Die ektodermale Dysplasie beschreibt eine heterogene Gruppe erblicher Erkrankungen der Haut und Hautanhangsgebilde mit Fehlbildungen von Derivaten des Ektoderms. Neben Haaren, Nägeln, Schweißdrüsen, Talgdrüsen, Brustdrüsen, Wimperndrüsen betrifft dies auch die Zähne [1-5]. Etwa einer von 5.000 bis 10.000 Menschen ist von einer ektodermalen Dysplasie betroffen [6], somit zählt die ektodermale Dysplasie in der Europäischen Union zu den seltenen Erkrankungen.
Bislang sind mehr als 53 Gene und drei Chromosomenregionen bekannt, welche ursächlich für die Mehrheit der ektodermalen Dysplasien sind. Auch können Mutationen in einem einzelnen Gen zu unterschiedlichen Phänotypen führen [6]. Grundsätzlich kann bei der ektodermalen Dysplasie eine Unterteilung in zwei Kategorien erfolgen, die hypohidrotischen und die hidrotischen Formen [3, 7]. Als orale Manifestationen zeigen sich im Fachbereich des Zahnmediziners üblicherweise neben Zahnnichtanlagen (Hypodontie, Oligodontie, Anodontie) Formanomalien der Zähne wie Mikrodontie oder Zapfenzähne [8].
Insbesondere die äußerlich unauffälligen Phänotypen werden häufig erst im Erwachsenenalter oder gar nicht diagnostiziert. Hier können orale Manifestationen wie Zahnnichtanlagen oder Formanomalien der Zähne einen frühzeitigen Hinweis auf die Grunderkrankung liefern und den Betroffenen im Einzelfall implantologische Versorgungen nach Sozialgesetzbuch V, Paragraf 28 [9] in Aussicht gestellt werden [8]. Bei einer ektodermalen Dysplasie mit extremer Oligodontie oder Anodontie gilt ein implantatgetragener Zahnersatz als Sonderfall bereits im Kindesalter als mögliche Therapiemaßnahme [10].
Allgemein muss bei der ektodermalen Dysplasie mit einer reduzierten Knochenquantität und auch -qualität gerechnet werden [11, 12], was folglich die Schwierigkeit des chirurgischen Eingriffs erhöht.
In einer Studie wurde ermittelt, dass Betroffene mit einer ektodermalen Dysplasie von einer schlechteren mundgesundheitsbezogenen Lebensqualität betroffen zu sein scheinen, als diese üblicherweise in der Normbevölkerung gemessen werden kann [13].
Fallbeispiel 1: hypohidrotische ektodermale Dysplasie bei einem 18-jährigen, männlichen Patienten
Ein damals 17-jähriger männlicher Patient wurde in unserer interdisziplinären Implantatsprechstunde vorstellig. Bei ihm war bereits die Diagnose einer hypohidrotischen ektodermalen Dysplasie gesichert worden. Neben einer äußerlich auffälligen Hypotrichose beschrieb er, auch von einer Hypohidrose betroffen zu sein, dies bereite ihm insbesondere bei höheren Temperaturen Schwierigkeiten.
Zudem sei ein Großteil der bleibenden Zähne nicht angelegt, wodurch die Nahrungsaufnahme erschwert sei. Bei der intraoralen Inspektion zeigten sich ein seitlich offener Biss, Formanomalien der oberen mittleren Schneidezähne, ein auffällig spitzer Eckzahn und multiple Nichtanlagen (Abb. 1-3). Der radiologische Befund bestätigte den Verdacht einer Oligodontie, es waren lediglich die Zähne 16, 13, 11, 21, 26, 46 sowie der Zahn 65 vorhanden.
Seitens des Patienten bestand der Wunsch nach einer implantatgetragenen Prothetik, welche wir entsprechend den im Sozialgesetzbuch V unter Paragraf 28 geregelten Ausnahmeindikationen [9] beim Versicherungsträger beantragten und die auch genehmigt wurde. Nachdem der prothetisch nicht verwertbare Zahn 65 im Vorfeld extrahiert wurde, erfolgte in stationärer Intubationsnarkose eine umfangreiche Augmentation in Ober- und Unterkiefer.
Im Oberkiefer erfolgte neben einer beidseitigen lateralen Sinusbodenaugmentation eine horizontale und vertikale Augmentation des Alveolarfortsatzes mit kortikospongiösem Beckenkamm, welcher mit einem xenogenen Knochenersatzmaterial und einer nativen Kollagenmembran aus porcinem Perikard abgedeckt wurde. Im Unterkiefer erfolgte die horizontale Augmentation des Alveolarfortsatzes nach demselben Prinzip (Abb. 4). Nach einer viereinhalbmonatigen Einheilzeit soll die geplante Implantation von fünf Implantaten im Ober- und sechs Implantaten im Unterkiefer für eine spätere prothetische Versorgung durchgeführt werden.
Fallbeispiel 2: hidrotische ektodermale Dysplasie
Eine 22-jährige Patientin mit einer gesicherten hidrotischen Form der ektodermalen Dysplasie stellte sich nach vorausgegangener kieferorthopädischer Behandlung zur Beratung in unserer interdisziplinären Implantatsprechstunde vor, eine Wiederaufnahme der kieferorthopädischen Therapie lehnte die Patientin ab. Extraoral zeigten sich keine charakteristischen Hinweise auf eine ektodermale Dysplasie (Abb. 5). Intraoral imponierte ein Lückengebiss mit fehlenden Zahnanlagen in regio 18, 17, 15, 14, 12, 22, 24, 27, 28, 38, 35, 34, 42, 44, 45 und 48. Kieferorthopädisch war bereits ein Lückenschluß in regio 25 und 42 erfolgt, die Patientin zeigte zudem einen frontalen Kopfbiss. Als Relikt der kieferorthopädischen Therapie waren in Ober- und Unterkiefer noch Bone-Anchor vorhanden (Abb. 6).
Seitens der Patientin bestand der Wunsch einer festsitzenden Versorgung mit Implantatkronen, welchen wir ebenfalls über die im Sozialgesetzbuch V unter Paragraf 28 geregelten Ausnahmenindikationen beantragten und die genehmigt wurde. In ambulanter Intubationsnarkose erfolgte zunächst die Entfernung von drei der vier Bone Anchor sowie die Augmentation des rechten Sinus maxillaris mit autologen Knochenspänen und xenogenem Knochenersatzmaterial im Verhältnis 1:1. Im Unterkiefer erfolgte die Entnahme eines retromolaren Knochenblocks, der anschließend ausgedünnt und in zwei Hälften geteilt wurde. Beide Hälften wurden im rechten und linken Unterkiefer auf Distanz zum Alveolarfortsatz mit Osteosyntheseschrauben fixiert, der Spalt wurde mit autologen Knochenchips aufgefüllt und das Augmentat anschließend mit einer Schicht xenogenem Knochenersatzmaterial und einer resorbierbaren porcinen Perikardmembran abgedeckt.
Nach einer komplikationslosen Einheilzeit von viereinhalb Monaten erfolgte in ambulanter Intubationsnarkose die Entfernung des letzen verbliebenen Bone Anchors sowie die Insertion von sechs Implantaten auf Knochenniveau in regio 15, 12, 22, 35, 34 und 45, welche nach einer unauffälligen Einheilungszeit von drei Monaten freigelegt wurden (Abb. 7, 8).
Fallbeispiel 3: Christ-Siemens-Touraine-Syndrom
Ein 52-jähriger Patient mit einer hypohidrotischen ektodermalen Dysplasie (Christ-Siemens-Touraine-Syndrom) stellte sich aufgrund eines mangelnden Halts seiner Unterkieferprothese vor. Nach Angaben des Patienten sei bei ihm nur ein einziger bleibender Zahn angelegt gewesen (37). Dieser bereite ihm inzwischen Beschwerden und er fürchte, dass nach dem absehbaren Verlust des Zahns keinerlei Prothesenhalt im Unterkiefer mehr gewährleistet sei, mit der Oberkieferprothese sei er zufrieden.
Klinisch und radiologisch zeigte sich ein zahnloser Oberkiefer sowie ein deutlich atrophierter Unterkiefer, welcher mit einer Teleskopprothese am verbliebenen, endodontisch behandelten Zahn 37 versorgt war (Abb. 9, 10). Dem Wunsch des Patienten entsprechend wurde eine minimal-invasive Lösung mit zwei interforaminären Implantaten zur Stabilisierung der Unterkieferprothese geplant. Auch hier wurde die Versorgung über die Ausnahmeindikationen in SGB V, Paragraf 28 beantragt. Die Implantation erfolgte in Lokalanästhesie, nach dreimonatiger Einheilzeit erfolgte die prothetische Belastung mit Locatoren (Abb. 11).
Fallbeispiel 4: 6-jähriger Junge mit Christ-Siemens-Touraine-Syndrom
Ein 6-jähriger Patient mit einer hypohidrotischen ektodermalen Dysplasie wurde in unserer Spezialsprechstunde für „Seltene Erkrankungen mit oraler Beteiligung“ vorstellig. Der junge Patient war mit einer Ober- und Unterkiefertotalprothese versorgt, es war nur ein einziger Milchzahn angelegt, der jedoch zwischenzeitlich bereits verloren wurde (Abb. 12). In der alio loco angefertigten Panoramaschichtaufnahme zeigte sich zudem die Anlage des Zahns 11 (Abb. 13).
Die Prothesen zeigten einen suffizienten Halt und werden durch den Hauszahnarzt regelmäßig erneuert, laut den Eltern zeige der junge Patient trotz der Prothesen eine normale psychosoziale Entwicklung und sei gut in den Klassenverband seiner Schule integriert, sodass wir derzeit keinen therapeutischen Handlungsbedarf, abgesehen von einer regelmäßigen Anpassung der Prothesen, sehen.
Diskussion
Generell werden hohe klinische Überlebensraten für Implantate bei Patienten mit ektodermaler Dysplasie beschrieben. So konnte Chrcanovic in einem systematischen Übersichtsartikel eine klinische Überlebensrate von 84.6Prozent nach 20 Jahren ermitteln [14]. Auch für Implantate bei Kindern konnte der Autor nur niedrige Verlustraten von 5.3 bis 7.2 Prozent ermitteln.
Wir empfehlen auf Grundlage eines eigenen systematischen Übersichtsartikels von Implantationen bei heranwachsenden Patienten trotz ausgeprägten Nichtanlagen vor dem 10. Lebensjahr möglichst Abstand zu nehmen [15]. Im Einzelfall kann danach die Insertion von durchmessereduzierten interforaminären Implantaten zur Verbesserung des Prothesenhalts erwogen werden. Als Entscheidungskriterium sollte dabei neben der kaufunktionellen Verbesserung insbesondere die psychosoziale Entwicklung des Patienten herangezogen werden. Als mögliche Komplikationen müssen spätere Rotationen der Implantate infolge des Wachstums der Mandibula bedacht werden [10]. Spätere Explantationen und gegebenenfalls Neuimplantationen sind eine mögliche Folge.
Im präsentierten Fallbeispiel 1 lag eine ausgeprägte intermaxilläre Diskrepanz, bedingt durch das fehlende Wachstum des Alveolarfortsatzes, vor. Einige Autoren begründen das reduzierte Wachstum der Alveolarfortsätze mit der fehlenden Zahnanlage, durch die der mit dem Durchbruch des bleibenden Zahnes verbundene Wachstumsreiz auf den Alveolarfortsatz nicht ausgelöst wird [16]. Entsprechende Knochendefizite sind die Konsequenz. Aufgrund des fehlenden Wachstums des Alveolarfortsatzes erscheint uns sowohl der Beginn der implantologischen Therapie als auch der augmentativen Maßnahmen bereits frühzeitig sinnvoll. So halten wir den Therapiebeginn bereits mit Abschluss des 18. Lebensjahrs für möglich, bei weiblichen Patienten kann sogar ein früherer Therapiebeginn erwogen werden.
Im klinischen Alltag können dem Behandler Patienten mit äußerlich unauffälligem Phänotyp begegnen, bei denen letztlich nur die oralen Symptome (Zahnnichtanlagen, Formanomalien der Zähne) einen Hinweis auf eine ektodermale Dysplasie zeigen. Über die Möglichkeit einer molekulargenetischen Untersuchung zur möglichen Bestätigung der Diagnose sollte der Patient zumindest informiert werden.
Auch im fortgeschrittenen Alter können Patienten mit einer ektodermalen Dysplasie, wie im Fallbeispiel 3 dargestellt, noch von einer implantologischen Versorgung profitieren. Da jedoch durch das jahrzehntelange Tragen einer Prothese eine zusätzliche Atrophie des Alveolarfortsatzes auftritt und sich auch die Weichgewebsverhältnisse verschlechtern, erschwert und limitiert dies eine Implantation zusätzlich.
Dr. med. dent. Marcel Hanisch, Münster
Oberarzt, Fachzahnarzt für Oralchirurgie
Leiter der Spezialsprechstunde „Seltene Erkrankungen mit oraler Beteiligung“
Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie des Universitätsklinikums Münster
Literatur
[1] Wang Y, He J, Decker AM, Hu JC, Zou D. Clinical outcomes of implant therapy in ectodermal dysplasia patients: a systematic review. Int J Oral Maxillofac Surg. 2016;45:1035-43.
[2] Ramesh K, Vinola D, John JB: Hypohidrotic ectodermal dysplasia - diagnostic aids and a report of 5 cases. J Indian Soc Pedod Prev Dent 2010;28(1):47-54.
[3] Deshpande SN, Kumar V: Ectodermal dysplasia - Maxillary and mandibular alveolar reconstruction with dental rehabilitation: A case report and review of the literature. Indian J Plast Surg 2010;43:92-6
[4] Mikkola ML: Molecular aspects of hypohidrotic ectodermal dysplasia. Am J Med Genet A 2009;149:2031-6.
[5] Visinoni AF, Lisboa-Costa T, Pagnan NA, Chautard-Freire-Maia EA: Ectodermal dysplasias: clinical and molecular review. Am J Med Genet A 2009;149:1980-2002.
[6] https://www.orpha.net/consor/cgi-bin/OC_Exp.php?lng=DE&Expert=79373
Zugegriffen: 22.08.2019
[7] Bani M, Tezkirecioglu AM, Akal N, Tuzuner T: Ectodermal Dysplasia with Anodontia: A Report of Two Cases. European Journal of Dentistry 2010;4:215-222.
[8] Hanisch M, Bohner L, Jung S, Kleinheinz J. Seltene Erkrankungen mit implantologischem Therapiebedarf: ektodermale Dysplasien. Implantologie 2018, 26(2):157-166.
[9] https://www.g-ba.de/downloads/62-492-78/RL-Z_Behandlung_2006-03-01.pdf
Zugegriffen: 27.12.2018
[10] Filius MA, Vissink A, Raghoebar GM, Visser A. (2014) Implant-retained overdentures for young children with severe oligodontia: a series of four cases. J Oral Maxillofac Surg. Sep;72(9):1684-90.
[11] Guckes AD, Scurria MS, King TS, McCarthy GR, Brahim JS. Prospective clinical trial of dental implants in persons with ectodermal dysplasia. J Prosthet Dent. 2002;88:21-5.
[12] Maiorana C, Poli PP, Poggio C, Barbieri P, Beretta M. Oral Rehabilitation of a Patient With Ectodermal Dysplasia Treated With Fresh-Frozen Bone Allografts and Computer-Guided Implant Placement: A Clinical Case Report. J Oral Maxillofac Surg. 2017;75:939-54.
[13] Hanisch M, Sielker S, Jung S, Kleinheinz J, Bohner L. Self-Assessment of Oral Health-Related Quality of Life in People with Ectodermal Dysplasia in Germany. Int J Environ Res Public Health. 2019 May 31;16(11).
[14] Chrcanovic BR Dental implants in patients with ectodermal dysplasia: A systematic review. J Craniomaxillofac Surg. 2018 Aug;46(8):1211-1217.]. Wedgeworth EK, Nagy N, White JM, Pembroke AC, McGrath JA: Intra-familial variability of ectodermal defects associated with WNT10A mutations. Acta Derm Venereol 91: 346e347.
[15] Bohner L, Hanisch M, Kleinheinz J, Jung S. Dental implants in growing patients: a systematic review. Br J Oral Maxillofac Surg. 2019 Jun;57(5):397-406.
[16] Terheyden H, Wüsthoff F. Occlusal rehabilitation in patients with congenitally missing teeth-dental implants, conventional prosthetics, tooth autotransplants, and preservation of deciduous teeth-a systematic review. Int J Implant Dent. 2015 Dec;1(1):30.