Forscher schlagen neue Sprache für Biologie und Medizin zur Beschreibung von Wirts-Mikroben-Interaktionen vor
In den vergangenen 20 Jahren hat sich in der lebenswissenschaftlichen Forschung die Erkenntnis durchgesetzt, dass alle Lebewesen – von den einfachsten tierischen und pflanzlichen Organismen bis hin zum Menschen – in enger Verbindung mit einer Vielzahl von Mikroorganismen leben. Gemeinsam mit dem vielzelligen Wirtsorganismus stellen diese symbiotischen Bakterien, Viren und Pilze, die sich auf und in ihren Geweben ansiedeln und das sogenannte Mikrobiom bilden, eine vor allem vorteilhafte Lebensgemeinschaft in Form eines Metaorganismus dar.
Nährstoffaufnahme, Immunfunktion oder neuronalen Prozesse
Viele Lebensprozesse einschließlich der Gesundheit und Krankheit des Gesamtorganismus können nur im Zusammenhang dieser funktionellen Zusammenarbeit zwischen Wirtsorganismus und Mikroorganismen verstanden werden, etwa bei der Nährstoffaufnahme, Immunfunktion oder neuronalen Prozessen. An der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) werden diese Wirts-Mikroben-Interaktionen im Sonderforschungsbereich (SFB) 1182 „Entstehen und Funktionieren von Metaorganismen” im Detail untersucht.
Die neue Sicht auf das Leben als funktionelle Symbiose von Mikroorganismen und vielzelligen Wirtsorganismen musste sich gegen massive Widerstände durchsetzen. Das liegt auch an der über lange Zeiträume primär pathologischen Sicht auf Mikroorganismen. Sie galten in der Vergangenheit fast ausschließlich als Krankheitserreger, die Medizin und Gesellschaft zum Wohle der menschlichen Gesundheit bekämpfen mussten. Diese Perspektive beeinflusste auch die lebenswissenschaftliche Forschung, die zum Beispiel das Immunsystem vor allem als Abwehrmechanismus des Körpers gegenüber Krankheitserregern definierte. Obwohl sich das Metaorganismus-Prinzip in der Gegenwart weitgehend wissenschaftlich durchgesetzt hat, sind viele biologische und lebenswissenschaftliche Begriffe bis heute von dieser pathologischen Sichtweise und nicht von der tatsächlichen Funktion der Mikroben als lebensnotwendige Partner eines funktionierenden Gesamtorganismus geprägt.
Eine Gruppe international angesehener Wissenschaftler, darunter Professor Martin Blaser von der Rutgers University, Professorin Margaret McFall-Ngai vom California Institute of Technology und SFB-1182-Vorstandsmitglied und Kiel-Life-Science-Sprecher Professor Thomas Bosch von der CAU schlägt daher eine neuartige Terminologie für die Biologie und Medizin vor: Sie soll den Paradigmenwechsel hin zu einer Wahrnehmung der Mikroorganismen als vor allem neutral oder nützlich in einer geänderten biologischen und medizinischen Sprache vollziehen. Ihr „Neues Lexikon für das Zeitalter der Mikrobiomforschung“, das eine Vielzahl von grundlegenden lebenswissenschaftlichen Begriffen neu definiert und auch in der akademischen Lehre und öffentlichen Wissenschaftskommunikation genutzt werden soll, haben sie in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift „Philosophical Transactions of the Royal Society B: Biological Sciences“ veröffentlicht.
Mikroben als Krankheitserreger
Die lebenswissenschaftliche Forschung war sich spätestens seit dem 19. Jahrhundert darüber im Klaren, dass der menschliche Körper und viele andere Lebewesen dauerhaft und offenbar auch im gesunden Zustand von einer „normalen“ mikrobiellen Besiedlung bevölkert sind. Allerdings lag ihr Fokus etwa ab den 1850er-Jahren vor allem auf der krankmachenden Wirkung von Mikroorganismen, die Wissenschaft und Medizin zuvor zwar immer wieder vermutet hatten, ihr aber auch weitgehend machtlos gegenüberstanden. Zum Beispiel Louis Pasteur und Robert Koch gelang es neben anderen Forschenden in dieser Epoche erstmals, eine Reihe von Infektionskrankheiten im Sinne der „Keimtheorie“ ursächlich auf bestimmte mikrobielle Organismen zurückzuführen.
Die längste Zeit in der Geschichte der Menschheit zählten die vielfältigen Infektionskrankheiten zu den Haupttodesursachen und sorgten dafür, dass Menschen im Durchschnitt früher, oft bereits im Kindesalter, starben. Erst seit dem Ende des 19. Jahrhunderts führten die neu gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnisse dazu, dass umfangreiche hygienische Maßnahmen im Sinne der öffentlichen Gesundheit ergriffen werden konnten. Etwa zeitgleich gelang es zudem, mit ersten Impfstoffen bestimmte virale Erreger und die von ihnen verursachten Erkrankungen prophylaktisch auch auf der Bevölkerungsebene zu unterdrücken. Dank der systematischen Einführung antibiotischer Wirkstoffe in großem Umfang seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert wurde es zudem möglich, auch bakterielle Infektionen stark zurückzudrängen. Der medizinische Fortschritt sorgte also dafür, die Mehrheit der Infektionskrankheiten zu beherrschen und den Menschen insgesamt ein gesünderes und längeres Leben zu ermöglichen als jemals zuvor.
In dieser Epoche entwickelte sich dementsprechend eine Sichtweise auf Mikroorganismen, die sie in erster Linie als bedrohliche, krankheitserregende Pathogene interpretierte. „Als Aufgabe von Wissenschaft und Medizin galt folglich, diese Bedrohung zu besiegen und den Kampf gegen Mikroorganismen zum Wohle der menschlichen Gesundheit zu gewinnen. Diese Denkweise beeinflusst bis zum heutigen Tag die Biologie und Medizin und prägte auch ihre Begrifflichkeiten und Definitionen, ihre Sprache insgesamt“, so Bosch. So gehören Ausdrücke wie „Pathogen“, „Infektion“ oder „antimikrobielles Peptid“ auch heute noch zum wissenschaftlichen Standardrepertoire, um die Mechanismen des Zusammenwirkens von Wirtsorganismen und Mikroorganismen zu beschreiben.
Verarmung des menschlichen Mikrobioms
Die systematische Bekämpfung von Mikroorganismen brachte jedoch ungewollt auch neuartige gesundheitliche Herausforderungen hervor: Die in der Gegenwart stark zunehmenden sogenannten Umwelterkrankungen stehen in direktem Zusammenhang mit der Störung und Verarmung des menschlichen Mikrobioms, die zum Beispiel auf den falschen und zu intensiven Einsatz von Antibiotika oder auch fehlgeleitete Hygienemaßnahmen zurückzuführen sind.
Dieser Zusammenhang wurden vor allem dank der neuartigen Technologie der Hochdurchsatz-Genomsequenzierung deutlich. In den vergangenen Jahren machte sie es möglich, die Zusammensetzung und Balance der mikrobiellen Besiedlung von Wirtorganismen im Detail zu bestimmen und zu analysieren. Ein in der Folge immer besseres Verständnis der Interaktionen von Wirten mit dieser Vielzahl von Mikroorganismen erlaubte es, Störungen des Mikrobioms als Ursache bestimmter Umwelterkrankungen zu erkennen. „Dadurch ist klar geworden, dass es nur sehr wenige echte mikrobielle Krankheitserreger gibt. Ihnen gegenüber steht eine überwältigende Mehrheit von Mikroorganismen, die sich entweder neutral oder gutartig verhalten, deren Funktion vom Gesamtzusammenhang eines ‚normalen‘ Mikrobioms abhängt und die nur ausnahmsweise zu opportunistischen Krankheitserreger werden können“, fasst Bosch zusammen.
„Dieses aktuelle Wissen über die entscheidende Bedeutung eines normalen, gesunden Mikrobioms für die Funktionen und die Gesundheit des Wirtslebwesens sollte künftig auch in einer daran angepassten Sprache Ausdruck finden und so Stück für Stück eine positivere Wahrnehmung von Mikroorganismen fördern“, sagt Bosch. Ein entsprechendes Umdenken im wissenschaftlichen Sprachgebrauch erfordere also, die auf Schädlichkeit reduzierte Sprache zur Beschreibung von Wirt-Mikroben-Interaktionen ein für alle Mal aufzugeben.
„Wenn wir beginnen, dieses neue Lexikon zu verwenden und weiterzuentwickeln, werden wir besser in der Lage sein, die komplexen Interaktionen zwischen Wirten und ihren Mikroben als das zu beschreiben, was sie wirklich sind: eine wesentliche Grundlage des Lebens“, so Bosch.
Zeitgemäße Begriffe
Einige Beispiele zeigen, wie sich die historisch begründete, krankheitszentrierte Sichtweise auf Mikroorganismen bis heute äußert und welche zeitgemäßen Begriffe sie aus Sicht der Forschenden künftig ersetzen könnten:
- Das Wort „Infektion“ steht heute noch allgemein für das Eindringen und Gedeihen eines Mikroorganismus und seine Wirkung auf die Gewebe eines Wirtslebewesens. Stattdessen beschreibt der Begriff „Kolonisierung“ neutral, dass sich Mikroorganismen auf Wirtsgeweben ansiedeln und je nach Kontext einen nützlichen, neutralen oder schädlichen Effekt entwickeln.
- Der Terminus „Antimikrobielles Peptid (AMP)“ wurde bisher genutzt, um ein Protein des Wirtsorganismus zu beschreiben, das Pathogene abtöten oder unterdrücken kann. Aus heutiger Sicht passender ist der Begriff „Mikrobiota-regulierendes Peptid (MRP)“, also ein Wirtsprotein, das abhängig vom Kontext die Ansiedlung von nützlichen, neutralen oder schädlichen Mikroorganismen fördern oder hemmen kann.
- Der verbreitete Begriff „Pathogen“ meint einen krankheitsverursachenden Mikroorganismus, der von außen in die normale mikrobielle Besiedlung eindringt und Krankheiten auslöst. Neutraler ist der Begriff „Amphibiont“ – ein Mikroorganismus, dessen Beziehung zum Wirtsorganismus sich je nach den Umweltbedingungen von hilfreich zu schädlich ändern kann und umgekehrt.
Mehr Informationen:
Originalpublikation: Thomas C.G. Bosch, Martin J. Blaser, Edward Ruby and Margaret McFall-Ngai (2024): A new lexicon in the age of microbiome research. Philosophical Transactions B, First published: 18. March 2024
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