Die Geriatrie oder Altersmedizin will „dem alten, aber vor allem dem sehr alten Menschen zu einem besseren Leben verhelfen“ [1]. In der aktuellen Deutschen Mundgesundheitsstudie gelten Menschen ab 75 Jahre als „ältere Senioren“ [2]. Entscheidend ist aber weniger das chronologische als das biologische Alter. Irgendwann scheitern alte Menschen an komplexeren täglichen Aufgaben wie Einkaufen oder Telefonieren. Als pflegebedürftig gelten Menschen, die Basisaktivitäten des täglichen Lebens – wie Anziehen, Körperpflege und Essen – nicht mehr allein bewältigen können [3]. Echte Alterserscheinungen, einschließlich geriatrischer Erkrankungen, sind „irreversibel, fortschreitend und generalisiert“.
Für eilige Leser
Echte Alterserscheinungen sind fortschreitend und nicht umkehrbar.
- Geriatrische Patienten achten weniger auf ihr Äußeres, haben zum Beispiel Probleme mit Kochen, Einkaufen oder Telefonieren.
- Pflegebedürftig sind Patienten, die an Basisaktivitäten wie Körperpflege und selbststständigem Essen scheitern.
- Reduzierte Sehfähigkeit und manuelle Geschicklichkeit führen zu schlechterer Mundhygiene und Schwierigkeiten mit Zahnersatz.
- Zahnärztliche Prävention und Therapie muss entsprechend angepasst werden.
- Die Schweizerische SSO fordert, Alterserscheinungen in der Zahnarztpraxis frühzeitig zu diagnostizieren und die Therapie vorausschauend anzupassen.
- Patienten sollten bei Bedarf an andere medizinische Spezialisten überwiesen werden, Oralmediziner benötigen entsprechendes Fachwissen.
Symptome erkennen
Zahnmediziner und ihre Teams erkennen gebrechliche Patienten zum Beispiel daran, dass sie Schwierigkeiten beim Gehen oder Besteigen des zahnärztlichen Behandlungsstuhls haben. Ein Zeichen für echtes „Abbauen“ kann sein, wenn das Alter als Vorwand für bestimmte Verhaltensweisen genannt oder weniger auf das eigene Äußere geachtet wird. Auffallen sollte zum Beispiel, wenn Patienten in Pantoffeln in die Praxis kommen (Vortrag Prof. Dr. Frauke Müller, Universität Genève, auf dem Bayerischen Zahnärztetag, vgl. DZW Nr. 49/2017, S. 12).
Ob ein Patient mental gesund und leistungsfähig ist, lässt sich meist im persönlichen Gespräch erkennen, zum Beispiel mit Fragen nach dem persönlichen Befinden oder zeitnahen Aktivitäten. Systematischer können Probleme mit speziellen Fragebögen erhoben werden, die sich neben physischen auf psychische und soziale Symptome beziehen. Die Schweizerische Zahnärzte-Gesellschaft (SSO) hat eine informative Broschüre herausgegeben, die geeignete Screening-Formulare enthält [4].
Altersgerecht behandeln
Bei trotz Sehhilfen nachlassender Sehkraft können Patienten Plaque auf Zähnen, Schleimhäuten und Zahnersatz nicht mehr ausreichend erkennen. Eine eingeschränkte manuelle Geschicklichkeit behindert die Mundhygiene zusätzlich, erkennbar zum Beispiel an ungepflegten Molaren [5]. Alte Patienten haben häufig Probleme mit Kernen unter der Prothesenbasis (Vortrag Müller). Die orale Selbstreinigung kann durch hypotone Muskulatur eingeschränkt sein. Altersbedingt und verstärkt durch Medikamente kann eine Mundtrockenheit (Xerostomie) hinzukommen, die die Selbstreinigung noch einmal verschlechtert und zugleich das Kariesrisiko erhöht [6]. Hier helfen nur intensive Maßnahmen, für die auch Angehörige oder Pflegepersonal herangezogen werden sollten.
Verschlechtern sich Sehvermögen und Motorik, sollte Zahnersatz einfach zu reinigen und zu bedienen sein. Neue Prothesen sollten den alten möglichst ähnlich sein (Müller). Geführte Pfeilwinkel registrieren die Kieferrelation, die Zentrik wird mit Freiraum gestaltet, und die Kauflächen von Prothesenzähnen sollten maximal 20 Grad geneigt sein. Implantatversorgungen sind auch im hohen Alter indiziert und verbessern signifikant Selbstwertgefühl und Lebensqualität [7].
In Zukunft könnten laut Müller digitale Methoden dafür sorgen, dass anstelle konventioneller Unterfütterungen die alte Prothese mit Abformung eingescannt und neu angefertigt wird. Schleimhaut-Scans funktionieren in Genf bereits recht gut (vgl. ZM-kompakt-Beiträge www.dzw.de/cadcam-vollprothesen-koennten-zum-neuen-standard-werden und „Intraoraler Scan bei reduzierter Mundöffnung“ [DZW 32–33/2017, Seite 9]).
Vorausschauend und interdisziplinär
In einem Übersichtsartikel plädiert der Schweizer Gerodontologe Prof. Dr. Christian E. Besimo dafür, zahnmedizinische Maßnahmen nicht erst bei sehr alten Patienten anzupassen [3]. Vielmehr sollten physiologische und pathologische altersbedingte Veränderungen kontinuierlich registriert und diesen soweit möglich entgegengewirkt werden. Dies gelinge zum Beispiel mit geeigneter Prophylaxe und altersgerechter, gegebenenfalls präventiv „rückbaufähiger“ Prothetik [8]. Weiterhin sollte der in der Regel häufige zahnärztliche Kontakt genutzt werden, um andere medizinische Probleme zu registrieren und interdisziplinär abzuklären.
Wie dies konkret aussehen kann, wird in der oben erwähnten Broschüre näher erläutert [4]. Besimo gibt zu bedenken, dass Zahnmediziner für eine effektive Zusammenarbeit mit Kollegen anderer Disziplinen entsprechende Kenntnisse benötigen, die im Studium nur begrenzt vermittelt werden. Hinzu kommt aus Sicht der deutschen Versicherungssysteme der relativ große Zeitaufwand für die umfangreichen Fragebögen. Damit diese Möglichkeiten allen Betroffenen zur Verfügung stehen, müsste die medizinische Ausbildungs-, Versorgungs- und Honorarstruktur an solche Konzepte angepasst werden.
Hinweis: Beiträge aus der Rubrik ZahnMedizin kompakt können in keinem Fall die klinische Einschätzung des Lesers ersetzen. Sie sind keine Behandlungsempfehlung, sondern sollen – auf der Basis aktueller Literatur – die eigenverantwortliche Entscheidungsfindung unterstützen.