Beobachtungen aus dem Praxisalltag von Dr. Consuela Codrin: Vom Papier und vom Rückgrat
Das Kind auf der Behandlungsliege schreit vor Panik, Schmerzen und Müdigkeit, fünf Jahre alt, Frontzahntrauma am Milchzahn, gerade daheim passiert. Morgen fährt die Familie für zwei Wochen in den Urlaub. Weit weg. Es ist 17.30 Uhr. Jetzt muss gehandelt werden. Na super.
51 muss raus. Es geht leider nicht anders. Im normalen Zustand, aktuell schreiend und weinend mit Lokalanästhesie, wird es nicht gehen, um keine bleibenden psychischen Schäden verursachen zu wollen. Das gibt es genug. Ein Fall mehr ist einer zu viel. Nein, wir entscheiden uns mit der Mutter kurz und knapp einvernehmlich für die Lachgassedierung unter hohem kindlichen Dezibelpegel. Etwas anders geht in unserer Praxis auf die Schnelle nicht.
Nur noch ein paar Unterschriften...
Jeder im Raum ist mündlich mit der Lachgassedierung einverstanden. Die Mutter befürwortet rasches Handeln und ist wahnsinnig dankbar, dass wir heute um diese Uhrzeit unter diesen unentspannten Bedingungen eine Lösung parat haben. Nur: Ach ja, bevor wir überhaupt und irgendwie starten können, brauchen wir ganz kurz ein paar Unterschriften …
Das Kind will sich immer noch nicht richtig beruhigen, es ist 17.45 Uhr und das Lachgasgerät ist noch nicht startklar. Aber ja, die Unterschrift hat Vorrang, sonst geht gar nichts. Nicht, dass uns die im Grunde dankbare Mutter morgen trotzdem verklagt, weil sie es an ihrem Kind doch nicht wollte und alles ein blödes Missverständnis war. Dass das Lachgas etwas kostet, muss nicht nur mitgeteilt, sondern auch mit einem mütterlichen Servus eingewilligt werden.
Mündlich gilt nicht
Nicht, dass sie uns morgen, nachdem sie unseren Brief mit der Rechnung geöffnet hat, eine E-Mail schreibt, dass sie es für eine Frechheit hält, dass ihr keiner etwas von einer Zuzahlung gesagt hat. Dann wäre da noch die schriftliche Aufklärung, dass das Kind heute gesund ist, sonst können wir gleich alle nach Hause gehen. Und, dass das Lachgas nur ein Versuch ist und es nicht bei allen Patienten in allen Fällen funktioniert, muss auch noch unterschrieben werden. Mündlich gilt nicht, obwohl sehr viele Personalohren die Aufklärung gehört haben. Im Zweifel hat es auf einmal keiner gehört und alles wurde falsch verstanden. Also bitte noch da und dort und hier auch noch ein Servus hinkritzeln.
Zahn 51 schmerzt immer noch, das Lachgasgerät ist immer noch nicht einsatzbereit und alle dürfen sehr wahrscheinlich Überstunden machen. Immerhin haben wir alle Unterschriften, eine genervte Mutter, weil es nur um Papierkram geht und nicht um Zahn 51, und innerlich augenrollende Mitarbeiter:innen, die am Abend eigentlich noch etwas anderes vorhatten.
Überangebot an Juristen
In solchen Momenten wünsche ich mir immer öfter den guten, alten Handschlag von früher herbei, der Unterschrift und Siegel zugleich war. Es wurde mündlich etwas abgemacht, entschieden und die Hand darauf gegeben. So einfach. So schnell. Die wenigsten wurden früher verklagt. Ich glaube schon fast, dass dies eine Marktlücke war. Heute nicht mehr. Heute gibt es ein Überangebot an Juristen, um in einer Praxis wie unserer die Nadel im Heuhaufen, sprich das Fehlen einer Unterschrift, zu suchen, falls die Eltern nicht zufrieden sind.
Früher haben sich völlig Fremde geschäftlich (und auch menschlich) vertraut. Sie haben ihrem Gespür vertraut, ob man übers Ohr gehauen wird oder nicht. Da war das Bauchgefühl noch Herrscher über unseren Entscheidungen. Und das Wichtigste: Falls das ein oder andere doch schief ging, dann stand man zu seinen Fehlentscheidungen und akzeptierte den Rückschlag. Selber Schuld, und das war okay. Heute ersetzt das Papier das Bauchgefühl, das Vertrauen und das Rückgrat.
Die Mutter sieht erleichtert aus
Nun, Zahn 51 konnte erfolgreich unter Lachgas gezogen werden. Das Kind lag entspannt mit blutendem Tupfer auf der Liege. Die Mutter sah erleichtert aus. Alle waren zufrieden. Hoffentlich kommt morgen, nachdem der Ausnahmezustand und das wohlwollende Gefühl verblassen, nicht doch noch eine anklagende E-Mail. Morgen beginnt der Urlaubsstress für Mutter und Kind und jedem gibt man dafür die Schuld – außer sich selbst. Haben wir wirklich alle Unterschriften?
Dr. Consuela Codrin, Kelheim
Dr. Consuela Codrin
Dr. Consuela Codrin ist langjährige Fachjournalistin, Kolumnistin und Kinderzahnärztin. Sie liebt das Wort, das Bild und Details. In Kelheim lebt und arbeitet sie. Kontakt per E-Mail an info@consuela-codrin.net