelle Zahnreinigung dreimal im Jahr Pflicht, ebenso wie eine akkurate Pflege. Doch was machen Sie, wenn das nicht mehr möglich ist? Sollen wir einer 87-Jährigen alle Zähne ziehen und sie dem Risiko einer Vollnarkose aussetzen? Oder sollen die Pfleger und ich lieber versuchen, durch gute Pflege den aktuellen Zustand zu verbessern?“ Er schüttelt kurz den Kopf. „Das ist alles nicht so einfach“, sagt Dr. Bleiel nachdenklich.
„In der Seniorenzahnmedizin sind einige Fälle knifflig“, erklärt der 52-Jährige, der sich diesem Feld der Zahnmedizin zugewendet hat, nachdem sein Vater einen Schlaganfall hatte. „Er war halbseitig gelähmt und von heute auf morgen ein Pflegefall. Er konnte sich die Zähne nicht mehr selber putzen.“ Kurz darauf zogen zwei seiner langjährigen Patienten ins Altenheim in Unkel. „Ich wollte sie weiter behandeln. So kam der Kontakt zum Christinenstift und später der zahnmedizinische Kooperationsvertrag zustande“, erklärt Dr. Bleiel.
Klar sei die Seniorenzahnmedizin nicht immer einfach. „Die Behandlung vor Ort ist natürlich nicht so angenehm wie in der Praxis, wo ich höhenverstellbare Stühle habe. Hier – oder bei meinen Hausbesuchen – muss ich mich oft bücken und habe nur eine Taschenlampe. Dafür arbeite ich fächerübergreifend und bekomme von den Menschen ganz viel Positives zurück“, erklärt er.
Als er eine gute Stunde später wieder im Auto Richtung Praxis sitzt, hat er in Unkel zehn Patienten, in einem weiteren Altenheim eine Seniorin und noch einen bettlägerigen 75-Jährigen in dessen Zuhause versorgt. „Mittlerweile kommen auch viele Pflegekräfte aus dem Seniorenheim zu mir in die Praxis. Ich denke, sich ernsthaft um die älteren Menschen zu kümmern ist das beste Marketing für uns Zahnmediziner, die in den Köpfen der Leute oft noch das schlechte Image von sonnengebräunten Männern haben, die Golf spielen und Porsche fahren. Dabei sind die meisten meiner Kollegen genau wie ich Ärzte geworden, um den Menschen zu helfen“, sagt er.
Doch was ist eigentlich sein ganz persönlicher Antrieb in diesem Bereich der Zahnmedizin? „Das ist ganz einfach“, sagt Dr. Bleiel. „Ich möchte den Senioren dabei helfen, schmerzfrei essen zu können und durch gute Mundhygiene ein großes Stück Lebensqualität zu erlangen. Außerdem sollten wir uns nichts vormachen. Die Seniorenzahnmedizin ist die Zukunft der Zahnärzte in Deutschland. In einigen Jahren wird es zum Alltag gehören, seine Patienten vor Ort zu betreuen. Da sollte sich kein Kollege etwas vormachen. Auch wenn dieser Bereich vielleicht nicht so sexy ist wie andere – da kommt keiner dran vorbei.“