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„Gehabte Schmerzen, die hab ich gern“

Zahnextraktion 1773: Damals musste man die Schmerzen noch ertragen, heute gibt es zum Glück die Lokalanästhesie.

„Das Zahnweh, subjektiv genommen, ist ohne Zweifel unwillkommen.“ In seinem Gedicht „Zahnschmerz“ beschrieb der Humorist Wilhelm Busch lebendig das „Zucken, Rucken und Rumoren“ – zum Schluss mit nur einer Option: „Er muss heraus!“ Heutzutage müssen wir Zahnschmerzen glücklicherweise nicht mehr lange aushalten und auch die Behandlung selbst ist dank der Lokalanästhesie schmerzfrei geworden. Doch von der konnte Wilhelm Busch Ende des 19. Jahrhunderts noch nicht profitieren – wie die spannende Geschichte der Schmerzausschaltung zeigt.

Von Kräutern bis Knebel: Anästhesie vor Jahrtausenden

Der Wunsch, Zahnschmerzen zu lindern, führt weit in die Geschichte zurück: Schon aus der Zeit um 2.250 v. Chr. erwähnt eine babylonische Tafel eine schmerzlindernde Zahnfüllung – wahrscheinlich Bilsenkraut. Die Ägypter wussten sich anders zu helfen: Sie erreichten mithilfe von Krokodilhäuten und -fett eine örtliche Betäubung auf der Haut. Knebel waren das Mittel der Wahl im alten Arabien. Diese wurden genutzt, um Blutungen zu stillen und das zu behandelnde Körperteil empfindungslos zu machen. Um 1.000 n. Chr. entwickelte ein arabischer Arzt die Kompression von Nervenstämmen als Verfahren zur lokalen Betäubung. Später, im 12. Jahrhundert, nutzten die Menschen Breiumschläge, Öle und Salben aus Mohn, Alraunwurzel und Bilsenkraut zur Betäubung der Haut.[1]

Mit Kälte gegen den Schmerz

Auch die schmerzlindernde Wirkung von Kälte ist schon lange bekannt. So seien sogar Amputationen bei einer Temperatur von -19 Grad Celsius deutlich schmerzfreier möglich, wie der Chefarzt der napoleonischen Armee 1807 berichtete. Auch wurden schmerzende Stellen durch die Verdampfungskälte mit Wasser gekühlt. Mit flüchtigen Substanzen wie Chlorethyl oder Ether „vereisten“ Wissenschaftler die Stelle geradezu und erzielten unbewusst eine Vasokonstriktion.

Zahnärzte entwickelten ab Mitte des 19. Jahrhunderts Inhalationsmethoden und führten darunter Extraktionen durch – eine Portion Mut gehörte bei der Behandlung stets dazu. Die erste Narkose in der Zahnheilkunde erprobte Horace Wells 1844 mit Stickoxidul (Lachgas) an sich selbst. 1846 operierte sein Kollege in Boston William G.T. Morton unter Ether. Die vielen Komplikationen und sogar tödlichen Zwischenfälle ließen jedoch bald den Wunsch nach einem sicheren Verfahren und einer gut wirksamen Lokalanästhesie aufkommen. Vor allem die vorübergehende Schmerzausschaltung in einem begrenzten Bereich wurde als ideal angesehen, um kleinere Eingriffe bei vollem Bewusstsein des Patienten durchführen zu können.[1,2]

Meilensteine der Geschichte auf einen Blick

Erste Lokalanästhesie mit Kokain

Natürliche Rauschmittel sind die Vorläufer der Lokalanästhesie. Der Göttinger Chemiker Alfred Niemann isolierte 1860 erstmals Kokain aus Cocablättern – und mit der anschließenden Analyse der chemischen Strukturformel war der Weg frei, Kokain zu synthetisieren.

Als Erfinder der Lokalanästhesie gilt jedoch der Wiener Augenarzt Carl Koller: Nach Berichten aus Tierversuchen und subkutaner Anwendung entdeckte er 1884 die lokalanästhetischen Eigenschaften des Kokains, das ihm damals Sigmund Freud empfahl. Mit einer 10- bis 20-prozentigen Kokainlösung gelang ihm die erste schmerzfreie Operation am Auge unter lokaler Betäubung.

Schon kurze Zeit später beschrieb William Stuart Halsted die Leitungsanästhesie mit Kokain am N. alveolares inferior, und entfernte 1885 operativ einen Zahn. Dafür war zuvor allerdings ein weiterer Meilenstein mitverantwortlich: Die Entdeckung der Hohlnadel, mit der Alexander Wood 1853 erstmalig eine hyperdermatische Injektion vornahm. Louis Pasteur und Robert Koch sorgten 1880 dafür, dass diese Nadeln auch desinfiziert wurden.

Trotz großer anfänglicher Skepsis fanden Injektionen zunehmend Anwendung. 1889 publizierte die Deutsche Monatsschrift für Zahnheilkunde die Erfahrungen von über 3.000 erfolgreichen Injektionen mit einer 20- und später 5-prozentigen Kokainlösung. Zunehmende Selbstversuche brachten allerdings die Schattenseite des Kokains an Tageslicht – Suchten mit teils katastrophalen Konsequenzen. Dem fiel auch Halsted zum Opfer.

Ein weiterer Pionier der Lokalanästhesie – Heinrich Braun – wies 1903 darauf hin, dass sich die Effektivität und Dauer einer Kokaininjektion durch den geringen Zusatz des Vasokonstriktors Adrenalin deutlich steigern lässt und dadurch zugleich die Toxizität herabgesetzt wird. Nun galt es, lokalanästhetisch wirksame, gut verträgliche Wirkstoffe ohne Suchtpotenzial zu finden.[1,2,3,4]

Farbwerke Höchst: Pioniere der modernen Lokalanästhesie

1904 gelang es dem Chemiker Friedrich Stolz in den Farbwerken HOECHST (heute Industriepark Höchst), das Hormon Adrenalin synthetisch herzustellen. Es kam unter dem Namen Suprarenin® auf den Markt und wird noch immer als Injektionslösung z. B. bei kardiovaskulären Notfällen eingesetzt. Und auch im Namen des Original Articains Ultracain® findet sich das „S“ bei Lösungen mit Adrenalin heute noch wieder: Ultracain® D-S bzw. D-S forte. „D“ steht übrigens für „Dental“. Die Farbwerke wurden ebenfalls Schauplatz der Entdeckung von Procain, welches unter dem Handelsnamen Novocain® bekannt wurde.

1905, da hatte Wilhelm Busch gerade noch drei Jahre zu leben, erzielten Alfred Einhorn und Emil Julius Uhlfelder damit den Durchbruch. Es war gut gewebeverträglich, einfach zu synthetisieren, weniger toxisch als Kokain und nicht suchterregend. Es blieb fast fünf Jahrzehnte das Mittel der Wahl, vor allem in Kombination mit Suprarenin im Verhältnis (1:25.000 – 200.000 je nach Novocain-Konzentration 4%–0,5%).

Die Aufbereitung erfolgte damals noch individuell: Die Trockensalze mussten erst in destilliertem Wasser gelöst werden und der Adrenalinzusatz tropfenweise hinzugefügt werden. Die Verbreitung von Procain in der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde geht u. a. auf die Publikationen des Zahnarztes Guido Fischer zurück. Nachdem seit 1917 Zylinderampullen (H. S. Cook) verfügbar waren, entwickelte er außerdem eine für zahnärztliche Zwecke geeignete Injektionsspritze, auf deren Basis 1975 die „Carpulen-Spritze“ von den Hoechster Farbwerken konstruiert wurde. Sie ermöglichte die heute obligatorische Aspirationsprobe.

Auch wendete Fischer 1911 eine neue Technik der Leitungsanästhesie im Unterkiefer an, die Fischer 1-2-3-Technik. In Hoechst folgten 1930 die Entdeckung des Oberflächenanästhetikums Tetracain sowie 1953 des Butanilicains. Weitere Vasokonstriktoren wie Noradrenalin (1947) und Octapressin (1966) konnten sich gegen Adrenalin nicht durchsetzen.[2,3,4]

Entdeckung des „Wundermoleküls“

1944 synthetisierte der Schwede N. Löfgren das erste Lokalanästhetikum vom Säureamidtyp. Lidocain® setzte sich von 1948 an durch, und wird beispielsweise in Nordamerika standardmäßig für die zahnärztliche Lokalanästhesie verwendet. Doch wen wundert es bei der Geschichte, dass die Lokalanästhesie 1969-74 erneut in den Farbwerken revolutioniert wurde? Patentiert wurde das bis heute modernste Lokalanästhetikum: Das „Wundermolekül“ Articain (damals Carticain), welches seit der Markteinführung im Jahr 1976 unter dem Handelsnamen Ultracain® das Standardlokalanästhetikum in Deutschland geworden ist und noch immer im Industriepark hergestellt wird.[3,4]

Als Wundermolekül galt Articain deshalb, weil es chemisch eine „Zwitterstellung“ einnimmt. Es zählt zur Gruppe der Amide, hat aber zusätzlich eine Estergruppe. Deshalb kann es neben der für Amide typischen hepatischen Metabolisierung vorrangig durch unspezifische Plasmacholinesterasen inaktiviert werden. Daraus resultieren die kurze Halbwertszeit von etwa 20 Minuten sowie die gute Verträglichkeit in allen Altersklassen.[5] In den vergangenen 45 Jahren hat sich Articain in Deutschland auch gegen den Vorgänger Lidocain und seine Derivate durchgesetzt. In Deutschland wird es zu rund 97 Prozent[6] verwendet und erfreut sich in anderen Ländern zunehmender Beliebtheit. Die qualitativen Ansprüche der Hoechster Pioniere setzt der heutige Nachfolger Sanofi bei der Produktion von Ultracain® unter dem „HOECHSTer Standard“ kontinuierlich fort und bringt sein Fachwissen aus anderen Produktionsbereichen ein. Deshalb müssen wir nicht mehr unter den Schmerzen der Zahnbehandlung leiden. Wie sagte doch gleich Wilhelm Busch? „Gehabte Schmerzen, die hab ich gern.“

Quellen:

[1] Wörner T, Zur Geschichte der Lokalanästhetika im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Projektarbeit Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, GRIN Verlag 2020.

[2] Daubländer M, „Lokalanästhesie in der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde“, in Van Aken, H. und Wulf, H. (Hrsg.), Lokalanästhesie, Regionalanästhesie, Regionale Schmerztherapie. 3. Überarb. Auflage, Stuttgart – New York, Georg Thieme Verlag 2010, 585-636.

[3] Klammt P J. Die Geschichte der Lokalanästhesie. forum-med-dent Sanofi, Berlin 2005.

[4] Rahn R, Zahnärztliche Lokalanästhesie, forum-med-dent Sanofi, Berlin 2003, 10-13.

[5] Daubländer M, Kämmerer PW, Lokalanästhesie in der Zahnmedizin, forum-med-dent Sanofi, Berlin, 2011.

[6] Halling F, Verbrauch dentaler Lokalanästhetika in Deutschland und im internationalen Vergleich, DZZ 2015; 70 (6):426-432.

[7] Sanofi, Fachinformation Ultracain® D-S, Ultracain® D-S forte, September 2020.

 

Pharmazeutische Informationen zu Ultracain