Neben den Möglichkeiten der modernen Implantologie sind ein weiterer Grund für die steigenden Implantationszahlen die schwindenden Kontraindikationen. „In der Implantologie vollzieht sich ein Paradigmenwechsel“, sagt DGI-Präsident Prof. Dr. Dr. Knut A. Grötz, Wiesbaden. Noch vor wenigen Jahren rieten die Autoren von Lehrbüchern von Implantaten eher ab, wenn Patienten an Diabetes mellitus, an Osteoporose oder schweren Herz-Kreislauf-Erkrankungen litten. Dies hat sich geändert. Entsprechend steigt die Zahl der Patienten, die von Implantaten profitieren.
Doch es gibt auch eine Kehrseite dieser positiven Nachricht: Zahnärzte müssen sich auf eine steigende Zahl von Risikopatienten einstellen. Dafür sorgen der demografische Wandel, die Epidemiologie chronischer Krankheiten und komplexe medizinische Therapien. „Etwa ein Drittel der Patienten über 25 Jahre, die sich in zahnärztlicher Behandlung befinden, tragen Risikofaktoren“, rechnet Professor Grötz vor. Bei einem gut eingestellten Diabetes-Patienten, der seine Erkrankung unter Kontrolle hat und auf eine gute Mundhygiene achtet, spricht nichts gegen Zahnimplantate. Allerdings sind ausgeprägte Entzündungsprozesse oder die Auswirkungen eines metabolischen Syndroms auf die Blutgefäße bei Diabetikern relevante Risikofaktoren. Dies gilt auch für verschiedene medikamentöse Therapien, wie etwa eine Behandlung mit Antiresorptiva.
Was es hier zu beachten gilt, haben die Experten der Deutschen Gesellschaft für Implantologie (DGI) zusammen mit den Fachleuten anderer Gesellschaften und Organisationen bereits in den letzten Jahren in Leitlinien beschrieben: Verfügbar sind Leitlinien der höchsten Qualitätsstufe S3 zu den Themen „Zahnimplantate bei Diabetes mellitus“ sowie „Zahnimplantate bei medikamentöser Behandlung mit Knochenantiresorptiva“, zu denen unter anderem die Bisphosphonate gehören, die bei Osteoporose und Krebserkrankungen eingesetzt werden. In der Phase der Finalisierung befindet sich die Leitlinie „Implantate bei Immunsuppression und Immundefizienz“.
Die Implantattherapie muss individueller und dem jeweiligen Risikoprofil eines Patienten angepasst werden. Dieser Prozess beginnt bei Risikopatienten bereits bei der Auswahl des Implantatsystems und bei der Planung des Eingriffs. „Wenn beispielsweise ein Patient mit Antiresorptiva behandelt wird und ein Implantat bekommen soll, profitiert er von einem vorgeschnittenen Gewinde. Bei Patienten mit einer Parodontitis in der Vorgeschichte geben Experten einem Implantat den Vorzug, dessen Schulter sich auf der Ebene des Weichgewebes befindet“, resümiert Professor Grötz. Bei Patienten mit gestörtem Knochenstoffwechsel ist eine Sofortimplantation nicht angezeigt. In diesen Fällen wartet der Experte vier Monate lang nach der Zahnextraktion ab, wie gut sich im Zahnfach der Knochen regeneriert. „Ich sage den Patienten“, so Grötz, „dass ich erst dann überhaupt beurteilen kann, ob ein Implantat möglich ist.“ Viele moderne Verfahren, die mittlerweile die Implantattherapie verkürzen oder komplexe Therapien erlauben, sind bei Risikopatienten eher keine gute Wahl.
Leiden Patienten an Mundschleimhauterkrankungen, müssen auch zahlreiche medizinische Aspekte beachtet werden. Bei bestimmten Erkrankungen, etwa dem Sjögren-Syndrom, einer Autoimmunerkrankung, übernehmen die gesetzlichen Krankenkassen sogar die Kosten einer Implantatbehandlung. In anderen Fällen gilt es zu beachten, dass eine Erkrankung der Mundschleimhaut eine Periimplantitis, einer Entzündung der Gewebe um das Implantat herum, begünstigen kann.
Nicht einfach ist auch die Therapieentscheidung bei Patienten mit rheumatoider Arthritis und anderen rheumatischen Erkrankungen. „Bei diesen entzündlichen Erkrankungen gibt es eine wechselseitige Beziehung zur Parodontitis, und es werden häufig Medikamente eingesetzt, die das Immunsystem unterdrücken“, sagt Professor Grötz. Klare Empfehlungen gibt es in diesem Bereich nicht, sondern nur den Rat, die Indikation sehr streng zu stellen.
Das Thema „Implantationen bei Komorbiditäten und schwierige Situationen bei älteren Patienten“ wird im Mittelpunkt eines DGI-Praxiskurses von Prof. Dr. Dr. Stefan Schultze Mosgau stehen. Der für den 28. März 2020 geplante Kurs in Jena muss aufgrund der aktuellen Gefährdungslage abgesagt werden. Sobald ein neuer Termin steht, teilt die DGI diesen rechtzeitig mit. Weitere Infos auf bit.ly/3aoW0Si
Nachgefragt bei Prof. Dr. Dr. Stefan Schultze-Mosgau:
Wie verändert der demografische Wandel die Implantologie?
Prof. Dr. Dr. Stefan Schultze-Mosgau: Der demografische Wandel erfordert neue implantologische Konzepte für ältere Patienten mit Komorbiditäten. Bedeutsam ist vor allem der Einfluss von Medikamenten auf die Osseointegration von Implantaten bei älteren Patienten. Erst in jüngster Zeit zeigt die Literatur, dass ein signifikanter Einfluss etwa von Protonenpumpenhemmern auf die knöchernen Einheilvorgänge eines Implantats nachgewiesen werden konnte. Darüber hinaus werden neue, minimal-invasive Implantationstechniken bei Risikopatienten dargestellt, die etwa mit Bisphosphonaten oder Antikörpern behandelt werden. Ein weiteres Thema ist die Möglichkeit der Sofortimplantation bei chronisch infizierten Alveolen nach entsprechender intraoperativer Vorbereitung der Alveole.
Die Anpassung operativer implantologischer Techniken bei älteren Risikopatienten wurde bisher ebenfalls nur unzureichend berücksichtigt. Im Kurs werden die besonderen operativen Anforderungen bei einer Implantattherapie dieses Patientenkollektivs dargestellt. Insbesondere werden atraumatische Augmentationsverfahren vorgestellt, die den veränderten Knochenstoffwechsel älterer Risikopatienten unter Medikation berücksichtigen und eine erfolgreiche kaufunktionelle Rehabilitation mit einem implantatgetragenen Zahnersatz gewährleisten.
Thematisieren Sie in Ihrem Kurs bestimmte Aspekte, denen oft nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt wird?
Schultze-Mosgau: Neben minimal-invasiven Augmentationsverfahren bei älteren Risikopatienten spielt insbesondere das Management des Weichgewebes bei dieser Patientengruppe eine herausragende Bedeutung. Wichtig ist hier die Auswahl des Operationsverfahrens und das intraoperative Handling der bedeckenden Weichgewebe zur Schaffung einer keratinisierten Durchtrittsstelle im Bereich der Implantatschulter. Der Einsatz von 3-D-Drucktechniken kann im Vorfeld die Planung von Rekonstruktionen und Implantationen perfektionieren, sodass die Operationszeit reduziert und das Operationsergebnis reproduzierbar vorhergesagt werden kann.
Welche Aspekte, die Sie in Ihrem Kurs präsentieren, sind für eine erfolgreiche und moderne Implantatbehandlung und Praxisführung heute entscheidend wichtig oder sogar unerlässlich?
Schultze-Mosgau: Zur Reduktion von postoperativen Komplikationen und Komorbiditäten ist ein minimal-invasives Vorgehen unter Berücksichtigung einer entsprechenden Schnittführung nach einer vorausgegangenen exakten Planung sowie einer präoperativen Konzepterstellung für die postoperative Nachsorge und die spätere prothetische Versorgung für den Erfolg einer Implantatbehandlung bei älteren Risikopatienten unerlässlich. Als Grundlage und zur Einführung in das Thema empfehle ich die folgenden wissenschaftlichen Veröffentlichungen:
1) Ursomanno BL, Cohen RE, Levine MJ, Yerke LM. Effect of Proton Pump Inhibitors on Bone Loss at Dental Implants. Int J Oral Maxillofac Implants. 2020 Jan/Feb;35(1):130-134. doi: 10.11607/jomi.7800.
2) Papaspyridakos P, Chen YW, Alshawaf B, Kang K, Finkelman M, Chronopoulos V, Weber HP. Digital workflow: In vitro accuracy of 3D printed casts generated from complete-arch digital implant scans. J Prosthet Dent. 2020 Jan 17. pii: S0022-3913(19)30737-1. doi: 10.1016/j.prosdent.2019.10.029.
3) Crippa R, Aiuto R, Guardincerri M, Peñarrocha Diago M, Angiero F. Effect of Laser Radiation on Infected Sites for the Immediate Placement of Dental Implants. Photobiomodul Photomed Laser Surg. 2019 Sep 19.